Ich wollte die Re:Fuse besuchen und das Maskenthema hat mir den Tag versaut
»Solidarität ist unsere Waffe,« heißt es auf der Internetseite für die Re:Fuse-Konferenz, die dieses Wochenende in Hamburg stattgefunden hat, »so bitten wir euch, im Rahmen eurer Möglichkeiten, euch an unser Infektionsschutzkonzept zu halten«. Man soll nicht krank zur Veranstaltung kommen, soll am Eingang einen Schnelltest machen. »Tragt eine Maske«, steht dort auch. »Für Menschen mit einem schwachen Immunsystem oder anderen Risiken machen Masken unseren Kongress sicherer und zugänglicher.«
Nach der Lektüre dieses Konzepts bin ich optimistisch, auch wenn ich es im fünften Pandemiejahr eigentlich besser wissen sollte. Am dritten Konferenztag gehe ich hin, in Begleitung einer anderen infektionsunwilligen Person. Wir haben beide ein hohes Risiko für Langzeitfolgen und ich persönlich möchte nicht zurück ins Bettleben, also vermeide ich jede Infektion, egal mit was.
Am Einlass an der Roten Flora trägt niemand eine Maske, auch nicht die Person, die uns die Regeln der Konferenz erläutert. Aus dem »Tragt eine Maske«, Punkt, wird hier ein Hinweis, dass Masken getragen werden sollen, »wenn es eng und voll wird« und »wenn es möglich ist«. Kein Wort mehr über Solidarität und Menschen mit Risiko. Die Person auf dem Posten wirkt verlegen über dieses bis zum Verschwinden ausgedünnte Konzept. Klarere Worte findet sie zum Datenschutz: Audio- und Videoaufnahmen sind verboten, Punkt. Nicht nur, wenn es eng und voll ist und nicht nur, wenn es uns möglich ist. Offenbar können die Veranstaltenden also doch klare Regeln setzen.
Wir gehen trotzdem rein, lassen an der Info-Theke eine Spende da, bekommen Stempel und Karte und gehen uns umschauen. Am Ende des Flurs liegt ein Saal voller Menschen, dicht gedrängt in engen Sitzreihen, rappelvoll. Durch die Tür sehe ich zwei Personen mit Maske, der Rest sitzt ohne dort. Ob ein Fenster offen ist, kann ich nicht erkennen, aber so stickig, wie die Luft ist, können es nicht genug sein. Im Obergeschoss ist ein zweiter Saal. Der sieht genauso aus.
Es ist erst kurz nach drei. Um achtzehn Uhr findet eine Vernetzungsveranstaltung für Ableismusbetroffene statt, an der wir teilnehmen wollen. Die Stunden vorher wollte ich nutzen, um neue Leute kennenzulernen und etwas über Themen zu lernen, die ich weniger gut kenne. Eine Konferenz eben, mit allen Freiheiten und Möglichkeiten, die Nichtbehinderte auch gerne nutzen!
Ernüchtert stolpern wir zurück zur Info-Theke. Jetzt fällt mir auch auf, dass auf einem Tisch im Eingangsbereich zwei Packungen Masken stehen, als hätte man sie abgestellt und dann vergessen. Was wohl passiert wäre, hätte man allen Ankommenden direkt diese Packungen unter die Nase gehalten und nochmal was über Solidarität gesagt?
Wir fragen, wo die Ableismus-Veranstaltung stattfindet: An der Uni. Ein Hoffnungsschimmer? Vielleicht sind die Räumlichkeiten dort weniger risikoreich. Aber schon, als wir vor dem Café Knallhart ankommen, sehen wir, dass unsere Anwesenheit auch hier nicht vorgesehen ist.
Natürlich, unsere Masken schützen uns. Aber keine Maske ist hundertprozentig dicht, besonders nicht dann, wenn man spricht oder sich bewegt. Je stickiger die Luft, je mehr Leute sie schon ein- und ausgeatmet haben, desto stärker reichern sich Infektionserreger darin an. Geringer ist die Belastung, wenn auf saubere Luft geachtet wird: Ideal ist ein großzügiger Luftaustausch, damit die Luft so frisch ist wie im Freien. In den meisten Innenräumen ist das nicht möglich. Dann müssen Infektionserreger aus der Atemluft entfernt werden. Das geht entweder mit einem Luftreiniger in entsprechender Dimensionierung oder durch kollektives Masketragen, um die Viren schon an der Quelle abzufangen. Wenn die Luft sauber ist, kann die eigene Maske auch mal ein bisschen verrutschen oder undicht sein, ohne dass man sich sofort ansteckt. Ein stickiger Raum voller verbrauchter, ungefilterter Luft hingegen, das ist auch mit Maske gefährlich.
Deshalb betreten wir das Café Knallhart ebenfalls nur kurz. Hier sitzen die Menschen nicht ganz so eng gedrängelt, es ist eben ein Café, aber wir gehen gar nicht erst zum Veranstaltungsraum, denn bis auf ein oder zwei Personen trägt auch hier niemand eine Maske. Enttäuscht flüchten wir wieder nach draußen. Ich bin so frustriert und sauer, dass ich eigentlich schon wieder heimfahren will. Meine Begleitung ärgert sich und schlägt vor, zumindest mal zu fragen, ob man die Maskenpflicht irgendwie einfordern kann.
Wir sprechen zwei Leute von der Orga an, die sich offen und hilfsbereit zeigen. Sie hören uns zu, halten Rücksprache und melden uns zurück, dass es möglich ist, die Veranstaltung später mit Maskenpflicht durchzuführen. Sie wollen noch ein paar Masken besorgen gehen. Wir bedanken uns und setzen uns zum Warten draußen auf eine Bank. Es ist 16:30 Uhr und zehn Grad kühl. Waren bei unserer Ankunft noch ein paar andere Leute draußen, ziehen diese sich bald wieder ins warme Innere zurück. Schnell sitzen wir allein vor dem Café. Die Sonne geht unter, die Temperatur fällt. So wird das wohl nichts mit dem Leute Treffen und Dazulernen.
Nach einer halben Stunde kommt eine der Orga-Personen nochmal raus, um uns ein Getränk anzubieten. Wir bekommen Kaffee, der die Finger zumindest für ein paar Minuten wieder auftaut. Meine Begleitung hat das Strickzeug ausgepackt und ich meinen Laptop, um diesen Text anzufangen. Das ist der Stand von Solidarität und Inklusion im Jahr 2024: Enttäuschung, Kälte, Einsamkeit und ein Trostkaffee.
Beim Vernetzungstreffen für Ableismusbetroffene funktioniert es mit der Maskenpflicht. Alle Anwesenden tragen eine. Wir haben einige gute Gespräche, es ist eine produktive und konstruktive Veranstaltung. Am Ende unterhalte ich mich mit einer Person, die bei der Orga dafür gekämpft hat, dass das Thema Infektionsschutz überhaupt auf dem Schirm ist. Man merkt der Person an, wie viel Energie sie da reingesteckt hat und wie erschöpft sie ist. Einen merklichen Unterschied hat der erhebliche persönliche Einsatz für uns als Besuchende nicht gemacht.
Auch in vermeintlich progressiven Kontexten wiederholt sich so das alte Lied: Behinderte kämpfen für Barriereabbau, aber es bleibt ein Kampf gegen Windmühlen. Kaum jemand ist gewillt, auch nur die kleinste Unannehmlichkeit hinzunehmen, um ihnen den Zugang zu ermöglichen.
Ja, ich verstehe, dass ihr keinen Bock mehr auf die Masken habt. Wisst ihr, wer nach fünf Jahren ebenfalls wirklich, absolut, überhaupt keinen Bock mehr auf die scheiß Teile hat? Die Leute, die ohne Maske nichtmal den Müll rausbringen können. Die Leute, die sauteure, hochwertige Masken kaufen und sie trotz Stauballergie und juckenden Augen bis zum Gehtnichtmehr wiederverwenden, weil im Grundsicherungssatz exakt null Euro für Infektionsschutz vorgesehen sind.
Denn nicht nur die Unbequemlichkeit wird vollumfänglich auf Behinderte abgewälzt, sondern auch die Kosten: Teure Masken, die uns auch in Hochrisikosituationen noch schützen. Nasenspray für fünfzehn Euro pro Fläschchen. Luftreiniger in der Wohnung, weil die Tür zum Treppenhaus zwangsweise manchmal geöffnet werden muss, Ersatzfilter jedes halbe Jahr. Ein PlusLife-Testgerät, um eine zuverlässige Testmöglichkeit für unseren Besuch zu haben – das Gerät kostet ohne Rabattcode übrigens deftige 255 € und ein einzelner Test auch mit Rabattcode noch sechs Euro. Ein sinnvoller tragbarer CO₂-Sensor kostet ebenfalls über zweihundert Euro. Ich lebe unterhalb des Existenzminimums. Meine Schuhe sind von Kleinanzeigen und mein Laptop von der Computertruhe.
Auch ich fände es schön, in einem Raum voller Menschen sicher genug zu sein, um die Maske kurz abnehmen zu können, wenn das Asthma mal wieder kickt. Oder wenn ich einen Schluck Wasser brauche. Immerhin: Ich bin privilegiert in der Hinsicht, dass ich durchgängig Maske tragen kann. Das Asthma ist nicht schlimm genug, dass ich damit rechnen muss, mir plötzlich und dringend die Maske runterreißen zu müssen, um ein Spray zu inhalieren. Ich trage auch keine Sauerstoff- oder Ernährungsschläuche, die einen dichten Sitz der Maske unmöglich machen. Ich kriege keine Panikattacken, wenn ich eine Maske aufhabe. Menschen mit solchen Schwierigkeiten müssen sich entscheiden: Entweder sie geben ihr Leben vollständig auf oder sie setzen es täglich aufs Spiel.
Ich kann verstehen, warum sich viele dafür entscheiden, drauf zu scheißen. Irgendwie muss man ja trotzdem leben, auch wenn man dabei stirbt. Aber wäre es nicht besser, wenn es eine dritte Option gäbe? Wenn auch Menschen mit hohem Risiko irgendwo, und ich meine irgendwo, in dieser Gesellschaft akzeptiert und geschützt wären?
Es gibt keine Eigenverantwortung. Infektionsschutz ist Gesellschaftssache. Es müssen auch nicht immer Masken sein: Frischluft ist vollkommen kostenlos und wo sie baulich nicht so gut verfügbar ist, lässt sich mit Luftreinigern Abhilfe schaffen. CO₂-Sensoren helfen dabei, die Situation korrekt zu bewerten. Und wenn Menschen sich angewöhnen würden, zumindest dann eine Maske zu tragen, wenn sie krank sind oder sich in einem stickigen Innenraum befinden, würden die Infektionszahlen wohl schnell auf ein erträgliches Level fallen.
Stattdessen müssen behinderte Menschen sich zwischen Isolation und Lebensgefahr entscheiden. Viele wählen die Lebensgefahr. Letzte Woche sind 186 Menschen an Corona gestorben. Was glaubt ihr, wer diese Menschen waren? Ihr wollt ungehindert frei atmen können? Ich auch, verdammte Scheiße nochmal!
In einem Verein, wo ich Mitglied bin, funktioniert es mit dem Infektionsschutz. Es gibt in den Vereinsräumen keine allgemeine Maskenpflicht, sondern eine Regel, dass Maskenpflicht gilt, sobald eine einzige Person sie ausspricht – eine Regel, die ich anfangs als ›Bettellösung‹ kritisierte, inzwischen aber liebgewonnen habe. Das liegt vor allem daran, dass niemand mehr diskutiert, wenn die Maskenpflicht ausgerufen wird. Es passiert regelmäßig, es ist normal. Masken stehen immer zur Verfügung. Vor ein paar Wochen hatten wir Mitgliederversammlung, der ganze Raum war vollgestopft mit Menschen. Alle drei Luftreiniger liefen auf mittlerer Stufe, die Fenster waren offen, bis auf zwei Personen trugen alle eine Maske und die Risikogruppe konnte ohne Bedenken teilnehmen.
Das funktioniert alles so gut, weil wir feste Verhaltensregeln haben. Wann und wie wird Maskenpflicht ausgesprochen, wie wird darauf reagiert, und wie machen wir das mit dem Essen und Trinken? Technische Lösungen unterstützen: Die Luftreiniger, die CO₂-Sensoren.
Der Kampf für öffentliche Gesundheit ist nicht so hoffnungslos, wie es uns manchmal erscheint. Wenn die Strukturen geschaffen werden, um schwächere Mitglieder der Gesellschaft zu schützen, ist gleichberechtigte Teilhabe immer noch möglich, trotz grassierender Infektionskrankheiten. Es geht aber nur, wenn die Personen mit Risiko nicht ganz allein für ihr Existenzrecht einstehen müssen.
Mehr Steine als Weg: Wie kranken Menschen der Zugang zu Unterstützung systematisch verwehrt wird
Foto von einer Liegenddemo für Versorgung von ME/CFS-Erkrankten im August 2024
Juni 2024. Nach monatelanger Wartezeit findet endlich der Termin bei meiner neuen Hausärztin statt. Sie hat die Praxis übernommen; wir kennen uns noch nicht. Seit Frühjahr geht es mir wieder schlechter, ich kann meinen Alltag nicht mehr bewältigen, obwohl ich schon lange berentet bin. Was mir fehlt, weiß ich noch immer nicht, aber ich weiß, dass meine Symptome sich verstärken, wenn ich mich anstrenge.
Anfangs gibt die Ärztin sich verständnisvoll, doch sie weiß nicht, wie sie mir helfen soll. Ich sage so etwas wie: »Eigentlich brauche ich einen aktuellen Arztbericht, der letzte ist von 2017«, weil ich wie früher schon einmal Haushaltshilfe beantragen möchte und weiß, dass ich ohne einen medizinischen Nachweis nichts bekommen werde.
Mit dieser Bitte beginnt das mühsame Verständnis zu zerfallen. Die Allgemeinärztin möchte mir weismachen, ich hätte eine leichte bis mittelschwere Depression, nur eben ohne Gemütstrübung, womit es per Definition keine Depression sein kann. Ab dem Punkt weiß ich eigentlich schon, dass ich hier keine Hilfe bekommen werde, doch ich sitze in dem Gespräch fest. »Ich glaube, dass man sich da langsam steigern muss«, befindet die Medizinerin; es reicht wohl nicht, dass ich das jahrelang versucht habe. Dass ich nach Überanstrengung so schwach werde, dass ich kaum ein Wasserglas hochheben kann, diagnostiziert sie als Dekonditionierung: »Das ist klar, dass man immer schwächer wird, wenn man immer weniger macht.« Angeblich hätte ich Angst, dass meine Symptome auftreten könnten und würde deshalb Aktivität vermeiden.
Nach minutenlangem Hin und Her, in dem ich nur noch aus Trotz widerspreche, kommt der Satz, der jede Grenze des guten Benehmens und der wissenschaftlichen Evidenz überschreitet: »Man kann sich selbst zu einem Krüppel im Bett mutieren.« Danach kommen weitere Sätze, die ich nicht mehr höre. Ich sehe, wie sich ihr Mund bewegt, doch ich höre nur noch Rauschen in meinen Ohren. Ich stehe auf und teile ihr mit, dass ich mir jemand anderen suchen werde, wünsche einen schönen Tag und gehe. Zum Abschied nennt die Ärztin meinen Nachnamen, betont extra noch das »Herr« davor, um zu demonstrieren, dass sie immerhin meine Transidentität respektiert. Ich tippe noch auf dem Heimweg ein paar der Sätze, die meine ehemalige Hausärztin von sich gegeben hat, in mein Handy. Warum habe ich es überhaupt versucht? Ich weiß doch, dass ich nicht die Kraft habe, für Unterstützung und Teilhabe zu kämpfen.
Diese Geschichte ist nichts Besonderes. Wo auch immer chronisch kranke Menschen sich austauschen, beschreiben sie ähnliche Erfahrungen. Inzwischen ist auch in der breiteren Gesellschaft bekannt, dass es schwer sein kann, in medizinischen Kontexten ernstgenommen zu werden. Doch ausgerechnet das ist die Voraussetzung dafür, um sich überhaupt für Leistungen zur Versorgung und Teilhabe zu qualifizieren. Die Voreingenommenheit, Fehlinformation und Schuldzuweisungen begegnen Hilfesuchenden jedoch nicht nur in Arztpraxen. Bei jedem einzelnen Schritt werden ihnen Steine, nein, Felsbrocken in den Weg gelegt.
In Medien fallen Schlagworte wie »Pflege in der Krise« oder »Versorgungsnotstand«: Personen mit unstrittigem Bedarf an medizinischer Versorgung und Pflege erhalten diese oft nicht oder in mangelhafter Qualität. Aus dem eigenen Leben weiß man, wie schwer es sein kann, fachärztliche Termine oder Psychotherapie zu bekommen. Weniger bekannt ist das große Feld von Unter- und Nichtversorgung von Personen, die dringend Hilfe brauchen und keine bekommen. Teilweise können diese Menschen sich noch mit einem Job irgendwie über Wasser halten, andere sind den größten Teil ihres Tages bettlägerig und können die eigene Grundversorgung nicht ohne Hilfe stemmen.
Menschenwürde und Lebensqualität sind für zahllose kranke und behinderte Personen immer noch Wunschträume, obwohl sich eigentlich viel getan hat. Von staatlicher Seite wurde zum Beispiel durch das Persönliche Budget, die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention, die Förderung der Teilhabeberatung, durch Eingliederungshilfe und das Bundesteilhabegesetz versucht, die Möglichkeiten zu erweitern. Doch die Diskriminierung ist in unserer Gesellschaft so tief verankert, dass diese Verbesserungen bei manchen Gruppen einfach nicht ankommen.
Stell dir vor, du bist behindert und niemand glaubt es dir
Nach dem Termin im Sommer habe ich mich nicht weiter um das Thema Haushaltshilfe gekümmert. Genau wie in den Jahren davor habe ich den Aufwand für das Erstreiten größer eingeschätzt als die erreichbare Entlastung. Und bis auf zwei, drei Stunden Hilfe pro Woche hatte ich ja schon alles: Arbeitsunfähigkeit und Schwerbehindertenausweis hatte ich mir schon vor Jahren erkämpft.
Doch so geht es nicht allen. Eigentlich soll der Schwerbehindertenausweis Zugang zu Nachteilsausgleichen für die Behinderung ermöglichen. Tatsächlich ist das Vorhandensein einer Behinderung dafür lange nicht ausreichend; man muss sie diagnostizieren, dokumentieren und behandeln lassen und sich im Anschluss mit dem Versorgungsamt einen Streit darüber liefern, ob diese Behinderung nun bei aller Dokumentation wirklich existiert oder nicht.
So berichtet es auch Robert aus Wiesbaden, der versucht hat, einen angemessenen Grad der Behinderung (GdB) zu erhalten. Ich kenne Robert nicht persönlich. In meinem privaten Umfeld sehe ich viele ähnliche Geschichten, aber ich halte es nicht für sehr seriös, einen langen Text nur über die Probleme meiner Freund*innen zu schreiben. Darum habe ich, wie man das heute so macht, auf den sozialen Medien nach weiteren Erfahrungsberichten gefragt.
Robert beschreibt seine Lage kurz und knapp mit den Worten: »Amtlich auf Papier noch zu fit für Ansprüche.« Bei der Feststellung des GdB wurde seine »psychosomatische Schmerzstörung aus dem Jahre 2014/2015 […] direkt mit 20 eingestuft«, schreibt er, und weiter: »Meine Depression wurde in die Schmerzstörung eingerechnet«. Er sei so gering eingestuft worden, weil keine Befunde zu Krisen vorlägen und er keine längeren stationären Aufenthalte gehabt habe. Warum er das ungerecht findet: »Der Umstand, dass ich mich wirklich nach besten Mitteln und Wissen durch den Alltag zur Arbeitsfähigkeit kämpfe, bleibt hier absolut außen vor.«
»Dann kam die Pandemie mit Corona und seit meine[r] ersten Infektion Dez. 2023 habe ich nun PostCovid«, erzählt er, und dadurch habe er auch »Fatigue/Brainfog mit Verdacht auf ME/CFS mit positivem Screening auf PEM«. Fatigue ist ein starker Erschöpfungszustand; der Begriff Post-exertionelle Malaise (PEM)) beschreibt, dass sich nach jeglicher Anstrengung erhebliche Krankheitssymptome einstellen. PEM und Fatigue sind Kernbestandteile der Krankheit ME/CFS, um die es hier auch später noch gehen wird. »Mein Mann übernimmt daher sämtliche Carearbeit als Hauptverdiener und in 40h Arbeit«, berichtet Robert weiter. »Kochen konnte ich vor COVID nicht immer ohne Symptome, da ich nicht immer so lange stehen kann ohne Schmerzen, seit COVID helfe ich an guten Tagen nur noch beim Schneiden«.
Zum Job schreibt er: »Ich arbeite aufgrund meiner Gesundheit nur noch 30h die Woche«, möglich seien ihm bei viel Flexibilität und voller Remote-Arbeit 2-3 Stunden symptomfreies Arbeiten. »Ich mach das jedoch sehr gerne«, erklärt er, »meine Gesundheit ist hier nur leider mein größerer Gegner.« Für die Hilfsbereitschaft seiner Kolleg*innen ist er dankbar, und dennoch muss er für sich selbst einstehen: »Ich kläre für eine bessere Situation ehrenamtlich mein ganzes Berufsumfeld über meine Krankheiten auf.«
Auf einen Termin bei der Long-Covid-Ambulanz in Wiesbaden wartet Robert bislang vergebens. Im Spätsommer habe er nachgefragt und erfahren, dass seine Überweisung von Mai noch nicht bearbeitet wurde. Einen Pflegegrad habe er gar nicht erst beantragt, denn er geht nicht davon aus, eine Einstufung zu erhalten: »Wenn wir eine bekommen würden, dann vermutlich nur mit ausreichenden Kenntnissen zum [Sozialgesetzbuch] und Erstreiten des Rechts – wofür ich keine Kraft habe.« Die Infektionslage in Deutschland stellt eine weitere Hürde dar: »Dazu holen wir uns bei Pflege und Hilfe immer das Risiko mit ins Haus, erneut COVID zu bekommen, was insbesondere für mich stark gefährdend wäre.«
So bleiben Robert und sein Mann mit der Situation weitestgehend allein. Der Ton seitens der Behörden belastet ihn merklich: »Es wird immer davon ausgegangen, dass ich als Bürger mir etwas erschleichen will«. Er habe nie gedacht, dass es so schlecht aussieht für Betroffene: »Auch ich habe mal gedacht, zusammenreißen und nur viel leisten, [das] bewahrt vor solchen Schieflagen.« Was er sich wünscht? »Ernsthafte Solidarität in der Gesellschaft, die auch in einem Handeln mündet. Jeder kennt die Missstände, alle haben Sorgen, nur niemand fordert das System heraus.«
Stell dir vor, du bist behindert und niemand kann deine Behinderung richtig bewerten
Und was ist mit Menschen, die einen höheren Hilfebedarf haben? Wer sich nicht mehr selbst versorgen kann, bekommt auch Hilfe, oder?
Wer krank wird, erhält nicht eines Tages eine hübsche Broschüre und eine Schulung zu Leistungsansprüchen. Kranke Menschen wissen nicht mehr als der Rest, und wer unter den Lesenden, die sich nicht aus beruflichen Gründen mit dem Thema auskennen, weiß schon, was der Unterschied zwischen Pflege, Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe und Persönlichem Budget ist und unter welchen Umständen worauf ein Anspruch besteht? Die Pflege ist wohl den meisten noch ein Begriff. Wer erstmalig Hilfe braucht, setzt oft dort an.
Als es mir gesundheitlich am schlechtesten ging, das war 2016 oder 2017, habe auch ich zuerst einen Pflegegrad beantragt. Ich kam kaum noch aus dem Haus, schaffte die Treppen oft nur auf allen Vieren, konnte mich nur alle ein bis zwei Wochen duschen und hatte große Schwierigkeiten, meine Wohnung sauber genug zu halten, um ungehindert vom Bett bis aufs Klo zu kommen.
Die Feststellung eines Pflegegrades erfolgt anhand von Modulen. Bewertet werden Bewegungsfähigkeit, Orientierung und Kommunikationsfähigkeiten, Problemverhalten, Selbstversorgung (Körperpflege, Toilettengang, Nahrungsaufnahme), Unterstützungsbedarf bei medizinischer Versorgung sowie Alltagskompetenzen. Nicht berücksichtigt werden außerhäusliche Aktivitäten und Haushaltsführung; die Pflegekasse ist für Aufräumen, Einkaufengehen und Kochen nicht verantwortlich. Jedes der Module wird einzeln bewertet und die Punkte zu einem Gesamtwert verrechnet. Genau nachlesen kann man das alles in den Richtlinien des Medizinischen Dienstes Bund zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit.
Das Bewertungsschema ist für viele Fälle nicht klar definiert. Ist es unselbständig, wenn ich mich selbständig waschen kann, nur eben zu selten? Wie werden Tätigkeiten bewertet, die ich ohne Hilfe ausführen kann, aber nicht ohne einen Preis in Form von Schmerzen oder verstärkten Symptomen zu bezahlen? Was ist mit Dingen, die auch mit Hilfe nicht möglich wären, weil ich einfach zu krank dafür bin – hat mein Körper dann selbständig entschieden, sie bleiben zu lassen? Wenn die Häufigkeit medizinischer Versorgung angegeben werden soll, wie wird Versorgung bewertet, die dringend stattfinden müsste, aber ohne Unterstützung nicht kann?
Der Medizinische Dienst steht in der Pflicht, Richtlinien zu schaffen, mit denen solche Krankheitsbilder korrekt bewertet werden können. Auf Anfrage gibt dieser an: »Es geht immer um die Bewertung der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten in den Modulen des Begutachtungsinstruments.« Zu medizinischer Versorgung, die ohne Unterstützung nicht stattfinden kann, verweist er auf Hausbesuche, erklärt aber auch, es sei »der erforderliche Hilfebedarf zu bewerten, sofern dieser regelmäßig und auf Dauer erforderlich ist.« (Link zum Volltext der Stellungnahme)
Die Erfahrung zeigt, dass Pflege- und andere Bedarfe nur selten ohne Nachweise und Arztberichte anerkannt werden. Dies streitet der Medizinische Dienst ab: »Der pflegerische Hilfebedarf wird nicht ausschließlich und in erster Linie über medizinische Fremdbefunde festgestellt. Diese können Teil der Informationssammlung bei der Pflegebegutachtung sein. Es hängt immer vom individuellen Einzelfall ab, ob zusätzlich zur Befunderhebung durch die Gutachterin oder den Gutachter weitere medizinische oder therapeutische Berichte erforderlich sind, um den Grad der Selbstständigkeit einschätzen zu können.« Ein solcher Fall ist in den Richtlinien nicht beschrieben, dort wird lediglich erwähnt, dass »Beginn und Verlauf der Erkrankungen, die ursächlich für die gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind, zu schildern« sind. Wie das gehen soll, wenn die Erkrankungen nicht diagnostiziert oder bekannt sind, bleibt fraglich.
Ohne klare, passende Richtlinien wird den Begutachtenden ein großer Interpretations- und Ermessensspielraum eingeräumt. Bei meiner eigenen Begutachtung wurde über die Folgen des selbständigen Ausübens meiner Selbstversorgung großzügig hinweggesehen und ich erhielt am Ende den niedrigsten Pflegegrad.
Medizinische Berichte, Anträge, Ablehnungen, Klagen, Gutachten – da kommen oft mehrere Kilo Papier zusammen. Kein Symbolbild, sondern echtes Foto von echten Unterlagen.
Stell dir vor, du bist behindert und du kannst es beweisen und du bekommst trotzdem keine Hilfe
Dass sogar einschlägige Diagnosen nicht zu angemessener Bewertung des Pflegebedarfs führen, berichtet MeckerMutti, die bei ihrem Online-Pseudonym genannt werden möchte und sich ebenfalls auf meine Anfrage gemeldet hat. Wie Robert ist auch sie aus Notwendigkeit zur Aktivistin geworden. Ihre Profile auf den sozialen Medien sind voller Informationslinks zu ME/CFS und Hashtag-Kampagnen. »Psychohygiene betreibe ich mit meinem Aktivismus«, schreibt sie mir. »Mit anderen zu teilen, was ich erlebe, was ich herausfinde, was nutzen oder helfen kann. Laut zu werden gegenüber Politik und den Verantwortlichen.«
ME/CFS ist eine Erkrankung, deren Hauptsymptom eine knochentiefe Erschöpfung ist, die sich durch Anstrengung verschlimmert. Dass die Versorgungslage von Personen mit ME/CFS dramatisch ist, ist inzwischen ebenso bekannt wie die Tatsache, dass es sich um eine körperliche Erkrankung handelt, die unter anderem durch eine Corona-Infektion ausgelöst werden kann.
Auch MeckerMutti hatte Schwierigkeiten, die richtige medizinische Versorgung zu finden. »Meine damalige Hausärztin hat mir lediglich ein Multivitamin-Präparat verordnet und, wie ich später feststellen musste, diverse Psycho-Diagnosen verpasst.« Später habe ein anderer Arzt ihr die Diagnose Neurasthenie gestellt, eine Diagnose aus dem späten 19. Jahrhundert, die als überholt gilt und im 2018 veröffentlichten ICD-11 nicht mehr vorhanden ist. In Deutschland wird noch das ICD-10 von 1994 verwendet.
»Ich habe mich dann für einen Termin in der Covid-Ambulanz Ulm angemeldet, der Ende Februar 2023 stattfand«, erzählt MeckerMutti. Dort wurde sie mit ME/CFS diagnostiziert. Ihren derzeitigen Hausarzt beschreibt sie positiver: »Ich bringe ihm Informationen und wir beraten, was für mich einen Nutzen bringen könnte.« Zusätzlich war sie in einer neurologischen Ambulanz, hat zahlreiche Tests über sich ergehen lassen, obwohl sich durch die Belastung ihr Zustand verschlechtert: »Weitere Diagnostik kann ich nicht mehr betreiben, da dies jedes Mal zu einem Crash führt«. Ein sogenannter Crash ist eine auf Überlastung folgende massive Verstärkung der Symptome, die Tage oder Wochen andauern und sogar dauerhaft bleiben kann. Die einzige bekannte Methode, um einen Crash zu verhindern, ist Pacing, also ein kontrolliertes Einteilen und Reduzieren des Aktivitätslevels, um die Überlastungsschwelle niemals zu überschreiten.
Die zweimal bestätigte Diagnose sollte zusammen mit MeckerMuttis schwerer Symptomatik eigentlich ausreichen, um die nötige häusliche Versorgung zu erhalten. »Bell 20«, beschreibt sie ihren eigenen Zustand. Die Bell-Skala ist ein System, um den Schweregrad von ME/CFS zu bewerten. Eine 20 auf dieser Skala bedeutet eine schwere Beeinträchtigung, die jegliche Belastung zu einer Tortur macht. Erkrankte mit diesem Funktionswert können nur selten das Haus verlassen und sind die meiste Zeit bettlägerig. Gepflegt wird MeckerMutti vor allem von ihrem Mann, den sie gern entlasten würde: »Ich mache mir Sorgen, dass er irgendwann aus den Latschen kippt.«
Der Medizinische Dienst, der für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit zuständig ist, sieht das anders. Im Januar 2024 beantragt MeckerMutti einen Pflegegrad. »Hierzu habe ich im Vorfeld der Begutachtung eine Info-Mappe nach den Empfehlungen der Fatigatio e.V. [Link: Fatigatio] an die Pflegekasse geschickt«, berichtet sie. »Dort waren alle Diagnosen enthalten, Erläuterungen zu ME/CFS und PEM, ein Pflegetagebuch und eine Selbsteinschätzung«. Nach jener dürfte sie Pflegegrad vier haben. Damit hätte sie Anspruch auf Pflegedienststunden im Wert von 1778 € – also Pflege mehrmals die Woche oder täglich.
Doch einen Monat nach Antragstellung erhält sie den Bescheid: Pflegegrad eins. Das bedeutet einen Entlastungsbetrag von 125 €, der maximal für vier Stunden monatlich reicht und nicht ausgezahlt werden kann. »Das Gutachten ist von vorne bis hinten voller Lügen«, beanstandet MeckerMutti. »Ich könnte arbeiten, Treppensteigen und vieles mehr völlig selbständig tun.« Dabei kann sie nur noch in Innenräumen zehn Meter mit dem Rollator gehen: »Für Wegstrecken außerhalb und darüber hinaus benötige ich einen Elektro-Rollstuhl.« Bei der Begutachtung sollte sie demonstrieren, wie sie aufsteht, musste den Versuch jedoch aufgrund starker Schmerzen abbrechen. »Ich lag etwa 50 Minuten der Begutachtung still im Bett, nach dem gescheiterten Aufstehversuch mit Schlafmaske.«
In Bezug auf die Begutachtungsrichtlinien und die Fachkenntnisse der Begutachtenden sieht der Medizinische Dienst weder Handlungsbedarf noch Probleme und schreibt: »Die Auswirkungen von ME/CFS können auch im Rahmen der aktuell gültigen Begutachtungs-Richtlinien angemessen berücksichtigt werden«. Und weiter: »Zusätzlich haben die Gutachter fachliche Grundlagen und Schulungen zu ME/CFS erhalten.«
Das Pflegegutachten, das über MeckerMutti erstellt wurde, macht diese Aussage zumindest fragwürdig. Es enthält interessante Empfehlungen zur Verbesserung ihrer Situation wie beispielsweise Rehabilitationssport, Miteinbindung eines Psychiaters sowie Gedächtnistraining durch Memory oder Brettspiele. Auch gibt das Gutachten an, dass ihre Selbständigkeit durch Therapiemaßnahmen und Medikation verbessert werden könnte. Für ME/CFS gibt es keine Medikamente und keine kausalen Therapien. Einige Studien belegen Wirksamkeit von Verhaltenstherapie, doch eine Wirkung, die über das Vermitteln von Pacing-Strategien und emotionale Unterstützung hinausgeht, ist umstritten.
Es ist nichts Neues, dass ME/CFS und ähnliche Krankheiten psychologisiert und nicht ernstgenommen werden. MeckerMutti legt Widerspruch ein, erhält im Juni eine Ablehnung nach Aktenlage und ohne detaillierte Begründung für den Verzicht auf eine erneute Begutachtung. Ein weiterer Widerspruch wird ebenfalls abgelehnt, es bleibt die Klage als letzte Option. MeckerMutti schreibt, all das sei »ohne Unterstützung eine enorme Belastung, ohne nachfolgende Crashs eigentlich nicht zu bewältigen.« Sie muss sich um alles selbst kümmern: »Mein Mann ist Legastheniker, mein Sohn neurodivergent«.
Wie lässt sich diese Belastung für die Betroffenen verringern? MeckerMutti findet: »Ein Briefkasten voller Flyer ist für mich/uns nicht die Lösung. Es sollte einen Menschen geben, der, wenn man die Diagnose hat, zu einem nach Hause kommt, alle erforderlichen Anträge ([Pflegegrad], GdB, usw.) abarbeitet und die Anträge für einen ausfüllt. Der sich dann mit den Bescheiden und Behörden auseinandersetzt, eine Rechtsvertretung einschaltet bei Bedarf, alles ›Ungemach‹ von den Betroffenen fernhält und sich bis zum hoffentlich erfolgreichen Abschluss der Verfahren kümmert. Einen Verwalter sozusagen. Oder Betreuer. Nicht für jedes Thema einen anderen, dem man erst wieder die Krankheit und die Probleme damit erklären muss. Und wir können derweil in unseren Betten liegen und pacen, damit die Energie ausschließlich für Grundbedürfnisse und Lebensqualität eingesetzt werden kann.«
Die Unterstützungsangebote reichen nicht
Nicht nur MeckerMutti und Robert haben diesen Wunsch. Im Austausch mit anderen kranken und behinderten Menschen ist er mir oft zu Ohren gekommen, und auch ich selbst habe ihn gehegt, als ich nach dem Erlangen des Pflegegrades das Persönliche Budget beantragte.
Damals wendete ich mich an eine Initiative von behinderten Menschen, die anderen Behinderten bei der Antragstellung helfen wollte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche es war. Nach einem kurzen E-Mail-Austausch schickte mein Gegenüber mir einen fertigen Brief, den ich nur noch ans Sozialamt senden musste. Fürs Persönliche Budget ist ein formloser Antrag ausreichend. So wurde mir etwa eine halbe Stunde Formuliererei und Dokumentformatierung abgenommen.
Es folgte ein mehrere Wochen andauernder Schriftwechsel mit dem Sozialamt und schließlich eine Begutachtung. Alles davon musste ich alleine machen. Ich hatte großes Glück und das Budget wurde mir ohne Verzögerung, Widerspruch und Klage bewilligt, wenn auch mit weniger Stunden als beantragt. Doch dann dauerte es Monate, bis ich tatsächlich Hilfe bekam – denn ich musste eigenständig recherchieren, wie ich eine Person anstelle, wie ein Arbeitsvertrag aussieht, wo ich das anmelden muss, und zu guter Letzt musste ich eine Person finden, die diesen Job für mich machen wollte. Angeblich soll es eine Möglichkeit geben, bei diesen Aufgaben Hilfe zu bekommen, doch ich habe nie herausgefunden, wie man darauf Zugriff bekommt.
Heutzutage gibt es in vielen Städten Angebote für die sogenannte EUTB: Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung. Diese Beratungsstellen bieten wohnortunabhängig Beratung an, oft auch per E-Mail oder Telefon, teilweise sogar durch Hausbesuche, und leisten so die essentielle Arbeit, Hilfesuchenden einen Überblick über Leistungsansprüche zu vermitteln. Die EUTB können das Antragsverfahren erklären und bei der Antragstellung unterstützen, doch sie können den Hilfesuchenden nicht die eigentliche Arbeit abnehmen. Die Beantragung ist für viele tatsächlich eine Hürde, aber im Vergleich zu den anderen, die sie auf dem Weg zu angemessener Hilfe überwinden müssen, bleibt es oft eine der kleinsten.
Hilfe gibt es nicht für die Diagnostik, die durch Fachärztemangel und Vorurteile in der Medizin erschwert wird. Nach der Antragstellung müssen Hilfesuchende sich Unterstützung für Begutachtungen sowie rechtlichen Beistand für Widersprüche und Klagen eigenständig organisieren, müssen selbst ihren Papierkram erledigen und verschicken. Auch die vernichtenden Ablehnungen müssen sie selbst in Empfang nehmen, mit allen psychischen und emotionalen Folgen. Keine der Leistungsformen ist leicht und unbürokratisch erhältlich; endlose Wartezeiten, hanebüchene Ablehnungen und Hürden durch Nachweisforderungen sind bei Eingliederungshilfe und Persönlichem Budget ebenso üblich wie bei Pflegeleistungen. Beratungsstellen können daran nichts ändern.
Meistens bleibt es an Betroffenen und ihren Angehörigen hängen, ihre Rechte einzufordern.
Normalität für kranke und behinderte Menschen
Wer einmal gesehen hat, wie groß die Probleme für behinderte Menschen sind, wenn sie Hilfe brauchen oder Leistungen in Anspruch nehmen möchten, kann nie wieder aufhören, es zu sehen. Blockaden und Diskriminierung sind die Regel, nicht die Ausnahme.
In meinem direkten Umfeld gibt es eine Person, die seit einem Dreivierteljahr kein Persönliches Budget erhält, obwohl ihr Bedarf längst anerkannt wurde – weil sie gegen die zu niedrige Stundenzahl Widerspruch eingelegt hat. Eine andere Person bräuchte Hilfe für das Nötigste, hat aber keinen festen Tagesrhythmus und weiß nicht, wann sie wach sein wird, sodass sie bislang nichts beantragt hat, weil es das nur schlimmer machen würde. Meinen Haushalt teile ich mit einer Person, der vor Jahrzehnten die zweifelsfrei vorhandene Gehbehinderung aberkannt wurde und die dadurch keinen Anspruch auf entsprechende Nachteilsausgleiche hat. Erst diesen Monat habe ich eine Person kennengelernt, die mich fragte, ob man einen Rollstuhlmotor billig selberbauen kann – sie könne anders keinen kriegen, habe sich sogar den Rollstuhl auf Ebay selbst gekauft.
Die Geschichten sind haarsträubend und sie sind überall. Was bleibt, ist die Wut. So schreiben es auch Robert und MeckerMutti. »An manchen Tagen fühle ich mich sehr hilflos«, beschreibt Robert. »An anderen bin ich wütend, weil die Mehrheit es nicht sieht.« Ähnlich drückt sich MeckerMutti aus: »Ich bin wütend! Unsere Rechte werden mit Füßen getreten.«
Durch die andauernde Corona-Krise wird die Problemlage sich nicht entschärfen, so wie es sich zu Beginn der Pandemie viele erhofften, wenn die ganzen Vorerkrankten endlich wegsterben würden. Im Gegenteil: Durch die Langzeitfolgen wiederholter Infektionen werden immer mehr Menschen am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, Hilfe zu bekommen – medizinisch, pflegerisch, finanziell –, und ob die Ressourcen für ihre Versorgung ausgeweitet werden, ist zweifelhaft. Das Thema war vielleicht noch nie so aktuell wie jetzt.
Ich selbst erlebte wenige Wochen, nachdem ich von einer Hausärztin als Krüppel bezeichnet wurde, eine unerwartete gesundheitliche Verbesserung. Ich kaufte mir ein Fahrrad, reparierte es und fuhr in der ersten Woche fast hundert Kilometer. Warum es mir jetzt besser geht, weiß ich genauso wenig, wie ich eine Erklärung dafür habe, warum es mir jahrelang so schlecht ging. Ich kann nur vermuten, dass es nicht an ›Dekonditionierung‹ lag.
Dieses Glück haben die Wenigsten. Wir müssen – und können – als Gesellschaft die Zustände verbessern, unter denen Menschen mit unheilbaren Krankheiten leben.
Themen: behinderung, versorgungskrise, pflege, sba, qualitätstext
Die Sache mit den Rollstuhl Apps
Stell dir vor, du bekommst ein neues Paar Beine. Und dann möchte der Hersteller dieser Beine hundert Euro von dir, damit du damit rennen kannst.
Dieser Sticker musste da einfach hin.
Rollstuhlantrieben von Alber kann man in deutschen Sanitätshäusern kaum entkommen, ich weiß es aus eigener Erfahrung. Schon als ich 2017 meinen neuen Rollstuhl bekam, sprach ich mit den Sanitätshaus-Angestellten über eine mögliche spätere Motorisierung. In diesen Gesprächen wurde der Markenname e-motion vollkommen synonym mit dem Konzept eines Restkraftverstärkers verwendet. Solche Hilfsantriebe unterstützen bei einem manuellen Rollstuhl die Anschubbewegung der Hände, ganz ähnlich dem Prinzip eines Ebike-Motors, der durchs Pedaletreten aktiviert wird.
Eigentlich gibt es Restkraftverstärker auch von anderen Herstellern, doch durch meine Interaktionen mit Sanitätshäusern habe ich den Eindruck bekommen, dass sie diese nicht kennen. Als ich mich einige Jahre später in einem anderen Sanitätshaus am anderen Ende Deutschlands nach Rollstuhlzuggeräten erkundigte und wissen wollte, welche verschiedenen Hersteller es gibt, wurde mir eine kleine Reihe von Vorführrollstühlen mit entsprechenden Antrieben (alle von Alber) gezeigt, ich bekam ein Alber-Werbeprospekt in die Hand gedrückt und ging schlecht informiert wieder nach Hause.
Die Alber GmbH stellt verschiedene Arten von Unterstützungsmotoren für Rollstühle her. Der e-fix ist ein vollautomatischer Antrieb mit einem Joystick. Mit dem e-pilot bietet die Firma ein Rollstuhlzuggerät an und der smoov one ist ein Antrieb, der in Form eines zusätzlichen Rades hinten am Rollstuhl angebracht wird. Abgesehen vom e-motion verwandeln all diese Antriebe den Rollstuhl rechtlich gesehen in ein motorisiertes Fahrzeug, das nur bis 6 km/h ohne weitere Auflagen im Straßenverkehr verwendet werden darf.
Eigentlich ist es ein Unding, dass Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung auf motorisierte Räder angewiesen sind, sich mit maximal 6 km/h darauf fortbewegen dürfen. Oberhalb dieser Geschwindigkeit gilt auch für Rollstühle und Elektromobile eine Versicherungspflicht, über 15 km/h ist sogar ein Mofa-Führerschein erforderlich. Dabei kann jedes gesunde Paar Beine innerhalb kürzester Zeit und in den gefährlichsten Situationen auf 15 km/h beschleunigen, niemand verlangt einen Versicherungsnachweis für die Dinger und dafür bezahlen muss man auch nichts. Aber auch die Krankenkassen sehen sich nicht in der Pflicht, einen Rollstuhl oder Rollstuhlantrieb zu bezahlen, der mehr ersetzt als die Gehfähigkeit, mit einer Geschwindigkeit von maximal 6 km/h. In Deutschland ist das nunmal so.
Wie ist es also möglich, dass die Webseite des smoov one mit einer Höchstgeschwindigkeit von »bis zu 10 km/h« wirbt, obwohl solche Geräte regelmäßig von der Krankenkasse übernommen werden? Hierfür hat die Firma Alber sich einen Trick ausgedacht: Für ihre Rollstuhlantriebe bietet sie über Google Play und den Apple App-Store modellspezifische Apps an, mit denen durch In-App-Käufe zu haarsträubenden Preisen die Maximalgeschwindigkeit erhöht werden kann.
So sah die Smoov-Webseite am 12. Oktober 2024 aus.
Alber bietet in den Apps unterschiedliche Sonderfunktionen an und lässt sie sich gut bezahlen. So kostet es in der App für den e-motion M25 beispielsweise 39,99 €, den Rollstuhl übers Handy fernsteuern zu können – eine große Alltagserleichterung für Menschen, die ohne ihren Rolli keinen Meter weit kommen. Auf den Schrittzähler für 9,99 € können wohl die meisten Benutzenden getrost verzichten; es fallen jedoch 99,99 € dafür an, eine Art Tempomat-Funktion freizuschalten, die für Personen mit wenig Kraft und Ausdauer eine Vergrößerung ihres Bewegungsradius bedeuten kann. Andere Hersteller bieten Restkraftverstärker an, bei denen diese Funktion im Produkt integriert ist, so zum Beispiel der Empulse WheelDrive von Sunrise Medical durch einen zweiten Greifring. Da dieses Gerät jedoch deutlich teurer ist, wird es von der Krankenkasse wohl kaum als Basisversorgung genehmigt werden.
Zu guter Letzt kostet es noch einmal 99,99 €, die Funktionen des ECS auf die App zu übertragen. Das ECS ist bei Auslieferung des Antriebs enthalten und ermöglicht es, manche Einstellungen vorzunehmen. So ist beispielsweise der Wechsel zwischen Indoor- und Outdoor-Modus oder die Aktivierung und Deaktivierung der Rückrollsperre standardmäßig über das ECS möglich. Doch was zunächst wie eine gute Idee klingt – schließlich sollen ja auch Personen ohne Smartphone (oder ohne Google-/Apple-Account) ihren Rollstuhl irgendwie einstellen können – entpuppt sich schnell als Farce, denn weitere, ebenfalls wichtige Funktionen sind nur über die App erreichbar, die ebenso wie das ECS über Bluetooth mit den Rädern verbunden werden muss.
ECS steht übrigens für »Ergonomic Control System«. Was an dem Ding ergonomisch sein soll, erschließt sich mir nicht.
Das Gesamtpaket für alle Funktionen, inklusive der Erhöhung der Höchstgeschwindigkeit, kostet in der M25-App 299 € (Link ist nur da, damit Lesende sich selbst über die In-App-Käufe vergewissern können). Da der Rolli mit Restkraftverstärker in Deutschland nicht als Kraftfahrzeug zählt, ähnlich wie bei Ebikes, dürfte es hierbei keine rechtlichen Schwierigkeiten geben, doch im Internet warnen behinderte Personen einander davor, die »Speed«-Funktion zu kaufen: Es gäbe Schwierigkeiten bei der Kostenübernahme später eventuell anfallender Reparaturen, die Krankenkassen würden nicht mehr bezahlen. Die Unzufriedenheit mit dem Angebot ist spürbar groß.
Ich habe bei meiner eigenen Krankenkasse nachgefragt und konnte das Gerücht nicht bestätigen. Im Telefonat wurde ich recht schnell mit einer Person verbunden, die schon von sich aus wusste, dass dieses Upgrade existiert und was es bewirkt. Mir wurde erklärt, dass die Krankenkasse bei Anschaffung eines Geräts nicht die Teile übernehme, die mit einer höheren Motorisierung zu tun haben; bei einem vollen Elektrorollstuhl müsse bei Wahl einer höheren Maximalgeschwindigkeit beispielsweise ein enstprechend größerer Akku selbst bezahlt werden. Auch Umbauten am Gerät müsse ich über die Krankenkasse vornehmen, der es rechtlich gesehen gehört. Doch da es sich um eine »reine Software-Sache« handelt, spräche nichts dagegen und es gäbe für die Kasse keinen Grund, spätere Reparaturkosten nicht zu übernehmen. Andere Krankenkassen entscheiden hier möglicherweise anders, doch vor diesem Hintergrund erscheint es weniger bemerkenswert, dass die App nicht auf mögliche Probleme hinweist.
Interessanter ist die Rechtslage bei Geräten, die den Rollstuhl ohne Beteiligung der eigenen Muskelkraft antreiben. Für jedes seiner Modelle hat Alber eine App, und für alle vier aktuellen Geräte bietet diese App eine Erhöhung der Maximalgeschwindigkeit an. Die Verfügbarkeit und die Preise der einzelnen Funktionen unterscheiden sich. So kostet in der smoov O10 App das Freischalten von 10 km/h Höchstgeschwindigkeit 129,99 €; weitere Zusatzfunktionen werden für 29,99 € und 39,99 € verkauft. Die App für den e-fix bietet keine In-App-Käufe an; eine Lizenz für ein »Mobility Plus Package« ist jedoch für sage und schreibe 349,99 € direkt über Alber beziehbar und bietet nicht nur eine Fernbedienungsfunktion, sondern auch eine Freischaltung auf 8 km/h. In der App für den e-pilot e15 kann ausschließlich eine Geschwindigkeitserhöhung auf satte 20 km/h erworben werden, und zwar für 249,99 €.
Wer so ein Fahrzeug in Deutschland außerhalb von Privatgelände fährt, ohne sich zuvor eine Betriebszulassung und eine Haftpflichtversicherung zu holen, verstößt gegen das Pflichtversicherungsgesetz und begeht damit keine Ordnungswidrigkeit, sondern eine Straftat. Bei einer Höchstgeschwindigkeit von mehr als 15 km/h ist außerdem noch ein Mofa-Führerschein erforderlich und es ist unwahrscheinlich, dass für einen Rollstuhl für so eine Geschwindigkeit eine Straßenzulassung erteilt wird.
Alber weist darauf immerhin hin. In der Beschreibung der App für den e-pilot, das Gerät mit der höchsten freischaltbaren Geschwindigkeit, heißt es etwa: »Im Geltungsbereich der Straßenverkehrsordnung (StVO) darf die Geschwindigkeit 6 km/h nicht überschreiten, 20 km/h Unterstützungsgeschwindigkeit sind nur auf privatem Gelände erlaubt. Bei Verwendung des e-pilot mit 10 oder 15 km/h im Geltungsbereich der StVO ist eine Einzelabnahme nach StVZO und Versicherung gemäß Pflichtversicherungsgesetz notwendig.« Es wird also eine Geschwindigkeit angeboten, von der sie von vorherein wissen, dass sie nicht zulässig ist.
Die Versicherungs- und Zulassungspflicht gilt bei einer »bauartbedingten« Höchstgeschwindigkeit von über 6 km/h. Elektronische Drosselung der Geschwindigkeit ist prinzipiell zulässig. Ob es immer noch zulässig ist, wenn die Höchstgeschwindigkeit über einen Button in einer App jederzeit über das erlaubte Maximum hinaus erhöht werden kann, konnte ich beim besten Willen nicht herausfinden.
Mir ist kein anderer Hersteller bekannt, der ähnlich agiert wie Alber. Zusatzfunktionen werden beim Kauf dazugebucht oder eben nicht; Einstellungen am Gerät, die über Benutzereinstellungen hinausgehen, werden von Händlern vorgenommen oder gar nicht. Rollstuhlantriebe, insbesondere Zuggeräte, gibt es durchaus mit höheren Geschwindigkeiten zu kaufen, die beim Kauf ausgewählt werden. Manche Händler bieten sogar an, gleich die Abnahme beim TÜV zu organisieren, wenn das Zuggerät zusammen mit einem neuen Rollstuhl gekauft wird. Ich habe mir etliche Rollstuhlantriebe von verschiedenen Herstellern angesehen und konnte für keinen davon eine App finden.
Allein für den Smartdrive, ein Antrieb, der hinten am Rollstuhl befestigt wird, gibt es eine App – ein Fitnesstracker. Was Alber als kostenpflichtige Zusatzfunktionen anbietet, ist bei alternativen Herstellern entweder funktionell integriert oder generell nicht möglich. Vielleicht liegt das daran, dass Alber dringend mehr Geld verdienen möchte, denn die GmbH gehört zur Invacare Corp, die 2023 in den USA Insolvenz angemeldet hat.
Um diese Einnahmestrategie umsetzen und Menschen das Angebot näherbringen zu können, hat Alber Produkte geschaffen, die einen Digitalzwang bzw. Smartphonezwang mit sich bringen. So kostet es in der M25-App zwar kein Geld, den Leistungsmodus des Antriebs einzustellen und sich auszusuchen, ob der Restkraftverstärker eher empfindlich oder unempfindlich reagieren und wie lange er nachlaufen soll, doch wer kein Smartphone besitzt und diese kostenlose Funktion der App nicht nutzen kann, muss dafür extra zurück ins Geschäft fahren. Wer unabhängigen Zugriff auf die Funktionen der täglich verwendeten Mobilitätshilfe haben will, muss notwendigerweise nicht nur das klobige ECS mit sich herumtragen, sondern zusätzlich noch die App installieren. (Und, wie schon erwähnt, kostet es 100 €, das ECS nicht mehr mitschleppen zu müssen.)
Indem die Funktionen durch In-App-Käufe erworben werden, werden sie einerseits an ein konkretes Antriebsgerät gebunden. Die Verifikation der Räder geschieht hierbei durch das Scannen eines QR-Codes, der vermutlich eine Funktion als Schlüssel hat. Gleichzeitig findet zwangsweise eine Verknüpfung mit einem bestimmten Google- oder Apple-Account statt; ohne einen solchen sind die Funktionen gar nicht erst erhältlich. Eine Weitergabe der teuren Sonderfunktionen zusammen mit dem Antriebsgerät ist nicht möglich, so wie das bei physikalischer Ausstattung der Fall wäre, sodass bei einem privaten Erwerb und Weiterverkauf des Gerätes die nachnutzende Person denselben Kauf erneut tätigen muss, um dieselben Funktionen zu nutzen.
Wer sich seinen Antrieb nicht selbst kaufen kann, sondern von der Krankenkasse »versorgt« wird, hat keine Wahlfreiheit. Wenn nur ein Gerät von Alber bezahlt wird, muss dieses Gerät auch angenommen werden. Alternativen kosten oft einige tausend Euro mehr, die Differenz müsste aus eigener Tasche bezahlt werden.
Bei meinen Austauschen mit Personen, die ein Alber-Gerät haben oder hatten oder hätten haben können, sind mir sehr viele negative Einstellungen begegnet. Die Apps sind nicht beliebt, die Preise für die Sonderfunktionen werden als ausbeuterisch wahrgenommen; auch das Thema mit den angeblich später nicht übernommenen Reparaturkosten wurde immer wieder erwähnt.
Dabei tut die Firma Alber nichts, was man ihr ankreiden könnte. Die Geschwindigkeitserhöhung ist völlig legal, und wo zusätzliche Schritte nötig sind, um sie legal zu machen, wird angemessen darauf hingewiesen. Auch bietet sie die Upgrades als einmalige Lizenzkäufe an, statt sie über ein ausbeuterisches Abo-Modell zu vertreiben. Die Upgrades sind eine legitime und niedrigschwellige Methode, einen Antrieb, der vollständig von der Krankenkasse übernommen wurde, mit weiteren Funktionen auszustatten.
Es bleibt, abgesehen vom allgemeinen Unwohlsein mit dem Smartphone- und Accountzwang, der Frust über die horrenden Preise für die einzelnen Funktionen. Vielleicht wirkt es für Menschen oberhalb der Armutsgrenze weniger schlimm: Hundert oder dreihundert Euro, um rennen zu können, das ist viel, aber das kann man schon einmal bezahlen, um einen grundlegenden Freiheitswunsch zu erfüllen und hilfreiche Extras zu erhalten.
Wenn man dieses Geld jedoch nicht hat und auch nicht auftreiben kann, fühlt es sich an wie eine erniedrigende Schikane. Und behinderte Menschen haben oft sehr wenig Geld: Viele können nicht arbeiten und erhalten deswegen eine niedrige Rente oder Grundsicherung, andere könnten und würden gerne arbeiten, kriegen aber mit ihrer Behinderung keinen Job und hängen im Bürgergeld fest, wieder andere halten sich irgendwie mit ein paar Stunden Arbeit gerade weit genug über Wasser, um nicht in den Bezug abzurutschen. Dazu kommen viele Zusatzkosten, die Menschen ohne Behinderung schlichtweg nicht haben.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sich negative Gefühle einstellen, wenn behinderten Menschen nicht die gleichen Freiheiten eingestanden und zugänglich gemacht werden wie nichtbehinderten Menschen. Ja, natürlich gibt es ein größeres Unfallrisiko, wenn man sich ein paar km/h schneller bewegen kann. Aber Personen mit gesunden Beinen müssen auch nicht standardmäßig mit Fußfesseln herumlaufen, um ihre Maximalgeschwindigkeit zu drosseln.
Themen: behinderung, qualitätstext, rollstuhl, digital
Rollstuhlkonfiguration
Die Konfiguration manueller Aktivrollstühle bekommt einen eigenen Beitrag, weil es sowohl komplex ist als auch sehr, sehr wichtig. Zu oft habe ich mitbekommen, dass Personen völlig ungeeignet konfigurierte Rollstühle bekommen haben, mit denen sie nicht die erhoffte Selbständigkeit erreichen konnten. Mir selbst ist das auch schon passiert. Leider ist es nicht möglich, sich auf »die Fachleute« zu verlassen, sofern diese Fachleute nicht selbst Rollstuhl benutzen oder intensiv mit Menschen zusammenarbeiten, die dies tun. Anekdotisch arbeiten viele Sanitätshäuser mit Werbebroschüren und schlechten Empfehlungen, die nichts mit dem Alltag zu tun haben. Sie wissen nicht, worauf es ankommt. Bezahlt werden sie so oder so, egal ob du mit dem Ergebnis leben kannst oder nicht. Wenn du dir unsicher bist, erstelle eine Konfiguration und bespreche sie mit einer rollstuhlnutzenden Person deines Vertrauens, bevor du die Bestellung endgültig in Auftrag gibst.
Besonders, wenn du fett bist (politische Bezeichnung) oder wenn du sehr geschwächt bist, werden Sanitätshäuser dir eher eine Konfiguration empfehlen, die weniger gut für die aktive Benutzung geeignet ist, obwohl ausgerechnet dann der richtige Aktivrollstuhl den größten Unterschied macht.
Die Maße
Sitzbreite, Sitztiefe, Beinlänge:
Diese Maße müssen den eigenen Körpermaßen entsprechen.
Die Sitzbreite sollte so sein, dass du mit Kleidung (z.B. dicker Wintermantel) noch zwischen die Räder passt. Üblicherweise haben Aktivrollstühle einen Speichenschutz auf der Innenseite, sodass deine Kleidung nicht in die Räder geraten kann. Wenn der Rolli ein bisschen zu eng ist, sitzt du dazwischen relativ fest, was unter Umständen auf Dauer unbequem werden kann, aber für manche Menschen aufgrund der stabilisierenden Wirkung angenehm ist. Wenn der Sitz jedoch deutlich zu eng ist, kann dieser Speichenschutz sich verbiegen. Ihn rauszunehmen, hilft leider nicht, da du dann stattdessen mit der Kleidung an den Speichen schleifst.
Wenn der Rollstuhl hingegen zu breit für dich ist, wirst du Schwierigkeiten haben, die Räder richtig zu greifen, und die Schultern werden unnötig stark belastet. Ein paar Zentimeter Luft sind schon okay, aber viel mehr sollte es nicht sein, besonders wenn du schmale Schultern hast.
Die Sitztiefe ist die Länge des Sitzes von Rückenlehne bis Vorderkante, also praktisch die Länge deiner Oberschenkel plus Gesäß. Wenn der Sitz zu lang ist, kann das zu Druckstellen und Schmerzen an den Kniekehlen fühlen. Ein (möglichst festes) Rückenkissen kann Abhilfe schaffen, wird allerdings den Schwerpunkt entsprechend nach vorne verlagern, was durch Einstellung ausgeglichen werden muss. Wenn der Rollstuhl keinen einstellbaren Schwerpunkt hat, muss der Sitz wirklich passen. Ein zu kurzer Sitz führt dazu, dass deine Knie nach vorne rausstehen und du die Beine stärker anwinkeln musst, um die Füße auf die Fußstütze stellen zu können. Das kann unbequem werden.
Die Beinlänge ist die Länge deiner Unterschenkel plus Fuß, also der Abstand von Fußstütze zu Sitz. Wenn dieser Abstand zu groß ist, führt auch das zu Druckstellen und Schmerzen an den Kniekehlen; wenn er zu klein ist, sitzt du mehr auf deinem Hintern und das kann auf Dauer dort zu Schmerzen führen. Die Fußstütze ist in der Regel einstellbar. Ich musste einmal bei einem Kleinanzeigen-Rollstuhl ein paar zusätzliche Löcher bohren, damit ich sie kurz genug machen konnte, aber normalerweise sind solche Änderungen unproblematisch.
Dieser faltbare Aktivrollstuhl besitzt Transfergriffe, die nicht mit den Armstützen eines Transportrollstuhls zu verwechseln sind. Foto: Arnold C, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
Höhe der Rückenlehne:
Die Rückenlehne darf bei einem Aktivrollstuhl nicht zu hoch sein, da du beim Antreiben Bewegungsfreiheit in den Schultern brauchst. Die Rückenlehne muss daher mindestens ca. 2 cm unterhalb der Schulterblätter enden. Wenn sie zu hoch ist, kann ein festes Sitzkissen helfen, um dich weiter nach oben zu bringen. Wenn die Rückenlehne zu niedrig ist, ist das eher unproblematisch. Prinzipiell heißt eine niedrigere Rückenlehne einfach nur mehr Bewegungsfreiheit. Viele Rollifahrer*innen benutzen eine minimalistische Lehne, die wenig mehr ist als ein Anschlag für den Hintern, damit sie nicht hinten runterrutschen können. Besonders, wenn du ohne größere Schwierigkeiten auf einen »richtigen« Sitz umziehen kannst, wenn du dich entspannen willst, ist das völlig okay, auch wenn es natürlich mehr Arbeit für die Rumpfmuskulatur ist, dich aktiv aufrecht zu halten.
An diesem sportlichen Starrrahmen-Rollstuhl ist nur eine minimalistische Rückenlehne vorhanden. Foto: Mikhail Nilov via Pexels
Sitzwinkel, Winkel der Rückenlehne:
Prinzipiell werden Rollstühle so eingestellt, dass der Sitz an der Hinterkante einen kürzeren Abstand zum Boden hat als an der Vorderkante. Der Sitz ist also praktisch ein paar Grad nach hinten gekippt. Hierin unterscheiden (Aktiv)rollstühle sich drastisch von stationären Stühlen, deren Sitzplatte meist parallel zum Boden ist. Dieser Sitzwinkel hilft dir einerseits, stabil im Rollstuhl zu sitzen, und ist andererseits super praktisch, wenn du Gegenstände auf dem Schoß transportieren willst, ohne dass sie ständig runterrutschen. Bei einstellbaren Rollstuhlmodellen ist der Sitzwinkel prinzipiell veränderbar.
Die Rückenlehne kann dann so konfiguriert werden, dass sie überhaupt nicht oder leicht nach hinten zeigt. Bei manchen Rollstühlen ist der Winkel zwischen sitz und Rückenlehne einstellbar, bei anderen ist er fix.
An diesem Starrrahmen-Rolli sieht man gut, dass die Sitzfläche nicht horizontal ist. Eingezeichnet ist der Winkel zwischen Rückenlehne und Sitz (1) sowie der Sitzwinkel (2). Foto: Tim99~commonswiki, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Lage des Schwerpunkts:
Vom Prinzip her soll möglichst viel Gewicht auf den großen Haupträdern liegen und möglichst wenig auf den kleinen Vorderrädern. Bei einstellbaren Rollstühlen kann dieser Schwerpunkt eingestellt werden, meist durch Verschieben der Haupträder.
Auf unebenem Grund muss man oft die Vorderräder anheben und auf den Haupträdern balancieren, um durchzukommen. Foto: Nadiia Doloh via Pexels
Wenn der Schwerpunkt sehr weit hinten liegt, spricht man von einer »aktiven« Konfiguration. Dabei kippt der Rollstuhl sehr leicht nach hinten, ist also etwas instabiler. Wer keinen Kippschutz hat, kann sich dadurch leicht aufs Kreuz legen. Gefährlich ist das (abgesehen von gesundheitlichen Risikofaktoren, die Stürze gefährlicher machen) nur, wenn es am Hang oder auf einer Rampe passiert, da der Abstand zum Boden dann entsprechend größer ist. Auf der Ebene ist mir selbst das Dutzende Male passiert; es sieht dramatischer aus, als es ist. (Auf einer steilen Rampe kann es übrigens auch sein, dass der Kippschutz den Sturz nicht verhindert. Deshalb ist es ratsam, solche Steigungen rückwärts zu erklimmen.) Der Vorteil einer aktiven Einstellung ist einerseits, dass der Rollwiderstand seinen Minimalwert erreicht und du so mit wenig Kraft am weitesten kommst. Andererseits wird es dadurch leichter, die Vorderräder anzuheben, um Kanten und Schwellen zu überwinden oder sich auf unebenem Boden balancierend fortzubewegen.
Für den ersten Rollstuhl ist es empfehlenswert, ein Modell zu wählen, bei dem der Schwerpunkt eingestellt werden kann. Wenn du genau weißt, wie der Rolli eingestellt sein muss, und was für dich am besten funktioniert, kannst du auch einen mit fixer Einstellung wählen.
Verstellbarkeit:
Wie schon erwähnt, gibt es einstellbare Rollstühle und nicht einstellbare. Bei einstellbaren Modellen ist es üblicherweise die Radaufnahme, deren Position vertikal (hoch/runter) und horizontal (vor/zurück) verschoben werden kann. Dadurch sind Sitzwinkel und Lage des Schwerpunkts einstellbar. Das macht es leichter, herauszufinden, was für dich gut funktioniert, auf Veränderungen deines Gesundheitszustands zu reagieren, oder einen Second-Hand-Rolli an deinen Körper anzupassen. Diese Modelle sind allerdings oft etwas schwerer und befinden sich preislich und qualitativ oft eher am unteren Ende.
Hin und wieder wurde ich mit der Behauptung konfrontiert, es gäbe nur Faltrollstühle in einstellbarer Ausführung. Das ist falsch. Starrrahmen-Rollstühle mit einstellbarer Radaufnahme gibt es von diversen Herstellern und sie vereinen die Vorteile eines Starrrahmens mit der Einstiegsfreundlichkeit eines einstellbaren Rollstuhls.
Dieser Starrrahmenrollstuhl ist einstellbar, was man an der Radaufhängung sieht. An dieser sind Bohrungen vorhanden, um das Rad nach oben und unten zu versetzen, und am Rahmen Bohrungen, um die gesamte Radaufhängung versetzen zu können. Die Kleiderschutzbleche sitzen zu weit oben für die Radposition. Foto: Mike Bates, Public domain, via Wikimedia Commons
Grundlegende Form
Starrrahmen oder Faltrolli:
Die grundlegendste Entscheidung bei der Konfiguration eines Aktivrollstuhls ist die Entscheidung für einen Rahmentyp. Ein Faltrollstuhl ist, wie der Name verrät, faltbar, während ein Starrahmenrollstuhl nicht faltbar ist. In manchen Fällen kann bei einem Starrrahmenrollstuhl die Rückenlehne heruntergeklappt werden, um ihn z.B. im Auto leichter transportieren zu können.
Oft werden Faltrollstühle emfohlen, da sie angeblich besser in ein Auto passen würden. Das kann ich so nicht unterschreiben. Durch die X-Streben sind sie auch ohne Räder oft noch sehr hoch, besonders die günstigen Einstiegsmodelle, und erfordern einen hohen Kofferraum, um überhaupt reinzupassen. Im Gegensatz dazu kann man bei einem Starrrahmenrolli einfach die Räder abklicken, den Rahmen auf einen freien Sitz stellen, und die Räder obendrauf legen oder in den Fußraum davor. Das passt in das winzigste Auto, sofern noch ein Platz frei ist, was bei einem Faltrollstuhl einfach nicht der Fall ist. Allerdings lässt sich ein Faltrolli eher innerhalb der Wohnung in eine Nische quetschen – das geht mit einem Starrrahmen natürlich nicht. Außerdem kommt man mit einem Starrrahmen durch eine zu enge Tür schlicht und einfach nicht durch, während man einen Faltrollstuhl einfach zusammenklappen und durchschieben kann.
Durch die Konstruktion ist es nicht ohne Weiteres möglich, einen Faltrollstuhl mit einer festen Sitzplatte oder Rückenlehne auszustatten. Es werden die »Zeltplanen« aus Textil verwendet. Das heißt auch, dass feste ergonomische Sitze oder Rückenlehnen mit diesen Modellen nicht kompatibel sind. Außerdem sind Faltrollstühle zwangsweise schwerer, da mehr gewichtiges Gestänge vorhanden ist. Das macht vor allem beim Hochheben einen Unterschied, beim Fahren weniger.
Fußstütze:
Es gibt Fußstützen in geteilter Ausführung und durchgehende Fußstützen. Geteilte Fußstützen, wie man sie vom Transportrollstuhl kennt, sind für die aktive Benutzung von deutlichem Nachteil: Sie sind schwerer, wodurch der Schwerpunkt sich weiter nach vorne verlagert; außerdem sind sie sehr sperrig, was das Manövrieren in engen Räumen erschwert, und sie sind sehr instabil. Mir wurden sie einmal mit dem Argument verkauft, dass es mit diesen Fußstützen leichter wäre, aufzustehen, aber das kann ich nicht unterschreiben. Auf mit einer durchgehenden Fußstütze kommen die Füße noch auf den Boden, und für Transfers benutzt man die Arme.
Durchgehende Fußstützen sind auch an Faltrollstühlen möglich.
Von meinem ersten Rollstuhl bleiben mir nur noch Selfies. Ich hab das Teil gehasst, und diese furchtbare geteilte Fußstütze wie bei einem Transportrollstuhl war der Hauptgrund.
Antriebsweise:
Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, einen Rollstuhl anzutreiben: Entweder die Räder werden mit den Händen angetrieben, oder man zieht sich mit den Beinen vorwärts. Mit letzterer Methode habe ich keine eigene Erfahrung, allerdings habe ich schon einmal einer Person weitergeholfen, die einen Rollstuhl »zum mit den Füßen Antreiben« bekommen hat und damit überhaupt nicht zurechtkam. Deswegen möchte ich darauf hinweisen, dass praktisch jeder manuelle Rollstuhl sich ein paar Meter mit den Füßen schubsen und mit den Schuhsohlen abbremsen lässt, auch wenn die Fußstütze starr ist und nicht weggeklappt werden kann. Ein niedriger Rollstuhl ohne Füßstütze macht nur Sinn, wenn du dich ausschließlich mit den Füßen antreiben möchtest und in Kauf nimmst, dass du damit entsprechend langsam bist und Stufen, Schwellen, Steigungen, unebenes Gelände etc. nicht überwinden kannst. Es kostet viel Kraft und ist nicht so gut, wie es sich anhört.
Dieser Aktivrollstuhl passt der Person darin super, und wie man sieht, hat sie trotzdem keine Schwierigkeiten, die Füße auf den Boden zu setzen. Foto: Polina Tankilevitch via Pexels
Sitz
Zeltplane oder Brett?
Rückenlehne und Sitz können entweder aus einem starren Brett bestehen oder aus einem Textil. Die Textilausführung der Rückenlehne kenne ich bei Aktivrollstühlen mit einstellbaren Klettverschlüssen, die versprechen, die Spannung und Form nach Belieben anpassen zu können.
Die »Zeltplane« wird immer, egal wie fest die Klettverschlüsse gespannt werden, in der Mitte durchhängen, und entweder besitzt das verwendete Sitzkissen / Rückenkissen genug Stabilität, um das auszugleichen, oder es wird sehr schnell sehr ungemütlich und schmerzhaft. Wenn sowohl Lehne als auch Sitz aus Textil bestehen, führt dieses Durchhängen erfahrungsgemäß dazu, dass der Hintern hinten raushängt, wenn das Sitzkissen nicht hoch genug ist.
Dieser Starrrahmenrollstuhl besitzt ein starres Sitzbrett, das nicht nachgibt. Foto: --Xocolatl, Public domain, via Wikimedia Commons
Stattdessen ein Brett zu wählen, klingt zunächst unbequem, schließlich sind Bretter hart. Das Textil ist allerdings auch nicht ergonomisch geformt und bietet außerdem nicht genug Stützwirkung. Für Weichheit und Ergonomie sind die verwendeten Polster zuständig; das Material des Sitzes muss diesen nur eine ausreichend stabile Unterlage bieten, um ihre Wirkung tun zu können.
An diesem faltbaren Aktivrolli sieht man gut, wie die »Zeltplane« durchhängt (der Sichtbarkeit zuliebe gelb markiert). Foto: Arnold C, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
Sitzkissen:
Sitzkissen kommen in vielen verschiedenen Formen von einem einfachen Schaumstoffkissen bis hin zu individuell angepassten ergonomischen Hochleistungskissen. Nimm dir das Beste, was du kriegen kannst.
Rückenkissen:
Es ist durchaus möglich, einen Rollstuhl ohne Rückenkissen zu benutzen. Ich hatte nie eins drauf, sowohl auf meinem ersten Rollstuhl mit »Zeltplane« am Rücken, als auch auf meinem Ventus mit dem Brett im Rücken. Unbequem fand ich es nie. Allerdings gibt es ergonomische Rückenlehnen, die die Wirbelsäule besser stützen. Auch hier wieder: Du wirst es vermutlich nicht bereuhen, wenn du eine bessere Rückenlehne nimmst als du brauchst, aber andersrum wirst du dich sehr ärgern.
Dieser Rollstuhl besitzt eine ergonomische Rückenlehne sowie ein ergonomisches Sitzkissen. Foto: Memasa, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Räder
Radsturz:
Als Radsturz wird der Winkel bezeichnet, mit dem die Räder nach innen gekippt sind. Der unterste Punkt des Rades ist also weiter außen als der oberste Punkt. Die Hauptfunktion des Radsturzes ist die Stabilisation des Rollstuhls beim Kurvenfahren mit hohen Geschwindigkeiten, um ein seitliches Umkippen zu verhindern. Ein Einfluss auf den Rollwiderstand ist nicht messbar. Bei Sportrollstühlen wird entsprechend oft ein sehr großer Radsturz benutzt.
Sportrollstühle haben oft einen sehr großen Radsturz. Foto: Solehuddin Din via Pexels
Im Alltag ist ein (kleinerer, meist bis max. 3°) Radsturz teilweise sinnvoll. Das Gerät wird durch ihn breiter und kommt nicht mehr durch enge Gänge. Allerdings verringert er auch seitliches Wegrollen auf Schrägen (wie stark Bürgersteige sich zur Straße hin neigen, merkt man erst auf dem Rollstuhl so richtig) und besonders bei sehr schmalen Sitzbreiten ist ein deutlicher Radsturz emfehlenswert, da die Wahrscheinlichkeit für seitliches Umkippen z.B. während einer ruckeligen Busfahrt oder auf seitlich geneigten Gehsteigen verringert wird.
Größe der Vorderräder:
Prinzipiell sollen die Vorderräder möglichst klein sein. Intuitiv würde man sich vorstellen, dass kleinere Räder es schwieriger machen, über Kanten und Schwellen zu kommen. Das kann ich allerdings aus Erfahrung nicht bestätigen. Bei meinem ersten Rollstuhl hatte ich sehr große Räder dran, und als ich den zweiten mit deutlich kleineren Rädern bekam, hatte ich nicht mehr Probleme mit Kanten, sondern weniger, weil es leichter war, die Vorderräder anzuheben. Auch mit den größeren Vorderrädern musste ich nämlich bei jeder noch so kleinen Schwelle die Räder anheben. Es hilft einfach nichts.
Außerdem ist ein Rollstuhl mit kleineren Vorderrädern wendiger. Der Rollwiderstand wird durch größere Vorderräder bei üblichen Gewichtsverteilungen nicht messbar verringert.
Greifringe:
Greifringe gibt es ebenfalls in verschiedenen Varianten, um das Antreiben und Bremsen zu erleichtern. So ist es auch Menschen mit eingeschränkter Handfunktion oder begrenzter Kraft in den Händen möglich, einen manuellen Rollstuhl zu verwenden.
Die Greifringe können in zwei Positionen montiert werden, entweder ein bisschen weiter weg vom Rad oder ein bisschen näher dran. Die Position mit mehr Abstand ermöglicht es, mit nach unten gerichteter Handfläche zu greifen.
Wenn ein ergonomischer Greifreifen nicht bewilligt wird oder aus anderen Gründen nicht vorhanden ist, kann man sich auch ein Paar Silikon-Überzüge kaufen, diese kosten ca. 40-60 € und bieten exzellenten Grip und meiner Meinung nach auch sehr guten Griffkomfort; allerdings sind sie ohne Handschuhe fast nicht zu benutzen, weil sie die Haut erbarmungslos aufscheuern. Ich habe mir auch schon ein paarmal Tennisschläger-Griffband drumgewickelt, das hält nicht besonders lange, aber es sieht natürlich je nach Farbkombination affengeil aus. Fahrradlenkerband würde sicher auch funktionieren und unter Umständen etwas (nicht viel) länger halten, ist aber auch deutlich teurer.
Auf diesem alten Selfie von mir sieht man gut, dass meine Greifreifen auf der weiteren Position montiert sind. Das Schwarze an den Greifreifen sind die Silikon-Überzüge. Ich benutze immer einfach die billigsten Arbeitshandschuhe, die ich finden kann; die Reibung scheuert jeden noch so teuren Handschuh in Nullkommanichts durch.
Zubehör
Schiebegriffe:
Schiebegriffe gibt es in fest, einstellbar, klappbar, und ohne. Wer sich hin und wieder schieben lassen möchte, ist meiner Meinung nach mit einstellbaren Griffen gut beraten, da dann die schiebende Person eine einigermaßen benutzbare Griffhöhe einstellen kann. Von klappbaren Griffen war ich nicht überzeugt; da ich klein bin und meine Rückenlehne niedrig, sind die Griffe am Ende weit unten und für die meisten Leute, die mich schieben sollen, einfach viel zu tief. Außerdem halten eingeklappte Griffe erfahrungsgemäß niemanden davon ab, ohne Zustimmung anzupacken. Sie drücken dir dann halt gegen den Rücken.
Ganz ohne Griffe macht dann Sinn, wenn du weißt, dass du dich unter keinen Umständen jemals schieben lassen möchtest.
Dieser Kinderrollstuhl hat extra lange Schiebegriffe. Wenn die Griffe sonst sehr niedrig wären, macht es Sinn, verstellbare Griffe einzubauen, die bei Bedarf ausgefahren werden können und ansonsten nicht im Weg sind. Auch zu sehen: Die Kippstütze hinten am Rollstuhl. Foto: Meruyert Gonullu via Pexels
Transfergriffe:
Bei vielen Modellen gibt es die Option, seitlich kleine Transfergriffe zu haben. Das ist nett für Leute, die sich abstützen müssen, wenn sie aus dem Rolli rauswollen. Die Griffe sind sehr klein und stören bei aktiver Benutzung nicht.
Kippschutz:
Kippschutz wird durch Stangen erreicht, die hinten am Rollstuhl nach unten ragen. Normalerweise haben sie kleine Rädchen dran, sodass man in der komplett nach hinten gekippten Position noch rollt und so Hindernisse überwinden kann.
Ein Kippschutz ist für viele Menschen sinnvoll, aber nicht zwingend erforderlich. Ich finde die Dinger am rein manuellen Rolli grausig, persönlich leg ich mich lieber alle paar Wochen mal aus Ungeschicktheit aufs Kreuz, statt immer diese Teile im Weg zu haben. Aber als mein Rollstuhl einen Hilfsantrieb bekam, musste ich Kippstützen einbauen lassen, und das war ganz besonders am Anfang auch wirklich nötig, sonst wäre ich alle 30 Sekunden umgekippt.
Allerdings hat ein Kippschutz technische Grenzen: Wenn man eine allzu steile Steigung hinauffährt, kann der Kippschutz den Sturz nicht abfangen. Das ist sehr gefährlich, da hier auch der Abstand zum Boden deutlich größer ist und keine Chance hat, durch Muskelreflexe den Aufschlag des Kopfes auf dem Boden zu verhindern. Deswegen sollten prinzipiell nur sanfte Steigungen mit dem Rollstuhl vorwärts erklommen werden, und alles andere rückwärts, sodass die Füße ins Tal zeigen. Bei der Abfahrt zeigen sie sowieso ins Tal, da ist alles gut.
Wer viel wert auf eine aktive Nutzungsweise legt, sollte sich überlegen, die Kippstützen wegzulassen. Ohne Kippschutz kann man weiter nach hinten kippen, um Hindernisse zu überwinden, hat es beim Transport etwas leichter, und kann Spezialtechniken wie z.B. Treppensteigen anwenden.
Mit der richtigen Technik und viel Kraft im Oberkörper kann man auch im Rollstuhl Treppensteigen. Foto: Nadiia Doloh via Pexels
Themen: behinderung, mobilitätshilfen, infodump
Aktivrollstuhl
Dieser Artikel gehört zur Beitragsreihe zum Thema Mobilitätshilfen. Eine Übersicht und Links zu den anderen Artikeln gibt es im Einleitungsartikel: Ich kann nicht mehr gut laufen, und jetzt?
Heute geht es um Aktivrollstühle. Diese Rollstühle sind, im Gegensatz zum Transportrollstuhl, für aktive und selbständige Benutzung konstruiert. Wenn du nicht weißt, was der Unterschied ist, lies dir zuerst den Artikel über Transportrollstühle durch. Anders als Elektrorollstühle werden Aktivrollstühle manuell, also mit eigener Muskelkraft angetrieben, auch wenn immer mehr Menschen einen Restkraftverstärker nutzen. Das ist ein Hilfsmotor, der ähnlich wie bei einem Ebike die Muskelkraft unterstützt.
Der Autor in seinem schnieken Ottobock Ventus, 2022.
Wenn es darum geht, ob du „einen Rollstuhl“ brauchst, würde ich immer von einem Aktivrollstuhl ausgehen, da ein Transportrollstuhl für unabhängige Nutzung im Alltag ungeeignet ist. Hier werde ich das Für und Wider der Rollstuhlnutzung allgemein erklären und beschreiben, wie man am besten an so einen Aktivrollstuhl drankommt – da es individuelle Maßanfertigungen sind, kosten selbst die günstigsten Modelle neu über 2000 € und es ist sehr schwer, ein passendes Gebrauchtgerät zu finden.
Die Konfiguration eines Aktivrollstuhls ist so komplex, dass ich diesen Teil in einen eigenen Artikel ausgelagert habe. Wenn du dich darauf vorbereitest, dir einen Rolli zu besorgen, kann ich dir nur nahelegen, dich gründlich mit diesem Thema zu beschäftigen, denn es ist sehr leicht, sich einen schmerzhaften und nahezu unbenutzbaren Rolli zusammenzustellen, und die Leute, die uns beraten sollen, machen dies erfahrungsgemäß nicht immer gut.
Vorteile eines manuellen Rollstuhls:
- Vollständige Entlastung der Beine. Allenfalls beim Transferieren ist es vorteilhaft, die Beine nutzen zu können, wenn auch nicht erforderlich.
- Elimination von Sturzgefahr. Mit dem Rolli zu stürzen, ist in bestimmten Situationen zwar möglich, aber diese können vermieden werden.
- Deutliche Energieeinsparung auf ebener Strecke und bergab, da du dich nicht mehr auf den Beinen halten musst.
- Bei richtiger Konfiguration Stützung der Wirbelsäule.
- Transportabel: Im Gegensatz zu elektrischen Rollstühlen sind manuelle Rollis sehr gut transportierbar. Sie passen in die meisten Autos und lassen sich von Helfenden auch mal eine Treppe hochtragen.
- Insbesondere Faltrollstühle lassen sich auch sehr platzsparend vertrauen und können so beispielsweise im Treppenhaus abgestellt werden.
- Niemand wird in Frage stellen, warum du in verschiedenen Situationen Hilfe brauchst.
- Du kannst relativ gut Krempel transportieren. Eine große Tasche hinten an die Rückenlehne, eine zwischen die Füße, eine auf den Schoß, und der Einkauf ist untergebracht. Tablett auf den Schoß für Speisen und Getränke geht auch gut.
- Anders als bei einem vollelektrischen Rollstuhl kriegst du beim manuellen Rolli, auch mit Restkraftverstärker, immer noch ein bisschen Bewegung ab.
- Katzen lieben den mobilen Schoß.
Ein manueller Rollstuhl könnte das richtige Hilfsmittel für dich sein:
- Wenn du beide Beine entlasten willst oder Sturzgefahr vermeiden willst.
- Wenn du unter Erschöpfung leidest und mit geringer körperlicher Belastung von A nach B kommen willst, aber aus welchen Gründen auch immer keinen elektrischen Rollstuhl benutzen willst oder kannst.
- Wenn du die Möglichkeit haben willst, ab und zu auch mal noch zu laufen. Einen kleinen Rolli kann man gut schieben und sogar das Gepäck drauf liegen lassen. (Man kann sich allerdings nicht darauf abstützen.)
- Wenn du dich auch in Innenräumen sitzend fortbewegen möchtest.
Ein manueller Rollstuhl ist wahrscheinlich nicht das Richtige für dich:
- Wenn du eine Form von Gleichgewichtsproblem hast, bei dem es dir nicht möglich ist, den Rollstuhl kontrolliert nach hinten zu kippen, um Kanten zu überwinden.
- Wenn du starke Einschränkungen in den Händen hast, durch die ein Antreiben auch mit speziell angepassten Greifringen nicht möglich ist.
- Wenn du unter so starker Erschöpfung leidest, dass selbst das Antreiben des Rollstuhls dich überlastet. Dies ist um so anstrengender, je mehr Steigungen und unbefestigtes Gelände du mit dem Rolli überwinden musst.
- Wenn du regelmäßig Treppen überwinden musst und keine Möglichkeit findest, den Rolli entweder stehenzulassen oder mitzunehmen.
Worauf du bei Anschaffung eines manuellen Rollstuhls achten solltest:
- Siehe Rollstuhl-Konfiguration
Worauf du bei Benutzung eines manuellen Rollstuhls achten solltest:
- So viel, dass es spezielle Kurse gibt, bei der einem alles beigebracht wird. Manövrieren in engen Räumen, Anheben der Vorderräder, Transferieren… Professor Youtube (sofern man auf die Videos noch zugreifen kann) hilft auch sehr viel weiter.
- Der Sicherheit zuliebe: Starke Steigungen (z.B. zu steile Rampen) sind gefährlich, da du beim Hinauffahren nach hinten umkippen kannst. Auch ein Kippschutz kann je nach Steigung nicht mehr helfen. Solche Steigungen sind also zu vermeiden oder rückwärts zu erklimmen.
- Vorsicht auch bei Nässe und bergab. In dieser Situation kannst du an blanken Greifringen nicht mehr bremsen, sie sind zu glatt. Eine „Notbremsung“ mit dem Rollstuhl machst du, indem du die Daumen direkt auf die Reifen drückst. Ja, du wirst dir die Haut aufreißen, aber es ist besser als ungebremst quer über die Hauptstraße zu schlittern.
Wo du einen Rollstuhl herbekommst:
- Wenn du nicht gerade mehrere tausend Euro rumliegen hast, musst du dir ein Rezept dafür besorgen und dich dann mit der Krankenkasse und dem Medizinischen Dienst herumschlagen. Es ist ein Elend.
- Ja, es gibt gebrauchte Aktivrollstühle. Es gibt die ein oder andere Internetseite, wo sie angeboten werden, auch auf Kleinanzeigen findet man manchmal einen. Allerdings ist es wichtig, dass der Rolli auch passt (siehe Konfiguration). Ich gehe davon aus, dass der überwiegende Teil aller Rollstühle über die Krankenkassen gekauft wird und somit am Ende der Nutzungszeit zurückgegeben werden muss, was den Gebrauchtmarkt entsprechend einschränkt.
Themen: behinderung, mobilitätshilfen, infodump
Transportrollstuhl
Dieser Artikel gehört zur Beitragsreihe über Mobilitätshilfen. Eine Übersicht findet ihr im Einstiegsartikel Ich kann nicht mehr gut laufen, und jetzt?
Heute stelle ich euch den Transportrollstuhl vor. Das ist diejenige Bauweise von Rollstuhl, die man als den „Standard-Rollstuhl“ kennt. Im Gegensatz zum Aktivrollstuhl, den ich im nächsten Artikel näher beschreibe, ist der Transportrollstuhl für aktive Benutzung nicht oder nur eingeschränkt geeignet. Menschen ohne Behinderung scheinen dies in der Regel nicht zu wissen: Wenn man nach „Rollstuhl“ sucht, findet man oft zuerst den Transportrollstuhl. Viele Grafiken, die „Rollstuhlfahrer“ symbolisieren sollen, zeigen einen Transportrollstuhl. Viele Filme und Serien mit einem rollifahrenden Charakter verwenden diese Art von Rollstuhl. News-Artikel zum Thema Behinderung werden oft mit Fotos von einem Transportrolli bebildert, die ungefähr so aussehen:
Aus unklaren Gründen werden diese Rollstühle gerne leer fotografiert. Foto: Patrick De Boeck via Pexels.
Ein Transportrollstuhl ist keine Maßanfertigung und nicht auf aktive Benutzung optimiert, sondern aufs Bepflegtwerden. In Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen usw. sind oft einige solche Rollstühle vorhanden. Manche davon haben große Räder mit Greifringen, die eingeschränkt selbst bedient werden können; es gibt aber auch Modelle mit vier kleinen Rädern, die gar nicht selbst angetrieben werden können. Da diese Rollstühle auf möglichst viele Menschen passen sollen, sind sie oft sehr groß dimensioniert, was dazu führt, dass schmale und kleine Personen darin geradezu untergehen.
Transportrollstühle haben eine hohe Rückenlehne, was die zum Antreiben nötige Bewegung einschränkt. Die Armlehnen sollen verhindern, dass die Person im Rollstuhl versehentlich mit den Händen in die Räder gerät; dadurch kommt sie aber auch dann nicht dran, wenn sie die Räder antreiben möchte. Die geteilte Fußstütze ist sehr breit und schwer; sie kann zur Seite gedreht werden, um assistiertes Aufstehen zu erleichtern.
Der Schwerpunkt eines Transportrollstuhls liegt sehr weit vorne. Das bedeutet, dass es fast unmöglich ist, den Rollstuhl nach hinten zum Umkippen zu bringen (und die üblicherweise angebrachten Kippstützen beseitigen die Gefahr vollständig). Allerdings wird es hierdurch auch sehr schwer, den Rollstuhl anzutreiben, da zu viel Gewicht auf den kleinen Vorderrädern liegt, die erheblich mehr Reibungswiderstand erzeugen als die großen Haupträder. Außerdem wird es durch die Schwerpunktlage sehr schwer, den Rollstuhl mit einem beherzten Anschubsen an den Greifringen vorne anzuheben – dies ist die Standardtechnik, um einzelne Stufen und Kanten wie Bordsteine oder hohe Türschwellen zu überwinden.
Transportrollstühle sind meistens faltbar. Allerdings sind sie auch im gefalteten Zustand so hoch und sperrig, dass sie nur in einem großen Kofferraum transportiert werden können.
Der Transportrollstuhl ist so groß, dass das klein gebaute Model die Sache mit den Fußstützen längst aufgegeben hat. Foto: Ivan Samkov via Pexels.
Insgesamt ist der Transportrollstuhl für die aktive Benutzung also eher ungeeignet. Für viele Menschen in prekären Situationen ist er jedoch das beste zugängliche Hilfsmittel. Dies ist ein unerträglicher Zustand, aber wenn es keine bessere Lösung gibt, lässt sich ein Aktivrollstuhl zumeist modifizieren, um ihn besser benutzbar zu machen.
Wenn du an dem Punkt angekommen bist, wo du einen Rollstuhl brauchst, ist ein Transportrollstuhl nicht das Mittel der Wahl. Besonders, wenn du wenig Kraft hast, wenig Energie, Probleme mit den Handgelenken usw. ist ein Transportrollstuhl vermutlich unbenutzbar für dich. Wenn du in einem solchen Gerät sitzt, wirst du nicht vorwärtskommen. Das bedeutet jedoch nicht zwangsweise, dass du generell keinen manuell angetriebenen Rolli benutzen kannst – um das rauszufinden, musst du wirklich einen auf deinen Körper passenden Aktivrollstuhl ausprobieren. Der Unterschied ist drastisch, das kann ich nicht genug unterstreichen.
Ein Transportrollstuhl ist eine Notlösung und ermöglicht in den meisten Fällen keine ausreichende Unabhängigkeit. Trotzdem will ich dieses Hilfsmittel zumindest vorstellen, denn manchmal hat man eben doch keine Möglichkeit, etwas Passenderes zu bekommen, und manchmal braucht man einfach einen Rollstuhl für ein paar Tage im Jahr und sonst eigentlich nicht. Und im Vergleich mit dem zukünftigen Artikel über Aktivrollstühle wird dann hoffentlich allen Lesenden klarwerden, was der Unterschied ist.
Vorteile des Transportrollstuhls:
- Relativ einfach und günstig erhältlich, oft auch für wenige Euros bei Kleinanzeigen o.Ä.
- Ansonsten gibt es gegenüber einem Aktivrollstuhl wirklich keine Vorteile, sorry.
- Allerdings ist es natürlich ein Rollstuhl und bringt die Vorteile eines Rollstuhles mit sich: Man kann sitzend überall hin, wo es rollstuhlzugänglich ist, man muss nicht gehen, man kann Gegenstände auf dem Schoß transportieren (Katzen lieben diesen Trick) und in Innenräumen ist ein Transportrolli mit großen Rädern und Greifringen auch noch adäquat benutzbar. Erst auf der Straße wird es völlig witzlos.
Ein Transportrollstuhl könnte das richtige Hilfsmittel für dich sein:
- Wenn du einen Rollstuhl brauchst, aber nicht vorhast, dich im Außenbereich selbständig fortzubewegen. Solange du jemanden dabei hast, um dich zu schieben, ist das völlig okay.
- Wenn du den Rollstuhl sowieso mit einem Antrieb ausstatten willst und dir die Sitz-Ergonomie einigermaßen egal ist bzw. du kein Problem hast, daran rumzubasteln, bis es passt.
- Für zeitbegrenzte Anwendung z.B. im Rahmen einer Veranstaltung, eines Ausfluges, einer Konferenz etc.
- Zum Überbrücken, bis du einen Aktivrollstuhl kriegst.
Ein Transportrollstuhl ist wahrscheinlich nicht das richtige Hilfsmittel für dich:
- Wenn du dich im Außenbereich selbständig fortbewegen möchtest.
- Wenn du den Rollstuhl in einem kleinen Auto transportieren willst.
- Wenn du auf einen ergonomischen Sitz angewiesen bist (es gibt Sitze mit mehr Stützwirkung, diese sind allerdings dann üblicherweise noch weniger für aktive Nutzung geeignet und sie sind unglaublich teuer).
Wie du einen Transportrolli für aktive Benutzung modifizieren kannst:
- Entferne die Armstützen. Manchmal lassen sie sich einfach abnehmen, in anderen Fällen musst du mit einer Flex dran. Ohne die klobigen Dinger kommst du besser an die Greifringe.
- Setz dich so weit wie möglich nach hinten, um den Schwerpunkt möglichst weit nach hinten zu verlagern.
- Entferne die Fußstützen und ersetze sie durch einen Gurt, den du entweder vorne vom Rahmen abhängst oder unten am Rahmen befestigst. Dadurch nimmst du sehr viel Gewicht von den Vorderrädern und verschiebst den Schwerpunkt noch weiter nach hinten.
- Besorg dir ein bequemes Sitzkissen.
Gefaltete Transportrollstühle sind zwar relativ schmal, aber immer noch sehr hoch und sperrig. Foto: Old MaMa Carol, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Themen: behinderung, mobilitätshilfen, infodump
Mir gehts zu gut
Derzeit erlebe ich ein Problem, das eigentlich nur ironisch im Scherz beschrieben wird. Ich meine es aber ernst, wenn ich sage: Mir geht’s zu gut.
Neun Jahre ist es her, seit ich die Reißleine gezogen habe. Zugegeben, mein damaliger Chef tat es für mich, indem er mich im Personalbüro abpasste und vor dem versammelten Publikum zur Sau machte, weil ich ihm zu oft krank war. Heulend erwiderte ich: »Ich geh jetzt heim und ich komm nicht wieder«, und tat genau das.
Anfangs plante ich, mir einen neuen Job zu suchen, irgendwas mit weniger Stress. Schnell merkte ich, dass ich mir die vielen Krankschreibungen nicht aus Faulheit geholt hatte, sondern weil ich wirklich krank war.
Was für eine Krankheit das war (ist?), weiß ich bis heute nicht. Niemand hat je eine gründliche Diagnostik mit mir durchgeführt. Ich habe einige Diagnosen eingesammelt, aber diese erklären meine Symptome nicht. Über die Jahre habe ich den ein oder anderen Verdacht gehegt; bei manchen Dingen bin ich mir immer noch relativ sicher, dass sie auf mich zutreffen, weiß aber nicht, zu welchem Grad sie sich auf meinen tagtäglichen Gesundheitszustand auswirken.
Neun Jahre lang probierte ich alles aus, wovon ich glaubte, es könnte helfen. Vieles hatte überhaupt keinen Effekt. Manches half ein bisschen, eine Weile lang, und dann nicht mehr. Einiges machte mich nur noch kränker, da mein Körper prinzipiell sehr empfindlich und oft negativ bis paradox reagiert.
Aber dann, eines Tages, hat endlich mal etwas funktioniert. Nicht stark, aber merklich. Das ist jetzt fast zwei Jahre her. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich unter starken Einschränkungen, aber immerhin, wieder regelmäßig an Projekten arbeiten und ein kleines Sozialleben führen.
Diesen Sommer hat nochmal etwas funktioniert – deutlich besser. Ich probierte noch ein paar Dinge aus, weil sie sich richtig anfühlten, und das hat grandios funktioniert und mein Leben dramatisch verbessert, und danach fand ich noch ein paar kleinere Dinge, die auch noch mehr verbessert haben, und dann noch ein größeres Ding, das nochmal einen großen Effekt hatte.
Aber der Wendepunkt, das war dieser Sprung vor ein paar Monaten, als zwei für mich neue Supplemente plötzlich etwas bewirkten.
Ich weiß nicht, warum diese Supplemente helfen. Ich habe ganze Tage damit verbracht, ihre Wirkung zu recherchieren, aber als ich (als studierter Maschinenbauer) irgendwann über Wikipedia hing und erfolglos versuchte, den Zitratzyklus zu verstehen, musste ich mir eingestehen, dass niemand meine Fragen beantworten wird. Ich muss diesen Glücksgriff als das annehmen, was er ist.
Das Problem ist, dass es mir jetzt gut geht.
Nicht so gut, wie es gesunden Menschen geht, würde ich sagen. Ich muss mich immer noch viel ausruhen, habe oft Schmerzen, kann nicht gut laufen, kann nicht gut stehen. Der Großteil der zusätzlichen Energie, die mir nun zur Verfügung steht, fließt in eine intuitive Form von DIY-Reha. Sprich: Sport. Fahrradfahren, stundenlang. Hanteln heben. Liegestützen. Rückentraining. Mein Körper schreit nach Bewegung. Hinterher muss ich lange sitzen, bin oft zu erschöpft, um kognitive Arbeit leisten zu können.
Aber langsam, ganz langsam, scheint die Strategie zu bewirken, dass doch ein bisschen mehr geht.
Die Grenze für volle Erwerbsminderung sind fünfzehn Stunden pro Woche. In meinem derzeitigen Zustand könnte ich keine fünfzehn Stunden arbeiten. Aber ein paar Stunden gingen sicherlich, und vielleicht bessert meine Gesundheit sich noch. Ein Traum wäre, zwanzig Stunden arbeiten zu können!
Zwanzig Stunden von was?
Stundenlang starre ich in die Luft und versuche mir zu überlegen, wie mein zukünftiger Weg aussehen soll. Ich habe das Gefühl, ich hab vergessen, wie das mit dem Leben geht. Oder ich wusste es nie.
Ich denke zurück. Mit Anfang zwanzig musste ich mir aussuchen, ob und was ich studiere und was ich später mal werden will. Mit Anfang zwanzig hatte ich keine Ahnung, was diese Wahl bedeutet. Meine Wahlmöglichkeiten waren nahezu unbeschränkt, auch wenn mir das nicht so klar war wie jetzt, da ich sie nicht mehr habe.
Ich erlebe immer noch signifikante Einschränkungen. Was ich arbeiten könnte, muss von zuhause aus gehen, zu beliebigen Tages- und Nachtzeiten, und ohne nennenswerte Qualifikationen möglich sein. Ich habe einen Bachelor in Maschinenbau und keinen Lebenslauf.
Nein, im Ernst. Ich kann mich zwar an jeden der diversen Jobs, die ich so gemacht habe, noch erinnern, habe aber für keinen davon einen Nachweis. Ich hab alles weggeschmissen, nachdem ich 5 oder 7 Jahre lang krank war und mir klar wurde, dass ich das nicht mehr brauchen werde, weil es mir nie wieder besser gehen wird.
Die Sachen, die ich gut kann, sind auch gar nicht die Sachen, für die ich laut Lebenslauf vielleicht noch verwendbar wäre. Angestellt zu arbeiten, würde außerdem bedeuten: Zu bestimmten Zeiten wach sein, ein vorgegebenes Arbeitstempo einhalten… Das geht in meinem Leben nicht.
Und trotz allem habe ich einen gewissen Stolz. Ich besitze Fähigkeiten, auch ohne Nachweis. Und ich will nicht noch mehr Lebenszeit an einen Job verschwenden, den ich nicht machen will. Ich hab so viel Zeit verloren: Gut zwanzig Jahre meines Lebens an Trauma und Gewaltsituationen, später neun Jahre an eine Krankheit und Behindertenfeindlichkeit. Nun habe ich zum ersten Mal seit Langem wieder die Chance, meinen Lebensinhalt selbst zu bestimmen, und… Ich weiß nicht, was ich mit dieser Freiheit anstellen soll.
Alles, was ich habe, ist eine grobe Idee, welchen Weg ich von hier aus einschlagen möchte. Wo er mich letztlich hinführen wird, weiß ich nicht. Ich mach es halt mal und schau, was passiert.
Themen: persönlich, behinderung
Warum ich eine Geschichte über chronisch kranke Menschen geschrieben habe
Ich habe einen Roman geschrieben, den man ab heute kaufen kann. Da ich mir keinen Impressumsservice leisten kann und meine Privatadresse nicht ins Internet schreiben will, darf ich leider hier nicht mehr dazu sagen. Aber das Buch war über die letzten 2 Jahre ein großer Teil meines Lebens, und ich möchte davon erzählen und erklären, warum ich gemacht habe, was ich gemacht habe und wieso das Projekt mir so wichtig ist. In einem separaten Beitrag habe ich schon erklärt, warum ich es teilweise in Umgangssprache geschrieben habe.
Also, warum habe ich dieses Buch geschrieben, und warum habe ich den Hauptcharakteren eine unheilbare, stark einschränkende Krankheit verpasst?
Eigentlich ist die Antwort so kurz wie komplex: Ich bin chronisch krank. Der größte Teil meiner Freund*innen ist chronisch krank. Und es gibt keine Geschichten, in denen Leute wie ich oder meine Freund*innen vorkommen, geschweigedenn als Held*innen Abenteuer erleben dürfen.
Selbst bin ich seit 2015 arbeitsunfähig. Ich glaube nicht, dass ich erst 2015 krank geworden bin, aber seit dem Jahr geht es mir so schlecht, dass ich mich nur noch als behindert begreifen kann. Dabei befinde ich mich in demjenigen Sumpf schlecht abgegrenzter und kaum erforschter chronischer Krankheiten, den die Betroffenen nur zu gut verstehen und alle anderen eher nicht so: Irgendwas mit EDS, MCAS, MEFCS, Fibromyalgie, POTS – ein Diagnosechaos, von dem ich ein paar Diagnosen habe und bei den anderen längst aufgegeben habe, dafür irgendwas auf Papier zu bekommen. Auf Hilfe und Behandlung hoffe ich ebenfalls nicht mehr. Diese Art von Erkrankung bedeutet, dass ich dauerhaft Symptome habe, die mich daran hindern, Dinge zu tun, die ich gerne tun möchte. Erschöpfung, Schwäche, Schlafstörungen, Übelkeit, Schwindel, ich kann nicht gut laufen, ich kann nicht gut stehen, ich kann nicht gut schlafen, ich kann nicht gut denken, und jeder Test, der im medizinischen Bereich gemacht wird, kommt entweder „normal“ zurück oder abnormal auf eine Art, mit der niemand etwas anfangen kann.
Von der Gesellschaft fühle ich mich abgehängt und verdrängt. Schon vor Corona war das so. Selbst die Dienste, die eigentlich für kranke und behinderte Menschen gemacht sind, können mit Leuten wie mir und meiner Symptomatik nichts anfangen. Es gibt keine Pflege oder Haushaltshilfe für Menschen, die alltägliche Sachen technisch gesehen noch machen können, aber davon so starke Symptome entwickeln, dass sie tagelang im Bett liegen. Es gibt keine Diagnosen oder Medikamente, wenn alle Tests normal aussehen. Ich bin durch die Arbeitsunfähigkeit arm, aber Angebote wie die Tafel oder Sozialkaufhäuser kann ich nicht oder kaum nutzen, weil ich es körperlich nicht hinschaffe und mich nicht für Assistenz qualifiziere. Und da kommt dann noch Corona dazu: Natürlich macht jede Infektion, egal mit was, meinen Zustand schlimmer, und zwar permanent. Die Gesellschaft als solche, und auch der gesamte medizinische Bereich, haben aber längst entschieden, dass es nicht so schlimm ist, medizinisch fragile Menschen einem ständigen Infektionsrisiko auszusetzen.
Ich lebe in einer Art Parallelrealität. Andere Menschen haben Job, Familie, Ziele und Träume. Sie denken darüber nach, wo sie in den Urlaub hinfahren. Sie gehen auf Festivals und Konferenzen. Sie machen lange Zugfahrten, um Partner*innen zu treffen. Sie überlegen sich, wie sie ihre Wohnung einrichten möchten, und besorgen sich dann die passenden Möbel. Das sind Lebensweisen, die ich grundlegend nicht verstehen kann: Ich plane meine Wochen so, dass ich nach jeder Anstrengung ein bis zwei Tage Erholung habe, und anstrengend sind für mich schon Aufgaben, die gesunde Menschen nebenbei erledigen können, ohne darüber nachzudenken. Einkaufen einen Tag nach einem Arztbesuch? Undenkbar. Videokonferenz am selben Tag wie Staubsaugen? Vielleicht vom Bett aus, und danach werde ich mich zwei bis drei Tage lang fühlen, als würde ich sterben. Müll runterbringen und hinterher noch Duschen? Äh, okay, kann ich zwischendurch zwölf Stunden Pause machen? Dann klappt das vielleicht.
In so einer Parallelrealität zu leben, heißt aber auch, dass ich mich in der Mainstream-Kultur nicht wiederfinden kann. Geschichten sind wichtig für mich – um so mehr in den Phasen, wo es mir nur noch dreckig geht. Wenn ich mich fühle wie durchgekaut und ausgespuckt, brauche ich Ablenkung. Ich brauche Eskapismus. Ich lese Bücher, ich schaue Serien.
Und ich habe noch nie eine Geschichte entdeckt, in der Menschen wie ich vorkommen und angesprochen werden. Es gibt keine Geschichten über Menschen, die so krank sind, außer vielleicht tragische Geschichten darüber, wie schlimm es ist, so krank zu sein, die dann entweder in unserer Heilung oder unserem Tod enden. Wenn wir überhaupt als Charaktere vorkommen, sind wir entweder bemitleidenswerte Opfer unserer Körper, oder wir sind entbehrlich und wertlos. Ich habe zu viele Geschichten gelesen und gesehen, in denen kranke, behinderte Menschen ihr Leben aufgegeben haben, um die anderen, gesunden Charaktere zu schützen und ihnen weiterzuhelfen. Es dreht mir jedes Mal den Magen herum.
Es gibt keine Geschichten über Charaktere, deren Leben ähnliche Qualitäten hat wie mein eigenes, die ähnliche Schwierigkeiten haben, und die trotzdem irgendwie leben können und wollen und sollen. Also wollte ich beweisen, dass das geht. Und nicht nur das: Ich wollte diese Charaktere in die Held*innen-Rolle versetzen. Ich wollte sie Abenteuer erleben lassen, von denen ich mir vorstellen könnte, dass ich selbst sie erleben könnte, und zwar so, wie ich jetzt bin – ohne Wunderheilung zwischendurch; ohne Magie oder Technologie, die meine Symptome ausgleichen kann; ohne Reichtum, Dienerschaft oder Macht.
Ich wollte ein Buch schreiben, in dem Menschen wegen ihrer Krankheit nicht wertlos sind, sondern genau das Gegenteil: dass die Krankheit sie besonders wertvoll und schützenswert macht. Wo von kranken Menschen nicht erwartet wird, dass sie sich für Gesunde opfern, sondern dass die Dynamiken andersherum laufen. Und dass diese Charaktere trotzdem solche Probleme erleben, wie ich sie auch kenne: Die kranken Hauptcharaktere haben genau die alltäglichen Schwierigkeiten, die chronisch kranke Menschen in unserer heutigen Gesellschaft erleben. Sie schaffen es nicht unbedingt, sich selbst zu versorgen, können nicht jederzeit mal spontan das Haus verlassen, sind auf Unterstützung und auf Hilfsmittel angewiesen, leiden unter sozialer Isolation und ärztlicher Fehlbehandlung.
Denn es war mir wichtig, auch die strukturelle Diskriminierung abzubilden. Als chronisch kranke Person erlebe ich es immer wieder, dass Ärzt*innen mir nicht glauben oder versuchen, mir die Schuld an meiner eigenen Krankheit zu geben. Sie versuchen, mir weiszumachen, ich hätte meine Symptome nur, weil ich Angst vor ihnen habe, oder ich könnte meine Erschöpfung durch Muskelaufbau therapieren. Sie diagnostizieren mich mit einer Depression, weil meine körperlichen Symptome mich schwächen. Hauptsache, sie müssen nicht zugeben, dass der Stand der Medizin mir nicht helfen kann. Wenn es alles irgendwie meine Schuld ist, können sie mir hinterherschauen, nachdem ich verletzt und resigniert das Gespräch vorzeitig abgebrochen habe, können die Schultern zucken und zu sich sagen: Tja, wer nicht will, dem kann man auch nicht helfen.
Und diese Haltung widerfährt meinen Charakteren auch. Sie erleben das, was ich erlebe. Trotzdem ist das nicht der Fokus der Geschichte, sondern es ist die Grundlage. Die Geschichte selbst ist ein fantastisches Abenteuer, ein Fenster in eine andere Welt, aber all das baut auf einem Leben auf, in dem ich mich wiederfinden könnte.
Solche Geschichten gibt es eigentlich nicht. Sicher sind irgendwo da draußen ein paar (Wenn jemand von euch welche kennt: Bitte immer her damit!), aber es sind so wenige, dass ich ihnen noch nicht über der Weg gelaufen bin.
Jetzt gibt es eine mehr. Eine Geschichte für kranke Menschen, die sich nicht einmal mehr vorstellen können, wie es sein muss, herumrennen und reisen und aktiv sein und arbeiten und nebenbei den Haushalt und den Job und die Beziehung schmeißen zu können. Eine Geschichte für unheilbare Menschen, die nicht ständig daran erinnert werden wollen, dass unsere Gesellschaft sie für wertlos und verzichtbar hält. Eine Geschichte für behinderte Menschen, die so, wie sie sind, gerne ein magisches Abenteuer erleben würden. Eben eine Geschichte für Menschen, die nie wieder gesund werden.
Themen: kunst, die-träume, behinderung