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Undurchsichtige Interessen zwischen Werbung, Nachrichten und Politik

20. January. 2025

Ich bin aktiv im Hamburger Freien Radio. Dort landete am Freitagabend eine E-Mail im Postfach: »[Hiermit] erhalten Sie eine nachrichtliche Fassung unseres Interviews mit Katharina Fegebank, Zweite Bürgermeisterin Hamburgs und Spitzenkandidatin der Grünen. Die Aussagen sind bei Quellenangabe ("Nachrichtenportal t-online") mit *SPERRFRIST Samstag, 18. Januar, 9 Uhr,* frei zur Veröffentlichung.«

Die Schlagzeile: »Katharina Fegebank: "Wer kein Bleiberecht hat, muss gehen"«. Diese Aussage wird manchen sicher bitter aufstoßen und ist auch der einzige Satz des Interviews, der sich kontrovers diskutieren lässt.

Absender der E-Mail: die Ströer News Publishing GmbH. Klar, denn T-Online gehört dem Ströer-Konzern.

Solche E-Mails sind üblich. Im Postfach des Radios finden sich unzählige, von den verschiedensten Absendern. Und obwohl ich mich erst kürzlich mit der Ströer und ihrem Geschäftsmodell befasst habe, hätte ich auch bei einer Meldung von T-Online nicht gestutzt, wenn es nicht ausgerechnet den Hamburger Wahlkampf betreffen würde.

Der Name »Ströer« klebt in Hamburg als Logo auf jedem Bildschirm und jedem Werbeplakatträger an den Bahnhöfen und auf einem großen Teil der Werbeträger auf öffentlichen Grund. Auf den anderen steht »JCDecaux«. Ströer und JCDecaux haben mit der Stadt Hamburg Verträge abgeschlossen, die ihnen das Recht auf den Betrieb von Werbeflächen auf Staatsgrund zuschreiben.

Für den Konzern, zu dem T-Online gehört, stellt die derzeitige Wahlkampfperiode in Hamburg eine empfindliche Situation dar. Wenn Ströer nicht erneut den Zuschlag für die Vermarktung der Werbeflächen in Hamburg erhält, bedeutet das für den Konzern den Verlust der größten Stadt auf seiner Liste. Mit »Hamburg Werbefrei« besteht sogar eine Volksinitiative gegen die Vereinnahmung des öffentlichen Raums insbesondere durch digitale Werbeträger.

Derzeit steht die Neuvergabe der Werberechtsverträge im Raum, denn der eigentlich bis Ende 2023 laufende Vertrag wurde als Corona-Erleichterung von der Stadt bis 2026 verlängert. Von derselben Stadt, in der Frau Fegebank derzeit Zweite Bürgermeisterin ist und in der sie gerne Erste Bürgermeisterin werden würde.

Im Hamburger Regionalteil von T-Online finden sich mehrere Meldungen, die sich auf den laufenden Wahlkampf beziehen. Die Ströer-Werbebildschirme im öffentlichen Raum und in öffentlichen Verkehrsmitteln wiederum zeigen keineswegs nur eingekaufte Werbung. Immer wieder präsentieren sie Schlagzeilen und Kurznachrichten – besonders prominent und häufig sind die von T-Online.

Ob auf Ströer-Bildschirmen in Hamburg die oben genannte Nachricht oder andere mit parteipolitischem Bezug gezeigt wurden oder werden, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Regeln dagegen gibt es nicht; die Auswahl der angezeigten Nachrichten wird auch nicht unabhängig überprüft oder kontrolliert.

Nachdenklich macht mich in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Ströer über ein datenintensives System zur Zielgruppenauswahl verfügt. Der Konzern wirbt selbst damit, mit Werbung im öffentlichen Raum ganz gezielt bestimmte »Marktsegmente« ansprechen zu können. Zwar ist es nicht erlaubt, Personen oder Gruppen direkt über ihre politische Haltung zu kategorisieren, aber wie die durchschnittliche politische Haltung von Marktsegmenten wie »High Income« oder »Lifestyle Of Health And Sustainability« ist, wird wohl kein großes Rätsel sein.

Ich habe keine Hinweise darauf, dass die Ströer ihr Targeting-System nutzt, um gezielt ausgewählten Gruppen ausgewählte Schlagzeilen anzuzeigen, um ihr Wahlverhalten zu beeinflussen. Es gibt aber auch keine Möglichkeit, dies zu überprüfen, geschweigedenn zu gewährleisten, dass sie es nicht tut.

Ein Hinweis auf den Konflikt zwischen politischen Nachrichten im Hamburger Wahlkampf und dem Interesse des eigenen Konzerns am Wahlergebnis findet sich auf T-Online nicht.

Der Interessenskonflikt besteht aber, auch unabhängig davon, ob die Redaktion bei der Auswahl ihrer Themen und Blickwinkel bewusst die Interessen ihrer Firma vertritt oder nicht. Denn die Ströer Digital Publishing GmbH betreibt die Webseite T-Online, es ist eine Ströer-Firma, die die Mitarbeitenden für T-Online aussucht und einstellt, Ströer ist für die Präsentation der Artikel auf der Plattform verantwortlich und für das externe Marketing einzelner Artikel.

Hier lassen sich viele Fragen stellen. Sollten Lesende über solche Zusammenhänge informiert werden? Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, wie? Und: Was halten wir von diesem Konzept, Werbung, die, wie der Hamburger Senat 2022 schrieb, »nach allen gängigen Definitionen darauf ausgerichtet [ist], auf Menschen einzuwirken«, und dies durch ein aufwendiges Targeting-System bewerkstelligt, mit redaktioneller Arbeit und Nachrichten zu vermischen?

Themen: digital, politik, hamburg, kommentar

Die Stadt als Plattform für den Ausverkauf unserer Privatsphäre

13. January. 2025

Wie Hunderte andere deutsche Städte lässt die Stadt Hamburg sich dafür bezahlen, dass Firmen aus der Privatwirtschaft die Außenwerbung auf öffentlichem Grund betreiben. Was zu Zeiten der Werbeplakate aus Papier wie eine vernünftige Lösung gewirkt haben mag, wirft mit zunehmender Digitalisierung der Werbeträger weitreichende Fragen über die Verwendung persönlicher und gruppenbezogener Daten auf.

Dieser Text ist die schriftliche Version des mit dem Radio FSK veröffentlichten Berichts (nachhören auf Freie-Radios.net). Der Bericht steht unter CC-BY-NC-SA.

Ein freistehender Werbebildschirm in der Hamburger Innenstadt, in schwarze Plastikplane eingewickelt. Darunter ist Bauschaum zu sehen.
So einen beschädigten Bildschirm zu ersetzen, ist sicher aufwendiger als die Installation einer neuen Plakatwand.

Hamburg, spät in der Nacht. Die U-Bahn kommt an, Fahrgäste steigen aus. Es ist spät, die meisten wollen nur noch nach Hause, kaum jemand redet, viele starren müde aufs Handy. Der Blaulichtfilter macht das Display um diese Uhrzeit angenehmer anzusehen. Angeblich ist das auch besser für die Schlafregulation.

Der gigantische Bildschirm hinter den Gleisen hält nichts von derartiger Technologie. Grell strahlt eine taghelle Werbung über den Bahnsteig, eine Animation ringt um die Aufmerksamkeit der schläfrigen Fahrgäste.

Ungesehen sorgt hinter den Werbekulissen ein aufwendiges System dafür, dass die Werbung »programmatisch« immer genau dann und dort ausgespielt wird, wo sie die richtige Zielgruppe erreicht. »Targeting« nennt sich das, abgeleitet von der englischen Zielscheibe. Gespeist wird dieses Targeting-System mit Unmengen von Daten, die durch sogenanntes »Tracking« von Einzelpersonen abgegriffen werden, vorrangig bei der Internet-Benutzung.

Umsteigen in die S-Bahn. In jedem Wagen mehrere Bildschirme, die auf einer Hälfte die nächsten Haltestellen anzeigen und auf der anderen Hälfte Werbung. Später, nach dem Aussteigen, an jeder Bushaltestelle ein beleuchtetes Plakat, so alltäglich, dass man es kaum wahrnimmt. Auf dem Fußweg nach Hause: Eine beleuchtete Drehsäule. Ein gigantisches Leuchtplakat über der Ampelkreuzung. Freistehende Leuchtplakate mit Rollfunktion in der Fußgängerzone.

Der Name dafür ist »Out-Of-Home-Advertising«, also Werbung außerhalb von zuhause. In den Städten kommen wir alle täglich mit dieser Art von Werbung in Berührung. Die Meinungen dazu gehen auseinander. Manche finden sie nützlich, weil sie auf interessante Produkte aufmerksam gemacht werden. Andere finden sie ästhetisch und haben das Gefühl, dass sie ihre Laune verbessert. Viele glauben, dass sie sich von Werbung nicht beeinflussen lassen, oder tun ihr Bestes, sie zu ignorieren.

Immer wieder wird auch Kritik daran laut. In Hamburg gibt es die Initiative »Hamburg Werbefrei«, die sich am Vorbild »Berlin Werbefrei« orientiert. Die Initiative sieht in der zunehmenden Elektrifizierung und Digitalisierung des Out-Of-Home-Advertisings eine Ressourcenverschwendung und sorgt sich über eine mögliche Manipulation der Bevölkerung durch die Werbeflächenbetreiber.

Aber wer betreibt diese Werbeflächen eigentlich? Wie hat die Branche sich mit der zunehmenden Digitalisierung verändert, wie sind die Verhältnisse lokal hier in Hamburg, und warum sollte uns das überhaupt interessieren?

Zwei Konzerne mit viel Macht über unseren Alltag

In Hamburg wird jede Werbung auf öffentlichem Gelände, in Verkehrsmitteln und an Haltestellen von denselben zwei Konzernen betrieben. Das sind die deutsche Ströer, deren Geschäft sich stark auf Deutschland konzentriert, und die weltweit tätige JCDecaux. JCDecaux begann im Jahr 1955 als Geschäft ihres Gründers Jean-Claude Decaux zum Betrieb von Plakatwänden an französischen Autobahnen. Einige Jahre später führte die Firma das Konzept von Stadtmöblierung in Form von werbefinanzierten Bushaltestellen ein und expandierte seitdem in weitere Bereiche des Out-Of-Home-Advertisings.

Die Ströer-Gruppe wird verwaltet von der Ströer SE & Co. KGaA. Das Unternehmen, das heute als Holding für Dutzende Tochtergesellschaften fungiert, wurde 1990 von Udo Müller und dem bereits in der Außenwerbung tätigen Heinz Ströer gegründet. Als Marktführerin in der deutschen Außenwerbung ist die Ströer heutzutage in den meisten Städten des Landes omnipräsent. In einer Präsentation vom November 2024 gibt der Konzern an, mit ungefähr 1300 Gemeinden in Deutschland Verträge für die Außenwerbung zu haben. Auch mit 19 der größten 22 Städte hat er entsprechende Vereinbarungen, die Ausnahmen sind Nürnberg, Mannheim und ausgerechnet Berlin. In Berlin wird die Außenwerbung von der Wall GmbH betrieben, die zu JCDecaux gehört. In München besteht mit der Firma DSM Decaux GmbH eine Kooperation zwischen den Konkurrentinnen Ströer und JCDecaux.

In Hamburg lag das Werberecht auf öffentlichem Grund bis 1989 bei einer Firma, die vollständig der Stadt gehörte. Diese Firma, die Hamburger Außenwerbung GmbH, wurde dann an die Deutsche Städte Medien, damals noch unter anderem Namen, verkauft. Im Jahr 2004 kaufte schließlich Ströer die Deutsche Städte Medien.

Heute hat die Stadt Hamburg Vereinbarungen sowohl mit der DSM Deutsche Städte Medien GmbH, einer Ströer-Firma, als auch der Wall GmbH, einer JCDecaux-Firma. Die Stadt macht bislang nicht öffentlich, wie hoch die vertraglich geregelten Vergütungen sind. Aus Antworten des Hamburger Senats auf Anfragen der Bürgerschaft ergibt sich, dass die jährlichen Einnahmen aus den Werbeverträgen um die 30 Millionen Euro betragen. Im Jahr 2020 waren es fast 27 Millionen Euro, für 2022 wurde mit 32 Millionen Euro gerechnet. Verglichen mit den Gesamterträgen der Stadt von rund 21 Milliarden Euro im selben Jahr sind das etwas mehr als 0,1 Prozent, aber in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Olga Fritzsche aus dem Jahr 2021 erklärt der Senat: »Es handelt sich um ein für den Gesamthaushalt unverzichtbares Einnahmevolumen.«

Im Gegenzug sind Ströer und JCDecaux die alleinigen rechtmäßigen Betreiberinnen von Werbeanlagen auf öffentlichem Grund und dazu verpflichtet, sogenannten »Wildanschlag« unverzüglich zu entfernen. Werbeanlagen auf Privatgelände sind von dieser Regelung nicht betroffen.

Der Ströer-Konzern vermarktet auch Werbung in Anlagen und Verkehrsmitteln der Deutschen Bahn. Das betrifft auch die Hamburger Bahnhöfe sowie die Hamburger S-Bahn. Außerdem besitzt die Ströer gut 75 Prozent der Anteile an der Hamburger Verkehrsmittel-Werbung GmbH. Diese Firma vermarktet seit 1989 die Werbeanlagen bei der Hamburger Hochbahn, also in Bussen und U-Bahnen und an U-Bahn-Haltestellen. Bushaltestellen mit Werbung zählen hingegen als Stadtmöbel. Die Werbefirma finanziert, baut und besitzt die Bushaltestelle.

Auch in Einkaufszentren, Supermärkten, Gaststätten, Kiosken oder Universitäten kann man auf Werbeträger stoßen. Mit der Edgar Ambient Media Group gehört auch eine auf diesen Betriebsbereich spezialisierte Firma zum Ströer-Konzern.

Out-Of-Home-Advertising ist allgegenwärtig. Der Hamburger Senat gab im Jahr 2023 an, dass sich die Gesamtzahl der Werbeträger auf öffentlichem Grund in Hamburg seit dem Jahr 2008 um 21 Prozent reduziert habe. Dennoch scheinen viele Menschen den Eindruck zu haben, immer stärker mit Werbung konfrontiert zu werden. Eine Erklärung hierfür könnte die zunehmende Digitalisierung der Werbeträger sein.

Vielerorts werden Papierplakate durch Bildschirme ersetzt. Auf diesen Bildschirmen wird alle paar Sekunden eine neue Werbung angezeigt. Manchmal sind auch informative Inhalte darauf zu sehen. Viele Anzeigen sind animiert. Eine Bauprüfdienst-Anweisung der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen empfiehlt, dass der Motivübergang »ruhig und kontrastarm erfolgen« soll und wünscht sich einen Verzicht auf »animationsähnliche Einblendungen, wie sie z.B. aus PowerPoint Präsentationen bekannt sind«. Bindend sind diese Hinweise jedoch nicht und bei näherer Betrachtung der Werbebildschirme im öffentlichen Raum wird schnell klar, dass sie auch nicht eingehalten werden.

Sowohl Ströer als auch JCDecaux drängen stark Richtung Digitalisierung der Außenwerbung. Als Unterstützung während der Anfangszeit der Corona-Pandemie erhielten beide Firmen in Hamburg die Genehmigung, alle Werbeträger zu digitalisieren. Das Errichten digitaler Anlagen muss weiterhin für jeden Standort zuerst von der Stadt überprüft und genehmigt werden, doch die Anzahl der digitalen Werbebildschirme hat sich in den vergangenen Jahren merklich erhöht.

Laut Geoportal der Stadt Hamburg gibt es allein auf öffentlichem Grund inzwischen über 500 digitale Werbeanlagen, dazu kommen die zahlreichen neuen Bildschirme unter anderem in Unterführungen und an Bahnsteigen, die als Privatgelände zählen. Im Gegensatz zu Werbebannern im Internet kann man blinkende Außenwerbung nicht einfach blockieren. Ist es das, was digitales Out-Of-Home-Advertising so lukrativ macht?

Eine überdachte Bushaltestelle mit einem Werbeplakat.
Seit 60 Jahren ein internationales Erfolgsmodell: die werbefinanzierte Bushaltestelle. Bild: Claus-Joachim Dickow, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Lokaldatenkraken

Die Außenwerbebranche befindet sich inmitten einer Transformation. Plakate aus Papier sind zwar in der Masse billig herzustellen, aber sie sind auch statisch. Wenn das Plakat getauscht werden soll, muss das manuell geschehen. Spontanes Durchwechseln oder Zuschalten von Werbung sind ebenso undenkbar wie ein Bezug der Werbung auf das aktuelle Wetter.

Plakate durch Bildschirme zu ersetzen, hat für Werbetreibende – also die Firmen, deren Werbung letztlich auf dem Träger zu sehen ist – fast nur Vorteile. Die Kostenschwelle ist niedriger, es müssen nicht Hunderte Plakate produziert werden, bis der Druck sich rechnet. Außerdem kann die Werbung, so das Versprechen, genau zur richtigen Zeit an genau den Orten geschaltet werden, wo die erwünschte Zielgruppe sich aufhält. Das alles passiert vollautomatisch.

Die Ströer nennt digitales Out-Of-Home-Advertising ihr profitabelstes Produkt, das zudem noch die größte Wachstumsrate verzeichne. Auf seiner Webseite wirbt der Konzern mit den Möglichkeiten: Werbung soll sich abhängig von Wetterereignissen wie Regen oder Pollenflug ausspielen und auf bestimmte Uhrzeiten beschränken lassen, auch Besuchende von Veranstaltungen sollen gezielt angesprochen werden können.

In ihrem Halbjahresfinanzbericht 2024 schreibt Ströer, dass immer mehr Kunden die Möglichkeit der programmatischen Ausspielung von Werbung auf ihren digitalen Werbeträgern nutzen. Über dasselbe System wie beim Schalten von Online-Werbung kann Werbung auf digitalen Werbeflächen im Außenbereich, in Verkehrsmitteln oder in Geschäften bestimmte Zielgruppen anvisieren. Als Beispiele werden genannt: »Best Ager, Haushaltsführend, High Income, Singles, Familie mit Kleinkind, LOHAS [Anm..: Lifestyle Of Health And Sustainability], Modeinteressiert, Mieter, Sport & Fitness«. Auch JCDecaux bietet diese Form von Targeting an.

Sinn macht das alles, weil die bisherigen Träger für zielgruppenorientierte Werbung – Zeitschriften, Fernsehen und Radio – zunehmend an Bedeutung und Reichweite verlieren. Vieles hat sich ins Internet verlagert, auch die Werbung. Durch digitales Out-Of-Home-Advertising wird die Ästhetik der Werbebanner, die auf vielen Internetseiten und in vielen Apps zu sehen sind, dann zurück in die Offline-Welt gebracht. Die Ähnlichkeit ist aber längst nicht nur eine optische. Es werden dafür auch nach demselben System Verhaltens- und Bewegungsdaten verwendet, um genau zu bestimmen, wann und wo welche Marktsegmente – so die versachlichende Branchenbezeichnung für kategorisierte Menschengruppen – erreicht werden können.

Das System kennt den Kontext – Welche Geschäfte sind in der Nähe? Wie spät ist es? Wie ist das Wetter? – und es verwertet Daten darüber, wie das Publikum an jedem Standort zu jedem Zeitpunkt zusammengesetzt ist: Alter, Interessen, Einkommen, Familienstatus, unzählige weitere Kriterien.

Das kann man für einen Vorteil oder für einen Nachteil halten. Manche sehen darin ein Risiko für Manipulation, während andere dankbar sind, Werbung zu sehen, die sie auch interessiert. Wertungsfrei lässt sich aber eines sagen: Dieser gezielten Werbung zu entgehen, ist praktisch unmöglich. Wer sich durch den öffentlichen Raum bewegt, öffentliche Verkehrsmittel benutzt oder Geschäfte betritt, die solche programmatische Werbung schalten, ist dem Targeting automatisch ausgesetzt.

Bewegungsdaten sind das Geschäftsmodell

Die Vermarkter von Werbeflächen machen ihr bestes Geld, wenn sie die Werbung ihrer Auftraggeber richtig platzieren. Denn die werbetreibenden Firmen beobachten die Wirkung ihrer Kampagnen und schalten nur dann weitere Werbung, wenn diese erfolgreich sind. Deshalb versuchen die Vermarkter möglichst genau herauszufinden, an welchen Stellen sie zu welcher Zeit welche Zielgruppe erreichen können.

Ende 2012 verkündete die Ströer ihren Einstieg ins Online-Werbegeschäft. Seitdem hat der Konzern etliche Unternehmen aufgekauft oder selbst neu gegründet, die sich auf digitale Werbetechnologien spezialisieren. Dazu gehört etwa der Handel mit und die Analyse von personenbezogenen Daten zu Werbezwecken oder auch das Vermitteln von Online-Werbeplätzen auf Internetseiten über ein spezialisiertes Marktplatz-System (für die Fachleute: SSP/DSP).

Teil der Ströer-Gruppe sind beispielsweise die Firmen MBR Targeting, Yieldlove oder OS Data Solutions. OS Data Solutions wurde gegründet als Datenallianz zwischen der Ströer und der Otto Group Media, allerdings hat Otto das Unternehmen 2022 an die Ströer abgegeben.

Durch ihre zahlreichen Tochterunternehmen hat die Ströer-Gruppe ein stabiles Standbein in der Online-Werbebranche. Auch mehrere deutsche Medienplattformen haben Verträge mit der Ströer zur Werbeflächen- oder Datenvermarktung abgeschlossen, darunter etwa die Apotheken-Umschau, Duden.de oder die Taz. Das ist nicht ungewöhnlich, ist doch fast jede größere Internetseite zumindest zum Teil durch programmatische Werbung finanziert.

Wenn eine Person eine Internetseite oder eine App aufruft, auf der programmatische Werbung geschaltet wird, wird der Anzeigenplatz anhand der Daten, die über diese Person bekannt sind, innerhalb von Millisekunden an den höchstbietenden Werbekunden verkauft. Das nennt sich Real-Time-Bidding, also Echtzeitauktion. Global betrachtet ist Ströer im Vergleich zu Datenkraken wie Google, Facebook oder Amazon in dieser Branche ein Winzling. Was den Konzern jedoch hervorhebt, ist seine Allgegenwärtigkeit in deutschen Städten.

Partnerschaften mit Firmen, die Webseiten oder Apps betreiben, haben für den Ströer-Konzern noch einen zweiten Vorteil. Hierdurch kann der Vermarkter nämlich nicht nur Einnahmen durch das Vermitteln von Online-Werbeflächen generieren, sondern auch wertvolle Daten gewinnen. Denn Online-Werbung dient nicht nur dazu, uns möglichst viele bunte Werbebanner anzuzeigen, sondern auch dazu, Informationen über die Personen zu sammeln, denen die Werbung angezeigt wird: über ihren Standort in der echten Welt und über ihre Bewegungen im Internet, welche Inhalte sie sich anschauen, welche Suchbegriffe sie eingeben. All das gerne gebündelt mit der eindeutigen Werbe-ID, die auf Android-Handys und Iphones automatisch vergeben wird und jedes Gerät wiedererkennbar macht.

Der Ströer-Konzern zielt offenbar darauf ab, alles aus einer Hand zu bieten. Auf unzähligen Online-Plattformen vermarktet der Konzern Werbeflächen, darunter mehrere Plattformen, die dem Konzern selbst gehören. Dazu kommt der Echtzeit-Marktplatz für diese Werbeflächen sowie die auf Datenverarbeitung und Datenhandel spezialisierten Ströer-Firmen. Außerdem kaufte Ströer im Jahr 2016 den Kosmetikhersteller Asambeauty, seit 2015 gehört ihr die Hamburger Statistik-Plattform Statista.

Die Ströer-Werbeträger in der Stadt, an Bushaltestellen, in Bahnhöfen, in Bus und Bahn können für diese anderen Ströer-Unternehmen dann wieder Werbung machen – genau zur richtigen Zeit an genau den richtigen Orten. Das steigert einerseits natürlich die Bekanntheit der beworbenen Produkte, liefert aber gleichzeitig vermutlich auch viele nützliche Daten über die Wirksamkeit von Werbekampagnen.

Kurioserweise wirbt die Ströer in der letzten Zeit auf ihren Werbebildschirmen auch für den hauseigenen Grusel-Podcast »Schauerstoff«. Durch Anteile an der Firma Ad.Audio besitzt der Konzern auch in der Welt von Podcasts und Radio ein Standbein.

Ein ausgeschalteter Werbebildschirm in einer Unterführung. Mitten auf der schwarzen Fläche kleben die Reste eines Stickers, das Logo der Initiative Hamburg Werbefrei ist noch zu erkennen.
Die Werbebildschirme kommen offensichtlich nicht bei allen gut an.

T-Online, Watson.de und Facebook-Seiten

Anders als die Ströer konzentriert JCDecaux sich auf das Kerngeschäft: Out-Of-Home-Advertising. JCDecaux macht Flughafenwerbung, Werbung in Verkehrsmitteln, allgemeine Außenwerbung etwa mit Plakatwänden, Litfaßsäulen und Bushaltestellen. Weltweit betreibt der Konzern dieses Geschäft in mehreren tausend Städten.

Mancherorts betreibt JCDecaux einen Fahrradverleih. Auch das fällt unter »Stadtmöblierung«; das Leihfahrradangebot wird gerne mit Werberechtsverträgen gekoppelt. Außerdem bietet JCDecaux wie auch Ströer eine Plattform an, um Out-Of-Home-Advertising in Echtzeit und segmentbezogen zu buchen.

Der Ströer-Konzern hingegen ist inzwischen selbst zum Plattformbetreiber geworden. Im Jahr 2015 übernahm Ströer die Webseite T-Online und baute seitdem die Redaktion der Plattform deutlich aus. Bei der Firma, die in der Schweiz das Nachrichtenportal Watson betreibt, sicherte Ströer sich 2018 das vertragliche Recht, die Seite Watson.de aufbauen zu dürfen, die unabhängig von der Schweizer Redaktion arbeitet.

Ebenfalls von Ströer betrieben werden etwa Familie.de, Desired, Giga, Kino.de und Spielaffe. Viele dieser und weitere Plattformen werden mit Facebook-Seiten und anderen sozialen Medien verknüpft, auf denen vorrangig flache Memes und Links zu Beiträgen auf anderen Ströer-Plattformen gepostet werden. Zu Ströer gehören beispielsweise Seiten wie »Die Männer Seite«, »Die Frauen Seite«, »Chat von gestern Nacht«, »Unnützes Wissen«, »Stylevamp«, »Helden unserer Kindheit«, »Meine Orte« («Die schönsten Orte unserer Erde«), »Tierfans«, »Fußballfieber«, »Autoguru«, »Soundground« oder »Fun and News«, die häufig auch eine eigenständige Webseite haben. Der Betrieb der verschiedenen Social-Media-Seiten zu Werbezwecken durch die Ströer wurde in der Vergangenheit schon gelegentlich thematisiert, etwa als Buzzfeed im Jahr 2018 etliche Facebook-Seiten identifizierte, die Links zu Werbekunden posteten.

Mittlerweile dienen diese Seiten dem Anschein nach hauptsächlich dem Aufbau von Tracking-Profilen. Die von den sozialen Medien aus verlinkten Webseiten bieten die Wahl zwischen kostenfreier Nutzung mit Tracking und kostenpflichtiger Nutzung ohne Tracking. Dass nur die Allerwenigsten gleich ein Abo abschließen werden, um einen Artikel auf einer Seite zu lesen, von der sie noch nie gehört haben, ist wohl keine weit hergeholte Vermutung. Wenn dem Tracking zugestimmt wird, kann erfasst werden, von wo die Besuchenden auf die Seite gekommen sind. Daraus lassen sich Rückschlüsse über Identität und Interessen der Nutzenden ziehen und umfassende Profile erstellen.

Neben den schon genannten Plattformen betreibt Ströer mit StayFriends auch ein soziales Netzwerk für Klassentreffen und mit Lebensfreunde eine Partnerböse für Personen über 50. Alle dieser Dienste führen zwischen größeren Werbenetzwerken auch Ströer-Firmen als Werbepartner auf. Auch jede externe Seite, die das Ströer-System nutzt, um programmatische Werbung schalten zu lassen, gibt notwendigerweise Daten der Besuchenden an den Konzern weiter.

Diese Datensammelwut lässt sich einordnen als zielgerichtetes Bestreben, eine von den übermächtigen globalen Giganten der Werbetechnologie unabhängige, eigene Targeting-Datenbank zu bespeisen. Mit den Folgen des Werbetrackings beschäftigt sich auch die Berichterstattung zu den sogenannten »Databroker Files«. Unter diesem Schlagwort setzen Journalist*innen sich damit auseinander, wie sehr insbesondere auf Handys erfasste Standortdaten Einzelpersonen identifizierbar und angreifbar machen.

Die meisten Ströer-Plattformen, die im Rahmen dieses Berichts überprüft wurden, erfassen über die Verbindungsdaten den ungefähren Standort, angeblich auf den Postleitzahlbereich genau, und außerdem die Werbe-ID des Mobilgeräts. Beides wird laut Datenschutzvereinbarung an Werbepartner weitergegeben. Die T-Online-App fragt zusätzlich auch Zugriff auf den genauen Standort an, wenn die Wettervorhersage benutzt werden soll. Dass Wetter-Apps oft benutzt werden, um genau diese Standortdaten von Nutzenden zu erhalten und sie für Tracking zu benutzen, ist ein alter Hut.

Auf Nachfrage des Radio FSK, ob diese online durch die Plattformnutzung erhobenen Daten auch für die Optimierung von Out-Of-Home-Advertising verwendet werden, hat die Ströer bis zur Veröffentlichung nicht geantwortet.

Das nennt man dann wohl »Synergie«

Digitale Werbebildschirme werden gern auch »Infoscreen« oder »Stadtinformationsanlage« genannt, da dort neben Werbung auch nützliche Hinweise wie Wettervorhersagen, Nachrichten oder Katastrophenwarnungen angezeigt werden können.

Diese Vermischung von Werbung und Information ist allerdings nicht ohne Kritik. »Für Betrachter:innen ist nicht unbedingt erkennbar, ob es sich bei den Inhalten um amtliche Mitteilungen, privatwirtschaftliche Werbung oder Kampagnen der Betreiberfirmen handelt«, steht im Text einer kleinen Anfrage der Linken-Abgeordneten Heike Sudmann an den Hamburger Senat aus dem Jahr 2022.

Mit näherer Betrachtung der angezeigten Inhalte lässt sich dieser Eindruck schnell bestätigen. Nicht immer ist klar, ob es sich bei einer Anzeige um eine Information oder um eine Werbung handelt, durch eingeblendete Logos erhalten auch die Informationen einen Werbecharakter. Auf die keine Anfrage antwortete der Hamburger Senat, dass die zur Ströer gehörende Deutsche Städte Medien auf ihren »Infoscreens« im öffentlichen Raum zu ca. 50 Prozent kommerzielle Inhalte anzeige. Eine Nachfrage des Radio FSK, wie dieser Wert zustande kommt, hat die Firma nicht beantwortet.

Fraglich ist er, weil viele der Inhalte, die von Betrachtenden als informativ interpretiert werden, von Ströer-eigenen Anbietern stammen, deren Logos stets gut sichtbar darauf platziert werden. Zwischen der gebuchten Werbung von Drittanbietern erscheinen immer wieder Schlagzeilen von T-Online, Quiz und Statistiken mit Statista-Logo, Nachrichten von Watson.de, Wettervorhersagen »powered by t-online« oder Inhalte anderer Ströer-Plattformen wie Kino.de, Giga oder Familie.de. Die genaue Mischung variiert je nach dem, wo der Screen betrieben wird. In der S-Bahn gibt es mehr Informationen von der Deutschen Bahn und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk als von Ströer-Plattformen, während im Außenbereich die hauseigenen Plattformen oft die einzigen »informativen« Sequenzen beisteuern. Denkbar, dass Ströer hierbei auf »image- und absatzfördernde Effekte von Branded Content« abzielt.

Ein großes Ziegelsteingebäude, über die Elbe hinweg fotografiert.
Das »Hanseatic Trade Center« in Hamburg, Sitz mehrerer Ströer-Firmen.

Wem gehören unsere kollektiven Daten?

Zusätzlich zu physikalischen Werbeträgern, diversen Online-Plattformen und einem Echtzeit-Marktplatz-System für Online-Werbung betreibt die Ströer-Gruppe Callcenter, Agenturen, Vertriebs- und IT-Dienstleister, bespielt Seiten in den sozialen Medien mit Inhalten, gibt selbst redaktionelle und Unterhaltungsmedien heraus, stellt Kosmetikprodukte her und bietet Statistiken und Zahlen in Form von »Data As A Service« an.

Rentabel sind die Geschäftszweige alle. Im Geschäftsbericht für das Jahr 2023 gibt die Ströer für das Segment »Out-Of-Home Media« einen Verdienst (EBITDA) von knapp 400 Mio. Euro an. Mit dem Online-Werbegeschäft und der programmatischen Vermarktung wurden zusammen über 150 Mio. Euro erwirtschaftet. Statista und Asambeauty bildeten mit rund 50 Mio. Euro EBITDA den kleinsten Geschäftszweig des Konzerns.

Aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Segmente ergibt sich ein selbstverstärkendes Gesamtkonzept. Die Ströer macht Werbung für die eigenen Plattformen, verkauft auf diesen Plattformen Werbeflächen und »Native Advertising«, also Werbung, die sich nahtlos in die Seite einfügt; durch die Plattformen sammelt sie dann Nutzungs- und Trackingdaten, die vermutlich wiederum für das gezielte Ausspielen der Werbung benutzt werden.

In einer Intro-Präsentation zu OS Data Solutions findet sich die Angabe, die Ströer-Gruppe erreiche mit ihren Daten aus erster Hand über 50 Millionen Individuen. Doch die Ströer verwendet nicht nur die eigenen Daten. OS Data Solutions wirbt mit einer Partnerschaft mit Xing, durch dessen Daten eine »höchste Targetingqualität« möglich sei, sowie mit »Intent-Daten aus dem Bereich Automotive« von Mobile.de. In der Präsentation zum 3. Quartalsbericht 2024 erwähnt Ströer eine Partnerschaft mit dem Mobilfunknetzbetreiber Telefónica, von dem sie Bewegungsdaten erhält. Diese Partnerschaft wurde durch eine Datenschutzanfrage bei Telefónica bestätigt. Eine vergleichbare Datenpartnerschaft mit der Telekom erwähnte Ströer 2023 in einer Pressemitteilung zu Targeting. Ob ein solches Abkommen auch mit Vodafone besteht, ist unbekannt. Alle großen Mobilfunkanbieter in Deutschland sammeln Bewegungsdaten und geben sie ohne Einwilligung der Kund*innen weiter. Auf die Zustimmung wird verzichtet, da es sich laut Angabe der Anbieter um vollständig anonymisierte Daten handele. Bei Telefónica und Telekom kann dennoch Widerspruch eingelegt werden.

Eigentlich ist es dank europäischer Datenschutzgesetze verboten, voneinander unabhängige Datensätze mit personenbezogenen Daten ohne informierte Einwilligung der Betroffenen miteinander zu vermischen. Doch die Werbebranche kennt hier einen Trick.

OS Data Solutions bietet auch sogenannte Data Clean Rooms (DCR) an, also Datenreinräume. Das bezeichnet einen Prozess, der mit dem labortechnischen Konzept eines Reinraums nichts zu tun hat. In einem DCR vermischen Parteien, die ihre erhobenen Daten eigentlich nicht miteinander teilen dürfen, ihre Datensätze. Das System zieht aus diesen Daten dann Schlussfolgerungen über Marktsegmente statt über Einzelpersonen.

Die Prozedur wird als datenschutzrechtskonform beworben, da es nicht möglich sein soll, die ursprünglich eingegebenen Daten wieder herauszuholen. Die Parteien können die Individualdaten der jeweils anderen Parteien demnach nicht einsehen, sondern nur auf die aggregierten, zusammengefassten Resultate zugreifen, die keine Rückschlüsse mehr auf einzelne Personen zulassen sollen.

Ein ausgedachtes Beispiel zur Veranschaulichung: Wenn eine der Parteien weiß, dass Klaus, Gabi, Holger und Annette die Werbe-IDs 101, 102, 103 und 104 besitzen und jeden Tag zwischen 17 und 18 Uhr von der Innenstadt zum Hauptbahnhof laufen, und die andere Partei weiß, dass vier Personen mit den Werbe-IDs 101, 102, 103 und 104 in letzter Zeit Babykleidung und Schwangerschaftsprodukte geshoppt haben, dann wird daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass werdende Eltern besonders häufig zwischen 17 und 18 Uhr von der Innenstadt zum Hauptbahnhof laufen. Über Klaus, Gabi, Holger und Annette als Individuen soll das System keine Angaben machen können.

»Wir vereinen die Daten von Deutschlands größtem Digital Vermarkter Ströer, führendem Job-Netzwerk XING, größtem Online Fahrzeugmarkt mobile.de sowie dem exklusiven PAYBACK Panel«, schreibt OS Data Solutions auf ihrer Webseite. »Auf Basis von über 50 Millionen Profildaten werden mit den Zielgruppen mehr als 80% von insgesamt 61 Millionen aktiven Usern im deutschen Markt erreicht.«

Anonymisierte Daten über ganze Gruppen unterliegen keinen Datenschutzgesetzen. Es gibt auch zunehmend weniger Möglichkeiten, sich der Erfassung von Daten zu entziehen. Wenn bereits die Mobilfunkanbieter Bewegungsdaten erfassen und zu Werbezwecken weitergeben – »datenschutzrechtskonform« – und wir durch den zunehmenden Digitalzwang nicht einmal mehr auf das Schnüffelgerät in der Hosentasche verzichten können, wird es immer schwieriger, sich gegen die Durchleuchtung zu wehren. Schon jetzt sind die Einschränkungen eines Lebens ohne Google- oder Apple-Account enorm, doch die sogenannte »Wahl mit dem Geldbeutel« erweist sich vollends als nichtexistent, wenn man sogar ohne Zustimmung zum Produkt gemacht wird.

Wie gläsern Individuen durch Werbetracking werden, ist wohl den Wenigsten wirklich klar, wenn sie genervt auf »Akzeptieren & weiter« klicken. Anzweifeln lässt sich auch, ob diese Einwilligung, wie nach Datenschutzgesetzen erforderlich, wirklich informiert ist, wenn auch nach vollständiger Lektüre der Datenschutzvereinbarung und Durchsicht aller angegebener »Partner« nicht nachvollziehbar ist, welche Rückschlüsse aus den Daten gezogen werden und an welchen Stellen die Erkenntnisse wofür verwendet werden.

Aber sogar dann, wenn man davon ausgeht, dass eine perfekte Anonymisierung erreichbar ist und angewendet wird, stellt sich immer noch die Frage, was wir davon halten, dass unsere gesamte Gesellschaft zunehmend überwacht, durchleuchtet und im Ganzen analysiert wird – zumal all das dem alleinigen Zweck dient, unsere Konsumentscheidungen so effektiv wie möglich beeinflussen zu können. Datenschutzgesetze erfassen lediglich das Recht von Individuen an ihren eigenen Daten. Wem aber gehört das Recht an unseren kollektiven Daten?

Werbebildschirm auf einem Bahnsteig. Beim Ströer-Logo wurden Buchstaben weggekratzt, daraus ergibt sich das Wort: Stör.
Technisch gesehen Vandalismus, aber vielleicht trotzdem als künstlerischer Ausdruck zu verstehen. Foto nicht von mir, verwendet mit Genehmigung, alle Rechte vorbehalten.

Branchentypisch und legal

Im Vergleich mit der restlichen Branche ist das, was der Ströer-Konzern macht, nichts Besonderes. Er kauft oder gründet Firmen, die sich gegenseitig bei ihren Geschäften unterstützen. Werbung wird gezeigt, wenn sie dem Kodex des Werberats entspricht und der Auftraggeber dafür bezahlt – ob das nun eine Supermarktkette ist mit Werbung für die Supermarktketten-App oder ein dubioser Gönner mit einer Großkampagne für die AfD.

Was an Datenerfassung und Datenhandel rechtlich möglich ist, wird vollständig ausgereizt. Doch obwohl der Konzern selbst angibt, über Daten von einem Großteil der deutschen Bevölkerung zu verfügen, backt die Ströer besonders im globalen Vergleich zu Google, Facebook oder Amazon immer noch sehr kleine Brötchen.

Was fehlt, ist die Wahlfreiheit. Einerseits werden Werbung und Information auf intransparente Art und Weise vermischt, indem Nachrichten und andere Inhalte von konzerneigenen Plattformen prominent angezeigt werden. Andererseits werden wohl die wenigsten Menschen damit rechnen, dass ihre online erhobenen Daten genutzt werden, um sie im physikalischen Raum, außerhalb ihrer eigenen Geräte, gezielt anzusprechen.

2023 gab Ströer in einer Pressemitteilung bekannt, dass sie mit ihrem Out-Of-Home-Advertising 81% der deutschen Bevölkerung erreiche. Die Ströer schreibt selbst: »OOH is the only Media that is unavoidable«. Und das stimmt, denn die Werbung verfolgt uns im Bus, im Bahnhof, auf der Straße und im Kiosk, und sie weiß, wann und an welchem Ort es am wahrscheinlichsten ist, Menschen wie uns anzutreffen. Dann wird sie uns genau das richtige Angebot machen – zehn Sekunden lang. Das ist nicht lang genug, um das Kleingedruckte zu lesen (auch nicht, um es zum Späterlesen zu fotografieren), sondern gerade lang genug, um durch beiläufige Aufmerksamkeit eine Markenassoziation zu bilden.

Die Firmen, die diese Werbeplattformen betreiben, haben Kontrolle über einen spürbaren Teil unseres Alltags, ohne dass wir es bemerken und ohne dass wir es verhindern können. Es bleibt die Frage, ob wir als ungefragtes Publikum damit einverstanden sind.

Auch die Städte stehen in der Pflicht, ihre Bürger*innen darüber zu informieren, welche Technologien im öffentlichen Raum eingesetzt werden. Politik muss im Interesse der Bevölkerung handeln, doch dafür muss die Bevölkerung zuerst die Möglichkeit bekommen, sich eine Meinung zu bilden. Durch den zunehmenden und mittlerweile umfassenden Einsatz von Targeted Advertising hat sich das Konzept von Außenwerbung fundamental verändert. Ein informierter, faktenbasierter Diskurs in Gesellschaft und Politik über die neuen Bedingungen ist überfällig.

Themen: qualitätstext, digital, infodump, datenschutz

Ich wollte die Re:Fuse besuchen und das Maskenthema hat mir den Tag versaut

03. November. 2024

»Solidarität ist unsere Waffe,« heißt es auf der Internetseite für die Re:Fuse-Konferenz, die dieses Wochenende in Hamburg stattgefunden hat, »so bitten wir euch, im Rahmen eurer Möglichkeiten, euch an unser Infektionsschutzkonzept zu halten«. Man soll nicht krank zur Veranstaltung kommen, soll am Eingang einen Schnelltest machen. »Tragt eine Maske«, steht dort auch. »Für Menschen mit einem schwachen Immunsystem oder anderen Risiken machen Masken unseren Kongress sicherer und zugänglicher.«

Nach der Lektüre dieses Konzepts bin ich optimistisch, auch wenn ich es im fünften Pandemiejahr eigentlich besser wissen sollte. Am dritten Konferenztag gehe ich hin, in Begleitung einer anderen infektionsunwilligen Person. Wir haben beide ein hohes Risiko für Langzeitfolgen und ich persönlich möchte nicht zurück ins Bettleben, also vermeide ich jede Infektion, egal mit was.

Am Einlass an der Roten Flora trägt niemand eine Maske, auch nicht die Person, die uns die Regeln der Konferenz erläutert. Aus dem »Tragt eine Maske«, Punkt, wird hier ein Hinweis, dass Masken getragen werden sollen, »wenn es eng und voll wird« und »wenn es möglich ist«. Kein Wort mehr über Solidarität und Menschen mit Risiko. Die Person auf dem Posten wirkt verlegen über dieses bis zum Verschwinden ausgedünnte Konzept. Klarere Worte findet sie zum Datenschutz: Audio- und Videoaufnahmen sind verboten, Punkt. Nicht nur, wenn es eng und voll ist und nicht nur, wenn es uns möglich ist. Offenbar können die Veranstaltenden also doch klare Regeln setzen.

Wir gehen trotzdem rein, lassen an der Info-Theke eine Spende da, bekommen Stempel und Karte und gehen uns umschauen. Am Ende des Flurs liegt ein Saal voller Menschen, dicht gedrängt in engen Sitzreihen, rappelvoll. Durch die Tür sehe ich zwei Personen mit Maske, der Rest sitzt ohne dort. Ob ein Fenster offen ist, kann ich nicht erkennen, aber so stickig, wie die Luft ist, können es nicht genug sein. Im Obergeschoss ist ein zweiter Saal. Der sieht genauso aus.

Es ist erst kurz nach drei. Um achtzehn Uhr findet eine Vernetzungsveranstaltung für Ableismusbetroffene statt, an der wir teilnehmen wollen. Die Stunden vorher wollte ich nutzen, um neue Leute kennenzulernen und etwas über Themen zu lernen, die ich weniger gut kenne. Eine Konferenz eben, mit allen Freiheiten und Möglichkeiten, die Nichtbehinderte auch gerne nutzen!

Ernüchtert stolpern wir zurück zur Info-Theke. Jetzt fällt mir auch auf, dass auf einem Tisch im Eingangsbereich zwei Packungen Masken stehen, als hätte man sie abgestellt und dann vergessen. Was wohl passiert wäre, hätte man allen Ankommenden direkt diese Packungen unter die Nase gehalten und nochmal was über Solidarität gesagt?

Wir fragen, wo die Ableismus-Veranstaltung stattfindet: An der Uni. Ein Hoffnungsschimmer? Vielleicht sind die Räumlichkeiten dort weniger risikoreich. Aber schon, als wir vor dem Café Knallhart ankommen, sehen wir, dass unsere Anwesenheit auch hier nicht vorgesehen ist.

Natürlich, unsere Masken schützen uns. Aber keine Maske ist hundertprozentig dicht, besonders nicht dann, wenn man spricht oder sich bewegt. Je stickiger die Luft, je mehr Leute sie schon ein- und ausgeatmet haben, desto stärker reichern sich Infektionserreger darin an. Geringer ist die Belastung, wenn auf saubere Luft geachtet wird: Ideal ist ein großzügiger Luftaustausch, damit die Luft so frisch ist wie im Freien. In den meisten Innenräumen ist das nicht möglich. Dann müssen Infektionserreger aus der Atemluft entfernt werden. Das geht entweder mit einem Luftreiniger in entsprechender Dimensionierung oder durch kollektives Masketragen, um die Viren schon an der Quelle abzufangen. Wenn die Luft sauber ist, kann die eigene Maske auch mal ein bisschen verrutschen oder undicht sein, ohne dass man sich sofort ansteckt. Ein stickiger Raum voller verbrauchter, ungefilterter Luft hingegen, das ist auch mit Maske gefährlich.

Deshalb betreten wir das Café Knallhart ebenfalls nur kurz. Hier sitzen die Menschen nicht ganz so eng gedrängelt, es ist eben ein Café, aber wir gehen gar nicht erst zum Veranstaltungsraum, denn bis auf ein oder zwei Personen trägt auch hier niemand eine Maske. Enttäuscht flüchten wir wieder nach draußen. Ich bin so frustriert und sauer, dass ich eigentlich schon wieder heimfahren will. Meine Begleitung ärgert sich und schlägt vor, zumindest mal zu fragen, ob man die Maskenpflicht irgendwie einfordern kann.

Wir sprechen zwei Leute von der Orga an, die sich offen und hilfsbereit zeigen. Sie hören uns zu, halten Rücksprache und melden uns zurück, dass es möglich ist, die Veranstaltung später mit Maskenpflicht durchzuführen. Sie wollen noch ein paar Masken besorgen gehen. Wir bedanken uns und setzen uns zum Warten draußen auf eine Bank. Es ist 16:30 Uhr und zehn Grad kühl. Waren bei unserer Ankunft noch ein paar andere Leute draußen, ziehen diese sich bald wieder ins warme Innere zurück. Schnell sitzen wir allein vor dem Café. Die Sonne geht unter, die Temperatur fällt. So wird das wohl nichts mit dem Leute Treffen und Dazulernen.

Nach einer halben Stunde kommt eine der Orga-Personen nochmal raus, um uns ein Getränk anzubieten. Wir bekommen Kaffee, der die Finger zumindest für ein paar Minuten wieder auftaut. Meine Begleitung hat das Strickzeug ausgepackt und ich meinen Laptop, um diesen Text anzufangen. Das ist der Stand von Solidarität und Inklusion im Jahr 2024: Enttäuschung, Kälte, Einsamkeit und ein Trostkaffee.

Beim Vernetzungstreffen für Ableismusbetroffene funktioniert es mit der Maskenpflicht. Alle Anwesenden tragen eine. Wir haben einige gute Gespräche, es ist eine produktive und konstruktive Veranstaltung. Am Ende unterhalte ich mich mit einer Person, die bei der Orga dafür gekämpft hat, dass das Thema Infektionsschutz überhaupt auf dem Schirm ist. Man merkt der Person an, wie viel Energie sie da reingesteckt hat und wie erschöpft sie ist. Einen merklichen Unterschied hat der erhebliche persönliche Einsatz für uns als Besuchende nicht gemacht.

Auch in vermeintlich progressiven Kontexten wiederholt sich so das alte Lied: Behinderte kämpfen für Barriereabbau, aber es bleibt ein Kampf gegen Windmühlen. Kaum jemand ist gewillt, auch nur die kleinste Unannehmlichkeit hinzunehmen, um ihnen den Zugang zu ermöglichen.

Ja, ich verstehe, dass ihr keinen Bock mehr auf die Masken habt. Wisst ihr, wer nach fünf Jahren ebenfalls wirklich, absolut, überhaupt keinen Bock mehr auf die scheiß Teile hat? Die Leute, die ohne Maske nichtmal den Müll rausbringen können. Die Leute, die sauteure, hochwertige Masken kaufen und sie trotz Stauballergie und juckenden Augen bis zum Gehtnichtmehr wiederverwenden, weil im Grundsicherungssatz exakt null Euro für Infektionsschutz vorgesehen sind.

Denn nicht nur die Unbequemlichkeit wird vollumfänglich auf Behinderte abgewälzt, sondern auch die Kosten: Teure Masken, die uns auch in Hochrisikosituationen noch schützen. Nasenspray für fünfzehn Euro pro Fläschchen. Luftreiniger in der Wohnung, weil die Tür zum Treppenhaus zwangsweise manchmal geöffnet werden muss, Ersatzfilter jedes halbe Jahr. Ein PlusLife-Testgerät, um eine zuverlässige Testmöglichkeit für unseren Besuch zu haben – das Gerät kostet ohne Rabattcode übrigens deftige 255 € und ein einzelner Test auch mit Rabattcode noch sechs Euro. Ein sinnvoller tragbarer CO₂-Sensor kostet ebenfalls über zweihundert Euro. Ich lebe unterhalb des Existenzminimums. Meine Schuhe sind von Kleinanzeigen und mein Laptop von der Computertruhe.

Auch ich fände es schön, in einem Raum voller Menschen sicher genug zu sein, um die Maske kurz abnehmen zu können, wenn das Asthma mal wieder kickt. Oder wenn ich einen Schluck Wasser brauche. Immerhin: Ich bin privilegiert in der Hinsicht, dass ich durchgängig Maske tragen kann. Das Asthma ist nicht schlimm genug, dass ich damit rechnen muss, mir plötzlich und dringend die Maske runterreißen zu müssen, um ein Spray zu inhalieren. Ich trage auch keine Sauerstoff- oder Ernährungsschläuche, die einen dichten Sitz der Maske unmöglich machen. Ich kriege keine Panikattacken, wenn ich eine Maske aufhabe. Menschen mit solchen Schwierigkeiten müssen sich entscheiden: Entweder sie geben ihr Leben vollständig auf oder sie setzen es täglich aufs Spiel.

Ich kann verstehen, warum sich viele dafür entscheiden, drauf zu scheißen. Irgendwie muss man ja trotzdem leben, auch wenn man dabei stirbt. Aber wäre es nicht besser, wenn es eine dritte Option gäbe? Wenn auch Menschen mit hohem Risiko irgendwo, und ich meine irgendwo, in dieser Gesellschaft akzeptiert und geschützt wären?

Es gibt keine Eigenverantwortung. Infektionsschutz ist Gesellschaftssache. Es müssen auch nicht immer Masken sein: Frischluft ist vollkommen kostenlos und wo sie baulich nicht so gut verfügbar ist, lässt sich mit Luftreinigern Abhilfe schaffen. CO₂-Sensoren helfen dabei, die Situation korrekt zu bewerten. Und wenn Menschen sich angewöhnen würden, zumindest dann eine Maske zu tragen, wenn sie krank sind oder sich in einem stickigen Innenraum befinden, würden die Infektionszahlen wohl schnell auf ein erträgliches Level fallen.

Stattdessen müssen behinderte Menschen sich zwischen Isolation und Lebensgefahr entscheiden. Viele wählen die Lebensgefahr. Letzte Woche sind 186 Menschen an Corona gestorben. Was glaubt ihr, wer diese Menschen waren? Ihr wollt ungehindert frei atmen können? Ich auch, verdammte Scheiße nochmal!

In einem Verein, wo ich Mitglied bin, funktioniert es mit dem Infektionsschutz. Es gibt in den Vereinsräumen keine allgemeine Maskenpflicht, sondern eine Regel, dass Maskenpflicht gilt, sobald eine einzige Person sie ausspricht – eine Regel, die ich anfangs als ›Bettellösung‹ kritisierte, inzwischen aber liebgewonnen habe. Das liegt vor allem daran, dass niemand mehr diskutiert, wenn die Maskenpflicht ausgerufen wird. Es passiert regelmäßig, es ist normal. Masken stehen immer zur Verfügung. Vor ein paar Wochen hatten wir Mitgliederversammlung, der ganze Raum war vollgestopft mit Menschen. Alle drei Luftreiniger liefen auf mittlerer Stufe, die Fenster waren offen, bis auf zwei Personen trugen alle eine Maske und die Risikogruppe konnte ohne Bedenken teilnehmen.

Das funktioniert alles so gut, weil wir feste Verhaltensregeln haben. Wann und wie wird Maskenpflicht ausgesprochen, wie wird darauf reagiert, und wie machen wir das mit dem Essen und Trinken? Technische Lösungen unterstützen: Die Luftreiniger, die CO₂-Sensoren.

Der Kampf für öffentliche Gesundheit ist nicht so hoffnungslos, wie es uns manchmal erscheint. Wenn die Strukturen geschaffen werden, um schwächere Mitglieder der Gesellschaft zu schützen, ist gleichberechtigte Teilhabe immer noch möglich, trotz grassierender Infektionskrankheiten. Es geht aber nur, wenn die Personen mit Risiko nicht ganz allein für ihr Existenzrecht einstehen müssen.

Themen: rant, corona

Mehr Steine als Weg: Wie kranken Menschen der Zugang zu Unterstützung systematisch verwehrt wird

28. October. 2024

Menschen sitzen auf dem Boden und halten Schilder wie: Ableismus tötet, und: unhaltbar, und: unerhört.
Foto von einer Liegenddemo für Versorgung von ME/CFS-Erkrankten im August 2024

Juni 2024. Nach monatelanger Wartezeit findet endlich der Termin bei meiner neuen Hausärztin statt. Sie hat die Praxis übernommen; wir kennen uns noch nicht. Seit Frühjahr geht es mir wieder schlechter, ich kann meinen Alltag nicht mehr bewältigen, obwohl ich schon lange berentet bin. Was mir fehlt, weiß ich noch immer nicht, aber ich weiß, dass meine Symptome sich verstärken, wenn ich mich anstrenge.

Anfangs gibt die Ärztin sich verständnisvoll, doch sie weiß nicht, wie sie mir helfen soll. Ich sage so etwas wie: »Eigentlich brauche ich einen aktuellen Arztbericht, der letzte ist von 2017«, weil ich wie früher schon einmal Haushaltshilfe beantragen möchte und weiß, dass ich ohne einen medizinischen Nachweis nichts bekommen werde.

Mit dieser Bitte beginnt das mühsame Verständnis zu zerfallen. Die Allgemeinärztin möchte mir weismachen, ich hätte eine leichte bis mittelschwere Depression, nur eben ohne Gemütstrübung, womit es per Definition keine Depression sein kann. Ab dem Punkt weiß ich eigentlich schon, dass ich hier keine Hilfe bekommen werde, doch ich sitze in dem Gespräch fest. »Ich glaube, dass man sich da langsam steigern muss«, befindet die Medizinerin; es reicht wohl nicht, dass ich das jahrelang versucht habe. Dass ich nach Überanstrengung so schwach werde, dass ich kaum ein Wasserglas hochheben kann, diagnostiziert sie als Dekonditionierung: »Das ist klar, dass man immer schwächer wird, wenn man immer weniger macht.« Angeblich hätte ich Angst, dass meine Symptome auftreten könnten und würde deshalb Aktivität vermeiden.

Nach minutenlangem Hin und Her, in dem ich nur noch aus Trotz widerspreche, kommt der Satz, der jede Grenze des guten Benehmens und der wissenschaftlichen Evidenz überschreitet: »Man kann sich selbst zu einem Krüppel im Bett mutieren.« Danach kommen weitere Sätze, die ich nicht mehr höre. Ich sehe, wie sich ihr Mund bewegt, doch ich höre nur noch Rauschen in meinen Ohren. Ich stehe auf und teile ihr mit, dass ich mir jemand anderen suchen werde, wünsche einen schönen Tag und gehe. Zum Abschied nennt die Ärztin meinen Nachnamen, betont extra noch das »Herr« davor, um zu demonstrieren, dass sie immerhin meine Transidentität respektiert. Ich tippe noch auf dem Heimweg ein paar der Sätze, die meine ehemalige Hausärztin von sich gegeben hat, in mein Handy. Warum habe ich es überhaupt versucht? Ich weiß doch, dass ich nicht die Kraft habe, für Unterstützung und Teilhabe zu kämpfen.

Diese Geschichte ist nichts Besonderes. Wo auch immer chronisch kranke Menschen sich austauschen, beschreiben sie ähnliche Erfahrungen. Inzwischen ist auch in der breiteren Gesellschaft bekannt, dass es schwer sein kann, in medizinischen Kontexten ernstgenommen zu werden. Doch ausgerechnet das ist die Voraussetzung dafür, um sich überhaupt für Leistungen zur Versorgung und Teilhabe zu qualifizieren. Die Voreingenommenheit, Fehlinformation und Schuldzuweisungen begegnen Hilfesuchenden jedoch nicht nur in Arztpraxen. Bei jedem einzelnen Schritt werden ihnen Steine, nein, Felsbrocken in den Weg gelegt.

In Medien fallen Schlagworte wie »Pflege in der Krise« oder »Versorgungsnotstand«: Personen mit unstrittigem Bedarf an medizinischer Versorgung und Pflege erhalten diese oft nicht oder in mangelhafter Qualität. Aus dem eigenen Leben weiß man, wie schwer es sein kann, fachärztliche Termine oder Psychotherapie zu bekommen. Weniger bekannt ist das große Feld von Unter- und Nichtversorgung von Personen, die dringend Hilfe brauchen und keine bekommen. Teilweise können diese Menschen sich noch mit einem Job irgendwie über Wasser halten, andere sind den größten Teil ihres Tages bettlägerig und können die eigene Grundversorgung nicht ohne Hilfe stemmen.

Menschenwürde und Lebensqualität sind für zahllose kranke und behinderte Personen immer noch Wunschträume, obwohl sich eigentlich viel getan hat. Von staatlicher Seite wurde zum Beispiel durch das Persönliche Budget, die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention, die Förderung der Teilhabeberatung, durch Eingliederungshilfe und das Bundesteilhabegesetz versucht, die Möglichkeiten zu erweitern. Doch die Diskriminierung ist in unserer Gesellschaft so tief verankert, dass diese Verbesserungen bei manchen Gruppen einfach nicht ankommen.

Stell dir vor, du bist behindert und niemand glaubt es dir

Nach dem Termin im Sommer habe ich mich nicht weiter um das Thema Haushaltshilfe gekümmert. Genau wie in den Jahren davor habe ich den Aufwand für das Erstreiten größer eingeschätzt als die erreichbare Entlastung. Und bis auf zwei, drei Stunden Hilfe pro Woche hatte ich ja schon alles: Arbeitsunfähigkeit und Schwerbehindertenausweis hatte ich mir schon vor Jahren erkämpft.

Doch so geht es nicht allen. Eigentlich soll der Schwerbehindertenausweis Zugang zu Nachteilsausgleichen für die Behinderung ermöglichen. Tatsächlich ist das Vorhandensein einer Behinderung dafür lange nicht ausreichend; man muss sie diagnostizieren, dokumentieren und behandeln lassen und sich im Anschluss mit dem Versorgungsamt einen Streit darüber liefern, ob diese Behinderung nun bei aller Dokumentation wirklich existiert oder nicht.

So berichtet es auch Robert aus Wiesbaden, der versucht hat, einen angemessenen Grad der Behinderung (GdB) zu erhalten. Ich kenne Robert nicht persönlich. In meinem privaten Umfeld sehe ich viele ähnliche Geschichten, aber ich halte es nicht für sehr seriös, einen langen Text nur über die Probleme meiner Freund*innen zu schreiben. Darum habe ich, wie man das heute so macht, auf den sozialen Medien nach weiteren Erfahrungsberichten gefragt.

Robert beschreibt seine Lage kurz und knapp mit den Worten: »Amtlich auf Papier noch zu fit für Ansprüche.« Bei der Feststellung des GdB wurde seine »psychosomatische Schmerzstörung aus dem Jahre 2014/2015 […] direkt mit 20 eingestuft«, schreibt er, und weiter: »Meine Depression wurde in die Schmerzstörung eingerechnet«. Er sei so gering eingestuft worden, weil keine Befunde zu Krisen vorlägen und er keine längeren stationären Aufenthalte gehabt habe. Warum er das ungerecht findet: »Der Umstand, dass ich mich wirklich nach besten Mitteln und Wissen durch den Alltag zur Arbeitsfähigkeit kämpfe, bleibt hier absolut außen vor.«

»Dann kam die Pandemie mit Corona und seit meine[r] ersten Infektion Dez. 2023 habe ich nun PostCovid«, erzählt er, und dadurch habe er auch »Fatigue/Brainfog mit Verdacht auf ME/CFS mit positivem Screening auf PEM«. Fatigue ist ein starker Erschöpfungszustand; der Begriff Post-exertionelle Malaise (PEM)) beschreibt, dass sich nach jeglicher Anstrengung erhebliche Krankheitssymptome einstellen. PEM und Fatigue sind Kernbestandteile der Krankheit ME/CFS, um die es hier auch später noch gehen wird. »Mein Mann übernimmt daher sämtliche Carearbeit als Hauptverdiener und in 40h Arbeit«, berichtet Robert weiter. »Kochen konnte ich vor COVID nicht immer ohne Symptome, da ich nicht immer so lange stehen kann ohne Schmerzen, seit COVID helfe ich an guten Tagen nur noch beim Schneiden«.

Zum Job schreibt er: »Ich arbeite aufgrund meiner Gesundheit nur noch 30h die Woche«, möglich seien ihm bei viel Flexibilität und voller Remote-Arbeit 2-3 Stunden symptomfreies Arbeiten. »Ich mach das jedoch sehr gerne«, erklärt er, »meine Gesundheit ist hier nur leider mein größerer Gegner.« Für die Hilfsbereitschaft seiner Kolleg*innen ist er dankbar, und dennoch muss er für sich selbst einstehen: »Ich kläre für eine bessere Situation ehrenamtlich mein ganzes Berufsumfeld über meine Krankheiten auf.«

Auf einen Termin bei der Long-Covid-Ambulanz in Wiesbaden wartet Robert bislang vergebens. Im Spätsommer habe er nachgefragt und erfahren, dass seine Überweisung von Mai noch nicht bearbeitet wurde. Einen Pflegegrad habe er gar nicht erst beantragt, denn er geht nicht davon aus, eine Einstufung zu erhalten: »Wenn wir eine bekommen würden, dann vermutlich nur mit ausreichenden Kenntnissen zum [Sozialgesetzbuch] und Erstreiten des Rechts – wofür ich keine Kraft habe.« Die Infektionslage in Deutschland stellt eine weitere Hürde dar: »Dazu holen wir uns bei Pflege und Hilfe immer das Risiko mit ins Haus, erneut COVID zu bekommen, was insbesondere für mich stark gefährdend wäre.«

So bleiben Robert und sein Mann mit der Situation weitestgehend allein. Der Ton seitens der Behörden belastet ihn merklich: »Es wird immer davon ausgegangen, dass ich als Bürger mir etwas erschleichen will«. Er habe nie gedacht, dass es so schlecht aussieht für Betroffene: »Auch ich habe mal gedacht, zusammenreißen und nur viel leisten, [das] bewahrt vor solchen Schieflagen.« Was er sich wünscht? »Ernsthafte Solidarität in der Gesellschaft, die auch in einem Handeln mündet. Jeder kennt die Missstände, alle haben Sorgen, nur niemand fordert das System heraus.«

Stell dir vor, du bist behindert und niemand kann deine Behinderung richtig bewerten

Und was ist mit Menschen, die einen höheren Hilfebedarf haben? Wer sich nicht mehr selbst versorgen kann, bekommt auch Hilfe, oder?

Wer krank wird, erhält nicht eines Tages eine hübsche Broschüre und eine Schulung zu Leistungsansprüchen. Kranke Menschen wissen nicht mehr als der Rest, und wer unter den Lesenden, die sich nicht aus beruflichen Gründen mit dem Thema auskennen, weiß schon, was der Unterschied zwischen Pflege, Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe und Persönlichem Budget ist und unter welchen Umständen worauf ein Anspruch besteht? Die Pflege ist wohl den meisten noch ein Begriff. Wer erstmalig Hilfe braucht, setzt oft dort an.

Als es mir gesundheitlich am schlechtesten ging, das war 2016 oder 2017, habe auch ich zuerst einen Pflegegrad beantragt. Ich kam kaum noch aus dem Haus, schaffte die Treppen oft nur auf allen Vieren, konnte mich nur alle ein bis zwei Wochen duschen und hatte große Schwierigkeiten, meine Wohnung sauber genug zu halten, um ungehindert vom Bett bis aufs Klo zu kommen.

Die Feststellung eines Pflegegrades erfolgt anhand von Modulen. Bewertet werden Bewegungsfähigkeit, Orientierung und Kommunikationsfähigkeiten, Problemverhalten, Selbstversorgung (Körperpflege, Toilettengang, Nahrungsaufnahme), Unterstützungsbedarf bei medizinischer Versorgung sowie Alltagskompetenzen. Nicht berücksichtigt werden außerhäusliche Aktivitäten und Haushaltsführung; die Pflegekasse ist für Aufräumen, Einkaufengehen und Kochen nicht verantwortlich. Jedes der Module wird einzeln bewertet und die Punkte zu einem Gesamtwert verrechnet. Genau nachlesen kann man das alles in den Richtlinien des Medizinischen Dienstes Bund zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit.

Das Bewertungsschema ist für viele Fälle nicht klar definiert. Ist es unselbständig, wenn ich mich selbständig waschen kann, nur eben zu selten? Wie werden Tätigkeiten bewertet, die ich ohne Hilfe ausführen kann, aber nicht ohne einen Preis in Form von Schmerzen oder verstärkten Symptomen zu bezahlen? Was ist mit Dingen, die auch mit Hilfe nicht möglich wären, weil ich einfach zu krank dafür bin – hat mein Körper dann selbständig entschieden, sie bleiben zu lassen? Wenn die Häufigkeit medizinischer Versorgung angegeben werden soll, wie wird Versorgung bewertet, die dringend stattfinden müsste, aber ohne Unterstützung nicht kann?

Der Medizinische Dienst steht in der Pflicht, Richtlinien zu schaffen, mit denen solche Krankheitsbilder korrekt bewertet werden können. Auf Anfrage gibt dieser an: »Es geht immer um die Bewertung der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten in den Modulen des Begutachtungsinstruments.« Zu medizinischer Versorgung, die ohne Unterstützung nicht stattfinden kann, verweist er auf Hausbesuche, erklärt aber auch, es sei »der erforderliche Hilfebedarf zu bewerten, sofern dieser regelmäßig und auf Dauer erforderlich ist.« (Link zum Volltext der Stellungnahme)

Die Erfahrung zeigt, dass Pflege- und andere Bedarfe nur selten ohne Nachweise und Arztberichte anerkannt werden. Dies streitet der Medizinische Dienst ab: »Der pflegerische Hilfebedarf wird nicht ausschließlich und in erster Linie über medizinische Fremdbefunde festgestellt. Diese können Teil der Informationssammlung bei der Pflegebegutachtung sein. Es hängt immer vom individuellen Einzelfall ab, ob zusätzlich zur Befunderhebung durch die Gutachterin oder den Gutachter weitere medizinische oder therapeutische Berichte erforderlich sind, um den Grad der Selbstständigkeit einschätzen zu können.« Ein solcher Fall ist in den Richtlinien nicht beschrieben, dort wird lediglich erwähnt, dass »Beginn und Verlauf der Erkrankungen, die ursächlich für die gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind, zu schildern« sind. Wie das gehen soll, wenn die Erkrankungen nicht diagnostiziert oder bekannt sind, bleibt fraglich.

Ohne klare, passende Richtlinien wird den Begutachtenden ein großer Interpretations- und Ermessensspielraum eingeräumt. Bei meiner eigenen Begutachtung wurde über die Folgen des selbständigen Ausübens meiner Selbstversorgung großzügig hinweggesehen und ich erhielt am Ende den niedrigsten Pflegegrad.

Ein Stapel dicker Ordner voller Papier auf einem Couchtisch fotografiert.
Medizinische Berichte, Anträge, Ablehnungen, Klagen, Gutachten – da kommen oft mehrere Kilo Papier zusammen. Kein Symbolbild, sondern echtes Foto von echten Unterlagen.

Stell dir vor, du bist behindert und du kannst es beweisen und du bekommst trotzdem keine Hilfe

Dass sogar einschlägige Diagnosen nicht zu angemessener Bewertung des Pflegebedarfs führen, berichtet MeckerMutti, die bei ihrem Online-Pseudonym genannt werden möchte und sich ebenfalls auf meine Anfrage gemeldet hat. Wie Robert ist auch sie aus Notwendigkeit zur Aktivistin geworden. Ihre Profile auf den sozialen Medien sind voller Informationslinks zu ME/CFS und Hashtag-Kampagnen. »Psychohygiene betreibe ich mit meinem Aktivismus«, schreibt sie mir. »Mit anderen zu teilen, was ich erlebe, was ich herausfinde, was nutzen oder helfen kann. Laut zu werden gegenüber Politik und den Verantwortlichen.«

ME/CFS ist eine Erkrankung, deren Hauptsymptom eine knochentiefe Erschöpfung ist, die sich durch Anstrengung verschlimmert. Dass die Versorgungslage von Personen mit ME/CFS dramatisch ist, ist inzwischen ebenso bekannt wie die Tatsache, dass es sich um eine körperliche Erkrankung handelt, die unter anderem durch eine Corona-Infektion ausgelöst werden kann.

Auch MeckerMutti hatte Schwierigkeiten, die richtige medizinische Versorgung zu finden. »Meine damalige Hausärztin hat mir lediglich ein Multivitamin-Präparat verordnet und, wie ich später feststellen musste, diverse Psycho-Diagnosen verpasst.« Später habe ein anderer Arzt ihr die Diagnose Neurasthenie gestellt, eine Diagnose aus dem späten 19. Jahrhundert, die als überholt gilt und im 2018 veröffentlichten ICD-11 nicht mehr vorhanden ist. In Deutschland wird noch das ICD-10 von 1994 verwendet.

»Ich habe mich dann für einen Termin in der Covid-Ambulanz Ulm angemeldet, der Ende Februar 2023 stattfand«, erzählt MeckerMutti. Dort wurde sie mit ME/CFS diagnostiziert. Ihren derzeitigen Hausarzt beschreibt sie positiver: »Ich bringe ihm Informationen und wir beraten, was für mich einen Nutzen bringen könnte.« Zusätzlich war sie in einer neurologischen Ambulanz, hat zahlreiche Tests über sich ergehen lassen, obwohl sich durch die Belastung ihr Zustand verschlechtert: »Weitere Diagnostik kann ich nicht mehr betreiben, da dies jedes Mal zu einem Crash führt«. Ein sogenannter Crash ist eine auf Überlastung folgende massive Verstärkung der Symptome, die Tage oder Wochen andauern und sogar dauerhaft bleiben kann. Die einzige bekannte Methode, um einen Crash zu verhindern, ist Pacing, also ein kontrolliertes Einteilen und Reduzieren des Aktivitätslevels, um die Überlastungsschwelle niemals zu überschreiten.

Die zweimal bestätigte Diagnose sollte zusammen mit MeckerMuttis schwerer Symptomatik eigentlich ausreichen, um die nötige häusliche Versorgung zu erhalten. »Bell 20«, beschreibt sie ihren eigenen Zustand. Die Bell-Skala ist ein System, um den Schweregrad von ME/CFS zu bewerten. Eine 20 auf dieser Skala bedeutet eine schwere Beeinträchtigung, die jegliche Belastung zu einer Tortur macht. Erkrankte mit diesem Funktionswert können nur selten das Haus verlassen und sind die meiste Zeit bettlägerig. Gepflegt wird MeckerMutti vor allem von ihrem Mann, den sie gern entlasten würde: »Ich mache mir Sorgen, dass er irgendwann aus den Latschen kippt.«

Der Medizinische Dienst, der für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit zuständig ist, sieht das anders. Im Januar 2024 beantragt MeckerMutti einen Pflegegrad. »Hierzu habe ich im Vorfeld der Begutachtung eine Info-Mappe nach den Empfehlungen der Fatigatio e.V. [Link: Fatigatio] an die Pflegekasse geschickt«, berichtet sie. »Dort waren alle Diagnosen enthalten, Erläuterungen zu ME/CFS und PEM, ein Pflegetagebuch und eine Selbsteinschätzung«. Nach jener dürfte sie Pflegegrad vier haben. Damit hätte sie Anspruch auf Pflegedienststunden im Wert von 1778 € – also Pflege mehrmals die Woche oder täglich.

Doch einen Monat nach Antragstellung erhält sie den Bescheid: Pflegegrad eins. Das bedeutet einen Entlastungsbetrag von 125 €, der maximal für vier Stunden monatlich reicht und nicht ausgezahlt werden kann. »Das Gutachten ist von vorne bis hinten voller Lügen«, beanstandet MeckerMutti. »Ich könnte arbeiten, Treppensteigen und vieles mehr völlig selbständig tun.« Dabei kann sie nur noch in Innenräumen zehn Meter mit dem Rollator gehen: »Für Wegstrecken außerhalb und darüber hinaus benötige ich einen Elektro-Rollstuhl.« Bei der Begutachtung sollte sie demonstrieren, wie sie aufsteht, musste den Versuch jedoch aufgrund starker Schmerzen abbrechen. »Ich lag etwa 50 Minuten der Begutachtung still im Bett, nach dem gescheiterten Aufstehversuch mit Schlafmaske.«

In Bezug auf die Begutachtungsrichtlinien und die Fachkenntnisse der Begutachtenden sieht der Medizinische Dienst weder Handlungsbedarf noch Probleme und schreibt: »Die Auswirkungen von ME/CFS können auch im Rahmen der aktuell gültigen Begutachtungs-Richtlinien angemessen berücksichtigt werden«. Und weiter: »Zusätzlich haben die Gutachter fachliche Grundlagen und Schulungen zu ME/CFS erhalten.«

Das Pflegegutachten, das über MeckerMutti erstellt wurde, macht diese Aussage zumindest fragwürdig. Es enthält interessante Empfehlungen zur Verbesserung ihrer Situation wie beispielsweise Rehabilitationssport, Miteinbindung eines Psychiaters sowie Gedächtnistraining durch Memory oder Brettspiele. Auch gibt das Gutachten an, dass ihre Selbständigkeit durch Therapiemaßnahmen und Medikation verbessert werden könnte. Für ME/CFS gibt es keine Medikamente und keine kausalen Therapien. Einige Studien belegen Wirksamkeit von Verhaltenstherapie, doch eine Wirkung, die über das Vermitteln von Pacing-Strategien und emotionale Unterstützung hinausgeht, ist umstritten.

Es ist nichts Neues, dass ME/CFS und ähnliche Krankheiten psychologisiert und nicht ernstgenommen werden. MeckerMutti legt Widerspruch ein, erhält im Juni eine Ablehnung nach Aktenlage und ohne detaillierte Begründung für den Verzicht auf eine erneute Begutachtung. Ein weiterer Widerspruch wird ebenfalls abgelehnt, es bleibt die Klage als letzte Option. MeckerMutti schreibt, all das sei »ohne Unterstützung eine enorme Belastung, ohne nachfolgende Crashs eigentlich nicht zu bewältigen.« Sie muss sich um alles selbst kümmern: »Mein Mann ist Legastheniker, mein Sohn neurodivergent«.

Wie lässt sich diese Belastung für die Betroffenen verringern? MeckerMutti findet: »Ein Briefkasten voller Flyer ist für mich/uns nicht die Lösung. Es sollte einen Menschen geben, der, wenn man die Diagnose hat, zu einem nach Hause kommt, alle erforderlichen Anträge ([Pflegegrad], GdB, usw.) abarbeitet und die Anträge für einen ausfüllt. Der sich dann mit den Bescheiden und Behörden auseinandersetzt, eine Rechtsvertretung einschaltet bei Bedarf, alles ›Ungemach‹ von den Betroffenen fernhält und sich bis zum hoffentlich erfolgreichen Abschluss der Verfahren kümmert. Einen Verwalter sozusagen. Oder Betreuer. Nicht für jedes Thema einen anderen, dem man erst wieder die Krankheit und die Probleme damit erklären muss. Und wir können derweil in unseren Betten liegen und pacen, damit die Energie ausschließlich für Grundbedürfnisse und Lebensqualität eingesetzt werden kann.«

Die Unterstützungsangebote reichen nicht

Nicht nur MeckerMutti und Robert haben diesen Wunsch. Im Austausch mit anderen kranken und behinderten Menschen ist er mir oft zu Ohren gekommen, und auch ich selbst habe ihn gehegt, als ich nach dem Erlangen des Pflegegrades das Persönliche Budget beantragte.

Damals wendete ich mich an eine Initiative von behinderten Menschen, die anderen Behinderten bei der Antragstellung helfen wollte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche es war. Nach einem kurzen E-Mail-Austausch schickte mein Gegenüber mir einen fertigen Brief, den ich nur noch ans Sozialamt senden musste. Fürs Persönliche Budget ist ein formloser Antrag ausreichend. So wurde mir etwa eine halbe Stunde Formuliererei und Dokumentformatierung abgenommen.

Es folgte ein mehrere Wochen andauernder Schriftwechsel mit dem Sozialamt und schließlich eine Begutachtung. Alles davon musste ich alleine machen. Ich hatte großes Glück und das Budget wurde mir ohne Verzögerung, Widerspruch und Klage bewilligt, wenn auch mit weniger Stunden als beantragt. Doch dann dauerte es Monate, bis ich tatsächlich Hilfe bekam – denn ich musste eigenständig recherchieren, wie ich eine Person anstelle, wie ein Arbeitsvertrag aussieht, wo ich das anmelden muss, und zu guter Letzt musste ich eine Person finden, die diesen Job für mich machen wollte. Angeblich soll es eine Möglichkeit geben, bei diesen Aufgaben Hilfe zu bekommen, doch ich habe nie herausgefunden, wie man darauf Zugriff bekommt.

Heutzutage gibt es in vielen Städten Angebote für die sogenannte EUTB: Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung. Diese Beratungsstellen bieten wohnortunabhängig Beratung an, oft auch per E-Mail oder Telefon, teilweise sogar durch Hausbesuche, und leisten so die essentielle Arbeit, Hilfesuchenden einen Überblick über Leistungsansprüche zu vermitteln. Die EUTB können das Antragsverfahren erklären und bei der Antragstellung unterstützen, doch sie können den Hilfesuchenden nicht die eigentliche Arbeit abnehmen. Die Beantragung ist für viele tatsächlich eine Hürde, aber im Vergleich zu den anderen, die sie auf dem Weg zu angemessener Hilfe überwinden müssen, bleibt es oft eine der kleinsten.

Hilfe gibt es nicht für die Diagnostik, die durch Fachärztemangel und Vorurteile in der Medizin erschwert wird. Nach der Antragstellung müssen Hilfesuchende sich Unterstützung für Begutachtungen sowie rechtlichen Beistand für Widersprüche und Klagen eigenständig organisieren, müssen selbst ihren Papierkram erledigen und verschicken. Auch die vernichtenden Ablehnungen müssen sie selbst in Empfang nehmen, mit allen psychischen und emotionalen Folgen. Keine der Leistungsformen ist leicht und unbürokratisch erhältlich; endlose Wartezeiten, hanebüchene Ablehnungen und Hürden durch Nachweisforderungen sind bei Eingliederungshilfe und Persönlichem Budget ebenso üblich wie bei Pflegeleistungen. Beratungsstellen können daran nichts ändern.

Menschen sitzen auf dem Boden und halten Schilder mit Wörtern wie: unverantwortlich, unhaltbar, unbehandelt, ungesehen, unerhört.
Meistens bleibt es an Betroffenen und ihren Angehörigen hängen, ihre Rechte einzufordern.

Normalität für kranke und behinderte Menschen

Wer einmal gesehen hat, wie groß die Probleme für behinderte Menschen sind, wenn sie Hilfe brauchen oder Leistungen in Anspruch nehmen möchten, kann nie wieder aufhören, es zu sehen. Blockaden und Diskriminierung sind die Regel, nicht die Ausnahme.

In meinem direkten Umfeld gibt es eine Person, die seit einem Dreivierteljahr kein Persönliches Budget erhält, obwohl ihr Bedarf längst anerkannt wurde – weil sie gegen die zu niedrige Stundenzahl Widerspruch eingelegt hat. Eine andere Person bräuchte Hilfe für das Nötigste, hat aber keinen festen Tagesrhythmus und weiß nicht, wann sie wach sein wird, sodass sie bislang nichts beantragt hat, weil es das nur schlimmer machen würde. Meinen Haushalt teile ich mit einer Person, der vor Jahrzehnten die zweifelsfrei vorhandene Gehbehinderung aberkannt wurde und die dadurch keinen Anspruch auf entsprechende Nachteilsausgleiche hat. Erst diesen Monat habe ich eine Person kennengelernt, die mich fragte, ob man einen Rollstuhlmotor billig selberbauen kann – sie könne anders keinen kriegen, habe sich sogar den Rollstuhl auf Ebay selbst gekauft.

Die Geschichten sind haarsträubend und sie sind überall. Was bleibt, ist die Wut. So schreiben es auch Robert und MeckerMutti. »An manchen Tagen fühle ich mich sehr hilflos«, beschreibt Robert. »An anderen bin ich wütend, weil die Mehrheit es nicht sieht.« Ähnlich drückt sich MeckerMutti aus: »Ich bin wütend! Unsere Rechte werden mit Füßen getreten.«

Durch die andauernde Corona-Krise wird die Problemlage sich nicht entschärfen, so wie es sich zu Beginn der Pandemie viele erhofften, wenn die ganzen Vorerkrankten endlich wegsterben würden. Im Gegenteil: Durch die Langzeitfolgen wiederholter Infektionen werden immer mehr Menschen am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, Hilfe zu bekommen – medizinisch, pflegerisch, finanziell –, und ob die Ressourcen für ihre Versorgung ausgeweitet werden, ist zweifelhaft. Das Thema war vielleicht noch nie so aktuell wie jetzt.

Ich selbst erlebte wenige Wochen, nachdem ich von einer Hausärztin als Krüppel bezeichnet wurde, eine unerwartete gesundheitliche Verbesserung. Ich kaufte mir ein Fahrrad, reparierte es und fuhr in der ersten Woche fast hundert Kilometer. Warum es mir jetzt besser geht, weiß ich genauso wenig, wie ich eine Erklärung dafür habe, warum es mir jahrelang so schlecht ging. Ich kann nur vermuten, dass es nicht an ›Dekonditionierung‹ lag.

Dieses Glück haben die Wenigsten. Wir müssen – und können – als Gesellschaft die Zustände verbessern, unter denen Menschen mit unheilbaren Krankheiten leben.

Themen: behinderung, versorgungskrise, pflege, sba, qualitätstext

Die Sache mit den Rollstuhl Apps

21. October. 2024

Stell dir vor, du bekommst ein neues Paar Beine. Und dann möchte der Hersteller dieser Beine hundert Euro von dir, damit du damit rennen kannst.

Dekoratives Foto von einem Rollstuhlrad mit E-Motion-Antrieb und einem kleinen Aufkleber, auf dem steht: Proprietäre Kackscheiße.
Dieser Sticker musste da einfach hin.

Rollstuhlantrieben von Alber kann man in deutschen Sanitätshäusern kaum entkommen, ich weiß es aus eigener Erfahrung. Schon als ich 2017 meinen neuen Rollstuhl bekam, sprach ich mit den Sanitätshaus-Angestellten über eine mögliche spätere Motorisierung. In diesen Gesprächen wurde der Markenname e-motion vollkommen synonym mit dem Konzept eines Restkraftverstärkers verwendet. Solche Hilfsantriebe unterstützen bei einem manuellen Rollstuhl die Anschubbewegung der Hände, ganz ähnlich dem Prinzip eines Ebike-Motors, der durchs Pedaletreten aktiviert wird.

Eigentlich gibt es Restkraftverstärker auch von anderen Herstellern, doch durch meine Interaktionen mit Sanitätshäusern habe ich den Eindruck bekommen, dass sie diese nicht kennen. Als ich mich einige Jahre später in einem anderen Sanitätshaus am anderen Ende Deutschlands nach Rollstuhlzuggeräten erkundigte und wissen wollte, welche verschiedenen Hersteller es gibt, wurde mir eine kleine Reihe von Vorführrollstühlen mit entsprechenden Antrieben (alle von Alber) gezeigt, ich bekam ein Alber-Werbeprospekt in die Hand gedrückt und ging schlecht informiert wieder nach Hause.

Die Alber GmbH stellt verschiedene Arten von Unterstützungsmotoren für Rollstühle her. Der e-fix ist ein vollautomatischer Antrieb mit einem Joystick. Mit dem e-pilot bietet die Firma ein Rollstuhlzuggerät an und der smoov one ist ein Antrieb, der in Form eines zusätzlichen Rades hinten am Rollstuhl angebracht wird. Abgesehen vom e-motion verwandeln all diese Antriebe den Rollstuhl rechtlich gesehen in ein motorisiertes Fahrzeug, das nur bis 6 km/h ohne weitere Auflagen im Straßenverkehr verwendet werden darf.

Eigentlich ist es ein Unding, dass Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung auf motorisierte Räder angewiesen sind, sich mit maximal 6 km/h darauf fortbewegen dürfen. Oberhalb dieser Geschwindigkeit gilt auch für Rollstühle und Elektromobile eine Versicherungspflicht, über 15 km/h ist sogar ein Mofa-Führerschein erforderlich. Dabei kann jedes gesunde Paar Beine innerhalb kürzester Zeit und in den gefährlichsten Situationen auf 15 km/h beschleunigen, niemand verlangt einen Versicherungsnachweis für die Dinger und dafür bezahlen muss man auch nichts. Aber auch die Krankenkassen sehen sich nicht in der Pflicht, einen Rollstuhl oder Rollstuhlantrieb zu bezahlen, der mehr ersetzt als die Gehfähigkeit, mit einer Geschwindigkeit von maximal 6 km/h. In Deutschland ist das nunmal so.

Wie ist es also möglich, dass die Webseite des smoov one mit einer Höchstgeschwindigkeit von »bis zu 10 km/h« wirbt, obwohl solche Geräte regelmäßig von der Krankenkasse übernommen werden? Hierfür hat die Firma Alber sich einen Trick ausgedacht: Für ihre Rollstuhlantriebe bietet sie über Google Play und den Apple App-Store modellspezifische Apps an, mit denen durch In-App-Käufe zu haarsträubenden Preisen die Maximalgeschwindigkeit erhöht werden kann.

Screenshot der Webseite smoov.com, auf dem die Angabe zu sehen ist: bis 10 km/h Höchstgeschwindigkeit.
So sah die Smoov-Webseite am 12. Oktober 2024 aus.

Alber bietet in den Apps unterschiedliche Sonderfunktionen an und lässt sie sich gut bezahlen. So kostet es in der App für den e-motion M25 beispielsweise 39,99 €, den Rollstuhl übers Handy fernsteuern zu können – eine große Alltagserleichterung für Menschen, die ohne ihren Rolli keinen Meter weit kommen. Auf den Schrittzähler für 9,99 € können wohl die meisten Benutzenden getrost verzichten; es fallen jedoch 99,99 € dafür an, eine Art Tempomat-Funktion freizuschalten, die für Personen mit wenig Kraft und Ausdauer eine Vergrößerung ihres Bewegungsradius bedeuten kann. Andere Hersteller bieten Restkraftverstärker an, bei denen diese Funktion im Produkt integriert ist, so zum Beispiel der Empulse WheelDrive von Sunrise Medical durch einen zweiten Greifring. Da dieses Gerät jedoch deutlich teurer ist, wird es von der Krankenkasse wohl kaum als Basisversorgung genehmigt werden.

Zu guter Letzt kostet es noch einmal 99,99 €, die Funktionen des ECS auf die App zu übertragen. Das ECS ist bei Auslieferung des Antriebs enthalten und ermöglicht es, manche Einstellungen vorzunehmen. So ist beispielsweise der Wechsel zwischen Indoor- und Outdoor-Modus oder die Aktivierung und Deaktivierung der Rückrollsperre standardmäßig über das ECS möglich. Doch was zunächst wie eine gute Idee klingt – schließlich sollen ja auch Personen ohne Smartphone (oder ohne Google-/Apple-Account) ihren Rollstuhl irgendwie einstellen können – entpuppt sich schnell als Farce, denn weitere, ebenfalls wichtige Funktionen sind nur über die App erreichbar, die ebenso wie das ECS über Bluetooth mit den Rädern verbunden werden muss.

Foto eines unnötig klobigen Geräts, etwa so groß wie ein Handy, mit einfachem LCD und Gummiknöpfen.
ECS steht übrigens für »Ergonomic Control System«. Was an dem Ding ergonomisch sein soll, erschließt sich mir nicht.

Das Gesamtpaket für alle Funktionen, inklusive der Erhöhung der Höchstgeschwindigkeit, kostet in der M25-App 299 € (Link ist nur da, damit Lesende sich selbst über die In-App-Käufe vergewissern können). Da der Rolli mit Restkraftverstärker in Deutschland nicht als Kraftfahrzeug zählt, ähnlich wie bei Ebikes, dürfte es hierbei keine rechtlichen Schwierigkeiten geben, doch im Internet warnen behinderte Personen einander davor, die »Speed«-Funktion zu kaufen: Es gäbe Schwierigkeiten bei der Kostenübernahme später eventuell anfallender Reparaturen, die Krankenkassen würden nicht mehr bezahlen. Die Unzufriedenheit mit dem Angebot ist spürbar groß.

Ich habe bei meiner eigenen Krankenkasse nachgefragt und konnte das Gerücht nicht bestätigen. Im Telefonat wurde ich recht schnell mit einer Person verbunden, die schon von sich aus wusste, dass dieses Upgrade existiert und was es bewirkt. Mir wurde erklärt, dass die Krankenkasse bei Anschaffung eines Geräts nicht die Teile übernehme, die mit einer höheren Motorisierung zu tun haben; bei einem vollen Elektrorollstuhl müsse bei Wahl einer höheren Maximalgeschwindigkeit beispielsweise ein enstprechend größerer Akku selbst bezahlt werden. Auch Umbauten am Gerät müsse ich über die Krankenkasse vornehmen, der es rechtlich gesehen gehört. Doch da es sich um eine »reine Software-Sache« handelt, spräche nichts dagegen und es gäbe für die Kasse keinen Grund, spätere Reparaturkosten nicht zu übernehmen. Andere Krankenkassen entscheiden hier möglicherweise anders, doch vor diesem Hintergrund erscheint es weniger bemerkenswert, dass die App nicht auf mögliche Probleme hinweist.

Interessanter ist die Rechtslage bei Geräten, die den Rollstuhl ohne Beteiligung der eigenen Muskelkraft antreiben. Für jedes seiner Modelle hat Alber eine App, und für alle vier aktuellen Geräte bietet diese App eine Erhöhung der Maximalgeschwindigkeit an. Die Verfügbarkeit und die Preise der einzelnen Funktionen unterscheiden sich. So kostet in der smoov O10 App das Freischalten von 10 km/h Höchstgeschwindigkeit 129,99 €; weitere Zusatzfunktionen werden für 29,99 € und 39,99 € verkauft. Die App für den e-fix bietet keine In-App-Käufe an; eine Lizenz für ein »Mobility Plus Package« ist jedoch für sage und schreibe 349,99 € direkt über Alber beziehbar und bietet nicht nur eine Fernbedienungsfunktion, sondern auch eine Freischaltung auf 8 km/h. In der App für den e-pilot e15 kann ausschließlich eine Geschwindigkeitserhöhung auf satte 20 km/h erworben werden, und zwar für 249,99 €.

Wer so ein Fahrzeug in Deutschland außerhalb von Privatgelände fährt, ohne sich zuvor eine Betriebszulassung und eine Haftpflichtversicherung zu holen, verstößt gegen das Pflichtversicherungsgesetz und begeht damit keine Ordnungswidrigkeit, sondern eine Straftat. Bei einer Höchstgeschwindigkeit von mehr als 15 km/h ist außerdem noch ein Mofa-Führerschein erforderlich und es ist unwahrscheinlich, dass für einen Rollstuhl für so eine Geschwindigkeit eine Straßenzulassung erteilt wird.

Alber weist darauf immerhin hin. In der Beschreibung der App für den e-pilot, das Gerät mit der höchsten freischaltbaren Geschwindigkeit, heißt es etwa: »Im Geltungsbereich der Straßenverkehrsordnung (StVO) darf die Geschwindigkeit 6 km/h nicht überschreiten, 20 km/h Unterstützungsgeschwindigkeit sind nur auf privatem Gelände erlaubt. Bei Verwendung des e-pilot mit 10 oder 15 km/h im Geltungsbereich der StVO ist eine Einzelabnahme nach StVZO und Versicherung gemäß Pflichtversicherungsgesetz notwendig.« Es wird also eine Geschwindigkeit angeboten, von der sie von vorherein wissen, dass sie nicht zulässig ist.

Die Versicherungs- und Zulassungspflicht gilt bei einer »bauartbedingten« Höchstgeschwindigkeit von über 6 km/h. Elektronische Drosselung der Geschwindigkeit ist prinzipiell zulässig. Ob es immer noch zulässig ist, wenn die Höchstgeschwindigkeit über einen Button in einer App jederzeit über das erlaubte Maximum hinaus erhöht werden kann, konnte ich beim besten Willen nicht herausfinden.

Mir ist kein anderer Hersteller bekannt, der ähnlich agiert wie Alber. Zusatzfunktionen werden beim Kauf dazugebucht oder eben nicht; Einstellungen am Gerät, die über Benutzereinstellungen hinausgehen, werden von Händlern vorgenommen oder gar nicht. Rollstuhlantriebe, insbesondere Zuggeräte, gibt es durchaus mit höheren Geschwindigkeiten zu kaufen, die beim Kauf ausgewählt werden. Manche Händler bieten sogar an, gleich die Abnahme beim TÜV zu organisieren, wenn das Zuggerät zusammen mit einem neuen Rollstuhl gekauft wird. Ich habe mir etliche Rollstuhlantriebe von verschiedenen Herstellern angesehen und konnte für keinen davon eine App finden.

Allein für den Smartdrive, ein Antrieb, der hinten am Rollstuhl befestigt wird, gibt es eine App – ein Fitnesstracker. Was Alber als kostenpflichtige Zusatzfunktionen anbietet, ist bei alternativen Herstellern entweder funktionell integriert oder generell nicht möglich. Vielleicht liegt das daran, dass Alber dringend mehr Geld verdienen möchte, denn die GmbH gehört zur Invacare Corp, die 2023 in den USA Insolvenz angemeldet hat.

Um diese Einnahmestrategie umsetzen und Menschen das Angebot näherbringen zu können, hat Alber Produkte geschaffen, die einen Digitalzwang bzw. Smartphonezwang mit sich bringen. So kostet es in der M25-App zwar kein Geld, den Leistungsmodus des Antriebs einzustellen und sich auszusuchen, ob der Restkraftverstärker eher empfindlich oder unempfindlich reagieren und wie lange er nachlaufen soll, doch wer kein Smartphone besitzt und diese kostenlose Funktion der App nicht nutzen kann, muss dafür extra zurück ins Geschäft fahren. Wer unabhängigen Zugriff auf die Funktionen der täglich verwendeten Mobilitätshilfe haben will, muss notwendigerweise nicht nur das klobige ECS mit sich herumtragen, sondern zusätzlich noch die App installieren. (Und, wie schon erwähnt, kostet es 100 €, das ECS nicht mehr mitschleppen zu müssen.)

Indem die Funktionen durch In-App-Käufe erworben werden, werden sie einerseits an ein konkretes Antriebsgerät gebunden. Die Verifikation der Räder geschieht hierbei durch das Scannen eines QR-Codes, der vermutlich eine Funktion als Schlüssel hat. Gleichzeitig findet zwangsweise eine Verknüpfung mit einem bestimmten Google- oder Apple-Account statt; ohne einen solchen sind die Funktionen gar nicht erst erhältlich. Eine Weitergabe der teuren Sonderfunktionen zusammen mit dem Antriebsgerät ist nicht möglich, so wie das bei physikalischer Ausstattung der Fall wäre, sodass bei einem privaten Erwerb und Weiterverkauf des Gerätes die nachnutzende Person denselben Kauf erneut tätigen muss, um dieselben Funktionen zu nutzen.

Wer sich seinen Antrieb nicht selbst kaufen kann, sondern von der Krankenkasse »versorgt« wird, hat keine Wahlfreiheit. Wenn nur ein Gerät von Alber bezahlt wird, muss dieses Gerät auch angenommen werden. Alternativen kosten oft einige tausend Euro mehr, die Differenz müsste aus eigener Tasche bezahlt werden.

Bei meinen Austauschen mit Personen, die ein Alber-Gerät haben oder hatten oder hätten haben können, sind mir sehr viele negative Einstellungen begegnet. Die Apps sind nicht beliebt, die Preise für die Sonderfunktionen werden als ausbeuterisch wahrgenommen; auch das Thema mit den angeblich später nicht übernommenen Reparaturkosten wurde immer wieder erwähnt.

Dabei tut die Firma Alber nichts, was man ihr ankreiden könnte. Die Geschwindigkeitserhöhung ist völlig legal, und wo zusätzliche Schritte nötig sind, um sie legal zu machen, wird angemessen darauf hingewiesen. Auch bietet sie die Upgrades als einmalige Lizenzkäufe an, statt sie über ein ausbeuterisches Abo-Modell zu vertreiben. Die Upgrades sind eine legitime und niedrigschwellige Methode, einen Antrieb, der vollständig von der Krankenkasse übernommen wurde, mit weiteren Funktionen auszustatten.

Es bleibt, abgesehen vom allgemeinen Unwohlsein mit dem Smartphone- und Accountzwang, der Frust über die horrenden Preise für die einzelnen Funktionen. Vielleicht wirkt es für Menschen oberhalb der Armutsgrenze weniger schlimm: Hundert oder dreihundert Euro, um rennen zu können, das ist viel, aber das kann man schon einmal bezahlen, um einen grundlegenden Freiheitswunsch zu erfüllen und hilfreiche Extras zu erhalten.

Wenn man dieses Geld jedoch nicht hat und auch nicht auftreiben kann, fühlt es sich an wie eine erniedrigende Schikane. Und behinderte Menschen haben oft sehr wenig Geld: Viele können nicht arbeiten und erhalten deswegen eine niedrige Rente oder Grundsicherung, andere könnten und würden gerne arbeiten, kriegen aber mit ihrer Behinderung keinen Job und hängen im Bürgergeld fest, wieder andere halten sich irgendwie mit ein paar Stunden Arbeit gerade weit genug über Wasser, um nicht in den Bezug abzurutschen. Dazu kommen viele Zusatzkosten, die Menschen ohne Behinderung schlichtweg nicht haben.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sich negative Gefühle einstellen, wenn behinderten Menschen nicht die gleichen Freiheiten eingestanden und zugänglich gemacht werden wie nichtbehinderten Menschen. Ja, natürlich gibt es ein größeres Unfallrisiko, wenn man sich ein paar km/h schneller bewegen kann. Aber Personen mit gesunden Beinen müssen auch nicht standardmäßig mit Fußfesseln herumlaufen, um ihre Maximalgeschwindigkeit zu drosseln.

Themen: behinderung, qualitätstext, rollstuhl, digital

Rollstuhlkonfiguration

04. October. 2024

Die Konfiguration manueller Aktivrollstühle bekommt einen eigenen Beitrag, weil es sowohl komplex ist als auch sehr, sehr wichtig. Zu oft habe ich mitbekommen, dass Personen völlig ungeeignet konfigurierte Rollstühle bekommen haben, mit denen sie nicht die erhoffte Selbständigkeit erreichen konnten. Mir selbst ist das auch schon passiert. Leider ist es nicht möglich, sich auf »die Fachleute« zu verlassen, sofern diese Fachleute nicht selbst Rollstuhl benutzen oder intensiv mit Menschen zusammenarbeiten, die dies tun. Anekdotisch arbeiten viele Sanitätshäuser mit Werbebroschüren und schlechten Empfehlungen, die nichts mit dem Alltag zu tun haben. Sie wissen nicht, worauf es ankommt. Bezahlt werden sie so oder so, egal ob du mit dem Ergebnis leben kannst oder nicht. Wenn du dir unsicher bist, erstelle eine Konfiguration und bespreche sie mit einer rollstuhlnutzenden Person deines Vertrauens, bevor du die Bestellung endgültig in Auftrag gibst.

Besonders, wenn du fett bist (politische Bezeichnung) oder wenn du sehr geschwächt bist, werden Sanitätshäuser dir eher eine Konfiguration empfehlen, die weniger gut für die aktive Benutzung geeignet ist, obwohl ausgerechnet dann der richtige Aktivrollstuhl den größten Unterschied macht.

Die Maße

Sitzbreite, Sitztiefe, Beinlänge:

Diese Maße müssen den eigenen Körpermaßen entsprechen.

Die Sitzbreite sollte so sein, dass du mit Kleidung (z.B. dicker Wintermantel) noch zwischen die Räder passt. Üblicherweise haben Aktivrollstühle einen Speichenschutz auf der Innenseite, sodass deine Kleidung nicht in die Räder geraten kann. Wenn der Rolli ein bisschen zu eng ist, sitzt du dazwischen relativ fest, was unter Umständen auf Dauer unbequem werden kann, aber für manche Menschen aufgrund der stabilisierenden Wirkung angenehm ist. Wenn der Sitz jedoch deutlich zu eng ist, kann dieser Speichenschutz sich verbiegen. Ihn rauszunehmen, hilft leider nicht, da du dann stattdessen mit der Kleidung an den Speichen schleifst.

Wenn der Rollstuhl hingegen zu breit für dich ist, wirst du Schwierigkeiten haben, die Räder richtig zu greifen, und die Schultern werden unnötig stark belastet. Ein paar Zentimeter Luft sind schon okay, aber viel mehr sollte es nicht sein, besonders wenn du schmale Schultern hast.

Die Sitztiefe ist die Länge des Sitzes von Rückenlehne bis Vorderkante, also praktisch die Länge deiner Oberschenkel plus Gesäß. Wenn der Sitz zu lang ist, kann das zu Druckstellen und Schmerzen an den Kniekehlen fühlen. Ein (möglichst festes) Rückenkissen kann Abhilfe schaffen, wird allerdings den Schwerpunkt entsprechend nach vorne verlagern, was durch Einstellung ausgeglichen werden muss. Wenn der Rollstuhl keinen einstellbaren Schwerpunkt hat, muss der Sitz wirklich passen. Ein zu kurzer Sitz führt dazu, dass deine Knie nach vorne rausstehen und du die Beine stärker anwinkeln musst, um die Füße auf die Fußstütze stellen zu können. Das kann unbequem werden.

Die Beinlänge ist die Länge deiner Unterschenkel plus Fuß, also der Abstand von Fußstütze zu Sitz. Wenn dieser Abstand zu groß ist, führt auch das zu Druckstellen und Schmerzen an den Kniekehlen; wenn er zu klein ist, sitzt du mehr auf deinem Hintern und das kann auf Dauer dort zu Schmerzen führen. Die Fußstütze ist in der Regel einstellbar. Ich musste einmal bei einem Kleinanzeigen-Rollstuhl ein paar zusätzliche Löcher bohren, damit ich sie kurz genug machen konnte, aber normalerweise sind solche Änderungen unproblematisch.

Aktivrollstuhl mit Transfergriffen. Sitzbreite und Sitztiefe sind beschriftet.
Dieser faltbare Aktivrollstuhl besitzt Transfergriffe, die nicht mit den Armstützen eines Transportrollstuhls zu verwechseln sind. Foto: Arnold C, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Höhe der Rückenlehne:

Die Rückenlehne darf bei einem Aktivrollstuhl nicht zu hoch sein, da du beim Antreiben Bewegungsfreiheit in den Schultern brauchst. Die Rückenlehne muss daher mindestens ca. 2 cm unterhalb der Schulterblätter enden. Wenn sie zu hoch ist, kann ein festes Sitzkissen helfen, um dich weiter nach oben zu bringen. Wenn die Rückenlehne zu niedrig ist, ist das eher unproblematisch. Prinzipiell heißt eine niedrigere Rückenlehne einfach nur mehr Bewegungsfreiheit. Viele Rollifahrer*innen benutzen eine minimalistische Lehne, die wenig mehr ist als ein Anschlag für den Hintern, damit sie nicht hinten runterrutschen können. Besonders, wenn du ohne größere Schwierigkeiten auf einen »richtigen« Sitz umziehen kannst, wenn du dich entspannen willst, ist das völlig okay, auch wenn es natürlich mehr Arbeit für die Rumpfmuskulatur ist, dich aktiv aufrecht zu halten.

Aktivrollstuhl sehr kleiner Rückenlehne in einer Sporthalle, dessen Insasse einen Bogen hält.
An diesem sportlichen Starrrahmen-Rollstuhl ist nur eine minimalistische Rückenlehne vorhanden. Foto: Mikhail Nilov via Pexels

Sitzwinkel, Winkel der Rückenlehne:

Prinzipiell werden Rollstühle so eingestellt, dass der Sitz an der Hinterkante einen kürzeren Abstand zum Boden hat als an der Vorderkante. Der Sitz ist also praktisch ein paar Grad nach hinten gekippt. Hierin unterscheiden (Aktiv)rollstühle sich drastisch von stationären Stühlen, deren Sitzplatte meist parallel zum Boden ist. Dieser Sitzwinkel hilft dir einerseits, stabil im Rollstuhl zu sitzen, und ist andererseits super praktisch, wenn du Gegenstände auf dem Schoß transportieren willst, ohne dass sie ständig runterrutschen. Bei einstellbaren Rollstuhlmodellen ist der Sitzwinkel prinzipiell veränderbar.

Die Rückenlehne kann dann so konfiguriert werden, dass sie überhaupt nicht oder leicht nach hinten zeigt. Bei manchen Rollstühlen ist der Winkel zwischen sitz und Rückenlehne einstellbar, bei anderen ist er fix.

Aktivrolli mit eingezeichneten Winkeln.
An diesem Starrrahmen-Rolli sieht man gut, dass die Sitzfläche nicht horizontal ist. Eingezeichnet ist der Winkel zwischen Rückenlehne und Sitz (1) sowie der Sitzwinkel (2). Foto: Tim99~commonswiki, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Lage des Schwerpunkts:

Vom Prinzip her soll möglichst viel Gewicht auf den großen Haupträdern liegen und möglichst wenig auf den kleinen Vorderrädern. Bei einstellbaren Rollstühlen kann dieser Schwerpunkt eingestellt werden, meist durch Verschieben der Haupträder.

Eine Person balanciert einen Aktivrolli auf den Hinterrädern über Schotter.
Auf unebenem Grund muss man oft die Vorderräder anheben und auf den Haupträdern balancieren, um durchzukommen. Foto: Nadiia Doloh via Pexels

Wenn der Schwerpunkt sehr weit hinten liegt, spricht man von einer »aktiven« Konfiguration. Dabei kippt der Rollstuhl sehr leicht nach hinten, ist also etwas instabiler. Wer keinen Kippschutz hat, kann sich dadurch leicht aufs Kreuz legen. Gefährlich ist das (abgesehen von gesundheitlichen Risikofaktoren, die Stürze gefährlicher machen) nur, wenn es am Hang oder auf einer Rampe passiert, da der Abstand zum Boden dann entsprechend größer ist. Auf der Ebene ist mir selbst das Dutzende Male passiert; es sieht dramatischer aus, als es ist. (Auf einer steilen Rampe kann es übrigens auch sein, dass der Kippschutz den Sturz nicht verhindert. Deshalb ist es ratsam, solche Steigungen rückwärts zu erklimmen.) Der Vorteil einer aktiven Einstellung ist einerseits, dass der Rollwiderstand seinen Minimalwert erreicht und du so mit wenig Kraft am weitesten kommst. Andererseits wird es dadurch leichter, die Vorderräder anzuheben, um Kanten und Schwellen zu überwinden oder sich auf unebenem Boden balancierend fortzubewegen.

Für den ersten Rollstuhl ist es empfehlenswert, ein Modell zu wählen, bei dem der Schwerpunkt eingestellt werden kann. Wenn du genau weißt, wie der Rolli eingestellt sein muss, und was für dich am besten funktioniert, kannst du auch einen mit fixer Einstellung wählen.

Verstellbarkeit:

Wie schon erwähnt, gibt es einstellbare Rollstühle und nicht einstellbare. Bei einstellbaren Modellen ist es üblicherweise die Radaufnahme, deren Position vertikal (hoch/runter) und horizontal (vor/zurück) verschoben werden kann. Dadurch sind Sitzwinkel und Lage des Schwerpunkts einstellbar. Das macht es leichter, herauszufinden, was für dich gut funktioniert, auf Veränderungen deines Gesundheitszustands zu reagieren, oder einen Second-Hand-Rolli an deinen Körper anzupassen. Diese Modelle sind allerdings oft etwas schwerer und befinden sich preislich und qualitativ oft eher am unteren Ende.

Hin und wieder wurde ich mit der Behauptung konfrontiert, es gäbe nur Faltrollstühle in einstellbarer Ausführung. Das ist falsch. Starrrahmen-Rollstühle mit einstellbarer Radaufnahme gibt es von diversen Herstellern und sie vereinen die Vorteile eines Starrrahmens mit der Einstiegsfreundlichkeit eines einstellbaren Rollstuhls.

Starrrahmenrollstuhl mit verschiebbarer Hauptradaufnahme.
Dieser Starrrahmenrollstuhl ist einstellbar, was man an der Radaufhängung sieht. An dieser sind Bohrungen vorhanden, um das Rad nach oben und unten zu versetzen, und am Rahmen Bohrungen, um die gesamte Radaufhängung versetzen zu können. Die Kleiderschutzbleche sitzen zu weit oben für die Radposition. Foto: Mike Bates, Public domain, via Wikimedia Commons

Grundlegende Form

Starrrahmen oder Faltrolli:

Die grundlegendste Entscheidung bei der Konfiguration eines Aktivrollstuhls ist die Entscheidung für einen Rahmentyp. Ein Faltrollstuhl ist, wie der Name verrät, faltbar, während ein Starrahmenrollstuhl nicht faltbar ist. In manchen Fällen kann bei einem Starrrahmenrollstuhl die Rückenlehne heruntergeklappt werden, um ihn z.B. im Auto leichter transportieren zu können.

Oft werden Faltrollstühle emfohlen, da sie angeblich besser in ein Auto passen würden. Das kann ich so nicht unterschreiben. Durch die X-Streben sind sie auch ohne Räder oft noch sehr hoch, besonders die günstigen Einstiegsmodelle, und erfordern einen hohen Kofferraum, um überhaupt reinzupassen. Im Gegensatz dazu kann man bei einem Starrrahmenrolli einfach die Räder abklicken, den Rahmen auf einen freien Sitz stellen, und die Räder obendrauf legen oder in den Fußraum davor. Das passt in das winzigste Auto, sofern noch ein Platz frei ist, was bei einem Faltrollstuhl einfach nicht der Fall ist. Allerdings lässt sich ein Faltrolli eher innerhalb der Wohnung in eine Nische quetschen – das geht mit einem Starrrahmen natürlich nicht. Außerdem kommt man mit einem Starrrahmen durch eine zu enge Tür schlicht und einfach nicht durch, während man einen Faltrollstuhl einfach zusammenklappen und durchschieben kann.

Durch die Konstruktion ist es nicht ohne Weiteres möglich, einen Faltrollstuhl mit einer festen Sitzplatte oder Rückenlehne auszustatten. Es werden die »Zeltplanen« aus Textil verwendet. Das heißt auch, dass feste ergonomische Sitze oder Rückenlehnen mit diesen Modellen nicht kompatibel sind. Außerdem sind Faltrollstühle zwangsweise schwerer, da mehr gewichtiges Gestänge vorhanden ist. Das macht vor allem beim Hochheben einen Unterschied, beim Fahren weniger.

Fußstütze:

Es gibt Fußstützen in geteilter Ausführung und durchgehende Fußstützen. Geteilte Fußstützen, wie man sie vom Transportrollstuhl kennt, sind für die aktive Benutzung von deutlichem Nachteil: Sie sind schwerer, wodurch der Schwerpunkt sich weiter nach vorne verlagert; außerdem sind sie sehr sperrig, was das Manövrieren in engen Räumen erschwert, und sie sind sehr instabil. Mir wurden sie einmal mit dem Argument verkauft, dass es mit diesen Fußstützen leichter wäre, aufzustehen, aber das kann ich nicht unterschreiben. Auf mit einer durchgehenden Fußstütze kommen die Füße noch auf den Boden, und für Transfers benutzt man die Arme.

Durchgehende Fußstützen sind auch an Faltrollstühlen möglich.

Uraltes Spiegelselfie von mir in meinem ersten Rollstuhl.
Von meinem ersten Rollstuhl bleiben mir nur noch Selfies. Ich hab das Teil gehasst, und diese furchtbare geteilte Fußstütze wie bei einem Transportrollstuhl war der Hauptgrund.

Antriebsweise:

Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, einen Rollstuhl anzutreiben: Entweder die Räder werden mit den Händen angetrieben, oder man zieht sich mit den Beinen vorwärts. Mit letzterer Methode habe ich keine eigene Erfahrung, allerdings habe ich schon einmal einer Person weitergeholfen, die einen Rollstuhl »zum mit den Füßen Antreiben« bekommen hat und damit überhaupt nicht zurechtkam. Deswegen möchte ich darauf hinweisen, dass praktisch jeder manuelle Rollstuhl sich ein paar Meter mit den Füßen schubsen und mit den Schuhsohlen abbremsen lässt, auch wenn die Fußstütze starr ist und nicht weggeklappt werden kann. Ein niedriger Rollstuhl ohne Füßstütze macht nur Sinn, wenn du dich ausschließlich mit den Füßen antreiben möchtest und in Kauf nimmst, dass du damit entsprechend langsam bist und Stufen, Schwellen, Steigungen, unebenes Gelände etc. nicht überwinden kannst. Es kostet viel Kraft und ist nicht so gut, wie es sich anhört.

Stockfoto eines Models in einem Aktivrollstuhl. Das Model hat die Füße auf dem Boden, hält ein Buch und lächelt.
Dieser Aktivrollstuhl passt der Person darin super, und wie man sieht, hat sie trotzdem keine Schwierigkeiten, die Füße auf den Boden zu setzen. Foto: Polina Tankilevitch via Pexels

Sitz

Zeltplane oder Brett?

Rückenlehne und Sitz können entweder aus einem starren Brett bestehen oder aus einem Textil. Die Textilausführung der Rückenlehne kenne ich bei Aktivrollstühlen mit einstellbaren Klettverschlüssen, die versprechen, die Spannung und Form nach Belieben anpassen zu können.

Die »Zeltplane« wird immer, egal wie fest die Klettverschlüsse gespannt werden, in der Mitte durchhängen, und entweder besitzt das verwendete Sitzkissen / Rückenkissen genug Stabilität, um das auszugleichen, oder es wird sehr schnell sehr ungemütlich und schmerzhaft. Wenn sowohl Lehne als auch Sitz aus Textil bestehen, führt dieses Durchhängen erfahrungsgemäß dazu, dass der Hintern hinten raushängt, wenn das Sitzkissen nicht hoch genug ist.

Aktivrollstuhl mit Sitzbrett. Aus unerklärlichen Gründen auf einem Bett fotografiert.
Dieser Starrrahmenrollstuhl besitzt ein starres Sitzbrett, das nicht nachgibt. Foto: --Xocolatl, Public domain, via Wikimedia Commons

Stattdessen ein Brett zu wählen, klingt zunächst unbequem, schließlich sind Bretter hart. Das Textil ist allerdings auch nicht ergonomisch geformt und bietet außerdem nicht genug Stützwirkung. Für Weichheit und Ergonomie sind die verwendeten Polster zuständig; das Material des Sitzes muss diesen nur eine ausreichend stabile Unterlage bieten, um ihre Wirkung tun zu können.

Faltrollstuhl.
An diesem faltbaren Aktivrolli sieht man gut, wie die »Zeltplane« durchhängt (der Sichtbarkeit zuliebe gelb markiert). Foto: Arnold C, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Sitzkissen:

Sitzkissen kommen in vielen verschiedenen Formen von einem einfachen Schaumstoffkissen bis hin zu individuell angepassten ergonomischen Hochleistungskissen. Nimm dir das Beste, was du kriegen kannst.

Rückenkissen:

Es ist durchaus möglich, einen Rollstuhl ohne Rückenkissen zu benutzen. Ich hatte nie eins drauf, sowohl auf meinem ersten Rollstuhl mit »Zeltplane« am Rücken, als auch auf meinem Ventus mit dem Brett im Rücken. Unbequem fand ich es nie. Allerdings gibt es ergonomische Rückenlehnen, die die Wirbelsäule besser stützen. Auch hier wieder: Du wirst es vermutlich nicht bereuhen, wenn du eine bessere Rückenlehne nimmst als du brauchst, aber andersrum wirst du dich sehr ärgern.

Aktivrollstuhl mit ergonomischen Sitz- und Rückenkissen.
Dieser Rollstuhl besitzt eine ergonomische Rückenlehne sowie ein ergonomisches Sitzkissen. Foto: Memasa, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Räder

Radsturz:

Als Radsturz wird der Winkel bezeichnet, mit dem die Räder nach innen gekippt sind. Der unterste Punkt des Rades ist also weiter außen als der oberste Punkt. Die Hauptfunktion des Radsturzes ist die Stabilisation des Rollstuhls beim Kurvenfahren mit hohen Geschwindigkeiten, um ein seitliches Umkippen zu verhindern. Ein Einfluss auf den Rollwiderstand ist nicht messbar. Bei Sportrollstühlen wird entsprechend oft ein sehr großer Radsturz benutzt.

Rollstuhlbasketballspieler in seinem Gerät.
Sportrollstühle haben oft einen sehr großen Radsturz. Foto: Solehuddin Din via Pexels

Im Alltag ist ein (kleinerer, meist bis max. 3°) Radsturz teilweise sinnvoll. Das Gerät wird durch ihn breiter und kommt nicht mehr durch enge Gänge. Allerdings verringert er auch seitliches Wegrollen auf Schrägen (wie stark Bürgersteige sich zur Straße hin neigen, merkt man erst auf dem Rollstuhl so richtig) und besonders bei sehr schmalen Sitzbreiten ist ein deutlicher Radsturz emfehlenswert, da die Wahrscheinlichkeit für seitliches Umkippen z.B. während einer ruckeligen Busfahrt oder auf seitlich geneigten Gehsteigen verringert wird.

Größe der Vorderräder:

Prinzipiell sollen die Vorderräder möglichst klein sein. Intuitiv würde man sich vorstellen, dass kleinere Räder es schwieriger machen, über Kanten und Schwellen zu kommen. Das kann ich allerdings aus Erfahrung nicht bestätigen. Bei meinem ersten Rollstuhl hatte ich sehr große Räder dran, und als ich den zweiten mit deutlich kleineren Rädern bekam, hatte ich nicht mehr Probleme mit Kanten, sondern weniger, weil es leichter war, die Vorderräder anzuheben. Auch mit den größeren Vorderrädern musste ich nämlich bei jeder noch so kleinen Schwelle die Räder anheben. Es hilft einfach nichts.

Außerdem ist ein Rollstuhl mit kleineren Vorderrädern wendiger. Der Rollwiderstand wird durch größere Vorderräder bei üblichen Gewichtsverteilungen nicht messbar verringert.

Greifringe:

Greifringe gibt es ebenfalls in verschiedenen Varianten, um das Antreiben und Bremsen zu erleichtern. So ist es auch Menschen mit eingeschränkter Handfunktion oder begrenzter Kraft in den Händen möglich, einen manuellen Rollstuhl zu verwenden.

Die Greifringe können in zwei Positionen montiert werden, entweder ein bisschen weiter weg vom Rad oder ein bisschen näher dran. Die Position mit mehr Abstand ermöglicht es, mit nach unten gerichteter Handfläche zu greifen.

Wenn ein ergonomischer Greifreifen nicht bewilligt wird oder aus anderen Gründen nicht vorhanden ist, kann man sich auch ein Paar Silikon-Überzüge kaufen, diese kosten ca. 40-60 € und bieten exzellenten Grip und meiner Meinung nach auch sehr guten Griffkomfort; allerdings sind sie ohne Handschuhe fast nicht zu benutzen, weil sie die Haut erbarmungslos aufscheuern. Ich habe mir auch schon ein paarmal Tennisschläger-Griffband drumgewickelt, das hält nicht besonders lange, aber es sieht natürlich je nach Farbkombination affengeil aus. Fahrradlenkerband würde sicher auch funktionieren und unter Umständen etwas (nicht viel) länger halten, ist aber auch deutlich teurer.

Eine Person in einem Rollstuhl macht ein Spiegelselfie.
Auf diesem alten Selfie von mir sieht man gut, dass meine Greifreifen auf der weiteren Position montiert sind. Das Schwarze an den Greifreifen sind die Silikon-Überzüge. Ich benutze immer einfach die billigsten Arbeitshandschuhe, die ich finden kann; die Reibung scheuert jeden noch so teuren Handschuh in Nullkommanichts durch.

Zubehör

Schiebegriffe:

Schiebegriffe gibt es in fest, einstellbar, klappbar, und ohne. Wer sich hin und wieder schieben lassen möchte, ist meiner Meinung nach mit einstellbaren Griffen gut beraten, da dann die schiebende Person eine einigermaßen benutzbare Griffhöhe einstellen kann. Von klappbaren Griffen war ich nicht überzeugt; da ich klein bin und meine Rückenlehne niedrig, sind die Griffe am Ende weit unten und für die meisten Leute, die mich schieben sollen, einfach viel zu tief. Außerdem halten eingeklappte Griffe erfahrungsgemäß niemanden davon ab, ohne Zustimmung anzupacken. Sie drücken dir dann halt gegen den Rücken.

Ganz ohne Griffe macht dann Sinn, wenn du weißt, dass du dich unter keinen Umständen jemals schieben lassen möchtest.

Ein Kind in einem Rollstuhl spielt mit einem Kind ohne Rollstuhl.
Dieser Kinderrollstuhl hat extra lange Schiebegriffe. Wenn die Griffe sonst sehr niedrig wären, macht es Sinn, verstellbare Griffe einzubauen, die bei Bedarf ausgefahren werden können und ansonsten nicht im Weg sind. Auch zu sehen: Die Kippstütze hinten am Rollstuhl. Foto: Meruyert Gonullu via Pexels

Transfergriffe:

Bei vielen Modellen gibt es die Option, seitlich kleine Transfergriffe zu haben. Das ist nett für Leute, die sich abstützen müssen, wenn sie aus dem Rolli rauswollen. Die Griffe sind sehr klein und stören bei aktiver Benutzung nicht.

Kippschutz:

Kippschutz wird durch Stangen erreicht, die hinten am Rollstuhl nach unten ragen. Normalerweise haben sie kleine Rädchen dran, sodass man in der komplett nach hinten gekippten Position noch rollt und so Hindernisse überwinden kann.

Ein Kippschutz ist für viele Menschen sinnvoll, aber nicht zwingend erforderlich. Ich finde die Dinger am rein manuellen Rolli grausig, persönlich leg ich mich lieber alle paar Wochen mal aus Ungeschicktheit aufs Kreuz, statt immer diese Teile im Weg zu haben. Aber als mein Rollstuhl einen Hilfsantrieb bekam, musste ich Kippstützen einbauen lassen, und das war ganz besonders am Anfang auch wirklich nötig, sonst wäre ich alle 30 Sekunden umgekippt.

Allerdings hat ein Kippschutz technische Grenzen: Wenn man eine allzu steile Steigung hinauffährt, kann der Kippschutz den Sturz nicht abfangen. Das ist sehr gefährlich, da hier auch der Abstand zum Boden deutlich größer ist und keine Chance hat, durch Muskelreflexe den Aufschlag des Kopfes auf dem Boden zu verhindern. Deswegen sollten prinzipiell nur sanfte Steigungen mit dem Rollstuhl vorwärts erklommen werden, und alles andere rückwärts, sodass die Füße ins Tal zeigen. Bei der Abfahrt zeigen sie sowieso ins Tal, da ist alles gut.

Wer viel wert auf eine aktive Nutzungsweise legt, sollte sich überlegen, die Kippstützen wegzulassen. Ohne Kippschutz kann man weiter nach hinten kippen, um Hindernisse zu überwinden, hat es beim Transport etwas leichter, und kann Spezialtechniken wie z.B. Treppensteigen anwenden.

Eine Person zieht sich in einem Rollstuhl die Treppe hoch.
Mit der richtigen Technik und viel Kraft im Oberkörper kann man auch im Rollstuhl Treppensteigen. Foto: Nadiia Doloh via Pexels

Themen: behinderung, mobilitätshilfen, infodump

Aktivrollstuhl

03. October. 2024

Dieser Artikel gehört zur Beitragsreihe zum Thema Mobilitätshilfen. Eine Übersicht und Links zu den anderen Artikeln gibt es im Einleitungsartikel: Ich kann nicht mehr gut laufen, und jetzt?

Heute geht es um Aktivrollstühle. Diese Rollstühle sind, im Gegensatz zum Transportrollstuhl, für aktive und selbständige Benutzung konstruiert. Wenn du nicht weißt, was der Unterschied ist, lies dir zuerst den Artikel über Transportrollstühle durch. Anders als Elektrorollstühle werden Aktivrollstühle manuell, also mit eigener Muskelkraft angetrieben, auch wenn immer mehr Menschen einen Restkraftverstärker nutzen. Das ist ein Hilfsmotor, der ähnlich wie bei einem Ebike die Muskelkraft unterstützt.

Selbst gemachtes Foto von mir in meinem kleinen, wendigen Starrrahmenrollstuhl.
Der Autor in seinem schnieken Ottobock Ventus, 2022.

Wenn es darum geht, ob du „einen Rollstuhl“ brauchst, würde ich immer von einem Aktivrollstuhl ausgehen, da ein Transportrollstuhl für unabhängige Nutzung im Alltag ungeeignet ist. Hier werde ich das Für und Wider der Rollstuhlnutzung allgemein erklären und beschreiben, wie man am besten an so einen Aktivrollstuhl drankommt – da es individuelle Maßanfertigungen sind, kosten selbst die günstigsten Modelle neu über 2000 € und es ist sehr schwer, ein passendes Gebrauchtgerät zu finden.

Die Konfiguration eines Aktivrollstuhls ist so komplex, dass ich diesen Teil in einen eigenen Artikel ausgelagert habe. Wenn du dich darauf vorbereitest, dir einen Rolli zu besorgen, kann ich dir nur nahelegen, dich gründlich mit diesem Thema zu beschäftigen, denn es ist sehr leicht, sich einen schmerzhaften und nahezu unbenutzbaren Rolli zusammenzustellen, und die Leute, die uns beraten sollen, machen dies erfahrungsgemäß nicht immer gut.

Vorteile eines manuellen Rollstuhls:

  • Vollständige Entlastung der Beine. Allenfalls beim Transferieren ist es vorteilhaft, die Beine nutzen zu können, wenn auch nicht erforderlich.
  • Elimination von Sturzgefahr. Mit dem Rolli zu stürzen, ist in bestimmten Situationen zwar möglich, aber diese können vermieden werden.
  • Deutliche Energieeinsparung auf ebener Strecke und bergab, da du dich nicht mehr auf den Beinen halten musst.
  • Bei richtiger Konfiguration Stützung der Wirbelsäule.
  • Transportabel: Im Gegensatz zu elektrischen Rollstühlen sind manuelle Rollis sehr gut transportierbar. Sie passen in die meisten Autos und lassen sich von Helfenden auch mal eine Treppe hochtragen.
  • Insbesondere Faltrollstühle lassen sich auch sehr platzsparend vertrauen und können so beispielsweise im Treppenhaus abgestellt werden.
  • Niemand wird in Frage stellen, warum du in verschiedenen Situationen Hilfe brauchst.
  • Du kannst relativ gut Krempel transportieren. Eine große Tasche hinten an die Rückenlehne, eine zwischen die Füße, eine auf den Schoß, und der Einkauf ist untergebracht. Tablett auf den Schoß für Speisen und Getränke geht auch gut.
  • Anders als bei einem vollelektrischen Rollstuhl kriegst du beim manuellen Rolli, auch mit Restkraftverstärker, immer noch ein bisschen Bewegung ab.
  • Katzen lieben den mobilen Schoß.

Ein manueller Rollstuhl könnte das richtige Hilfsmittel für dich sein:

  • Wenn du beide Beine entlasten willst oder Sturzgefahr vermeiden willst.
  • Wenn du unter Erschöpfung leidest und mit geringer körperlicher Belastung von A nach B kommen willst, aber aus welchen Gründen auch immer keinen elektrischen Rollstuhl benutzen willst oder kannst.
  • Wenn du die Möglichkeit haben willst, ab und zu auch mal noch zu laufen. Einen kleinen Rolli kann man gut schieben und sogar das Gepäck drauf liegen lassen. (Man kann sich allerdings nicht darauf abstützen.)
  • Wenn du dich auch in Innenräumen sitzend fortbewegen möchtest.

Ein manueller Rollstuhl ist wahrscheinlich nicht das Richtige für dich:

  • Wenn du eine Form von Gleichgewichtsproblem hast, bei dem es dir nicht möglich ist, den Rollstuhl kontrolliert nach hinten zu kippen, um Kanten zu überwinden.
  • Wenn du starke Einschränkungen in den Händen hast, durch die ein Antreiben auch mit speziell angepassten Greifringen nicht möglich ist.
  • Wenn du unter so starker Erschöpfung leidest, dass selbst das Antreiben des Rollstuhls dich überlastet. Dies ist um so anstrengender, je mehr Steigungen und unbefestigtes Gelände du mit dem Rolli überwinden musst.
  • Wenn du regelmäßig Treppen überwinden musst und keine Möglichkeit findest, den Rolli entweder stehenzulassen oder mitzunehmen.

Worauf du bei Anschaffung eines manuellen Rollstuhls achten solltest:

Worauf du bei Benutzung eines manuellen Rollstuhls achten solltest:

  • So viel, dass es spezielle Kurse gibt, bei der einem alles beigebracht wird. Manövrieren in engen Räumen, Anheben der Vorderräder, Transferieren… Professor Youtube (sofern man auf die Videos noch zugreifen kann) hilft auch sehr viel weiter.
  • Der Sicherheit zuliebe: Starke Steigungen (z.B. zu steile Rampen) sind gefährlich, da du beim Hinauffahren nach hinten umkippen kannst. Auch ein Kippschutz kann je nach Steigung nicht mehr helfen. Solche Steigungen sind also zu vermeiden oder rückwärts zu erklimmen.
  • Vorsicht auch bei Nässe und bergab. In dieser Situation kannst du an blanken Greifringen nicht mehr bremsen, sie sind zu glatt. Eine „Notbremsung“ mit dem Rollstuhl machst du, indem du die Daumen direkt auf die Reifen drückst. Ja, du wirst dir die Haut aufreißen, aber es ist besser als ungebremst quer über die Hauptstraße zu schlittern.

Wo du einen Rollstuhl herbekommst:

  • Wenn du nicht gerade mehrere tausend Euro rumliegen hast, musst du dir ein Rezept dafür besorgen und dich dann mit der Krankenkasse und dem Medizinischen Dienst herumschlagen. Es ist ein Elend.
  • Ja, es gibt gebrauchte Aktivrollstühle. Es gibt die ein oder andere Internetseite, wo sie angeboten werden, auch auf Kleinanzeigen findet man manchmal einen. Allerdings ist es wichtig, dass der Rolli auch passt (siehe Konfiguration). Ich gehe davon aus, dass der überwiegende Teil aller Rollstühle über die Krankenkassen gekauft wird und somit am Ende der Nutzungszeit zurückgegeben werden muss, was den Gebrauchtmarkt entsprechend einschränkt.

Themen: behinderung, mobilitätshilfen, infodump

Transportrollstuhl

03. October. 2024

Dieser Artikel gehört zur Beitragsreihe über Mobilitätshilfen. Eine Übersicht findet ihr im Einstiegsartikel Ich kann nicht mehr gut laufen, und jetzt?

Heute stelle ich euch den Transportrollstuhl vor. Das ist diejenige Bauweise von Rollstuhl, die man als den „Standard-Rollstuhl“ kennt. Im Gegensatz zum Aktivrollstuhl, den ich im nächsten Artikel näher beschreibe, ist der Transportrollstuhl für aktive Benutzung nicht oder nur eingeschränkt geeignet. Menschen ohne Behinderung scheinen dies in der Regel nicht zu wissen: Wenn man nach „Rollstuhl“ sucht, findet man oft zuerst den Transportrollstuhl. Viele Grafiken, die „Rollstuhlfahrer“ symbolisieren sollen, zeigen einen Transportrollstuhl. Viele Filme und Serien mit einem rollifahrenden Charakter verwenden diese Art von Rollstuhl. News-Artikel zum Thema Behinderung werden oft mit Fotos von einem Transportrolli bebildert, die ungefähr so aussehen:

Dramatisches Schwarz-Weiß-Foto eines Transportrollstuhls ohne Insassen.
Aus unklaren Gründen werden diese Rollstühle gerne leer fotografiert. Foto: Patrick De Boeck via Pexels.

Ein Transportrollstuhl ist keine Maßanfertigung und nicht auf aktive Benutzung optimiert, sondern aufs Bepflegtwerden. In Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen usw. sind oft einige solche Rollstühle vorhanden. Manche davon haben große Räder mit Greifringen, die eingeschränkt selbst bedient werden können; es gibt aber auch Modelle mit vier kleinen Rädern, die gar nicht selbst angetrieben werden können. Da diese Rollstühle auf möglichst viele Menschen passen sollen, sind sie oft sehr groß dimensioniert, was dazu führt, dass schmale und kleine Personen darin geradezu untergehen.

Transportrollstühle haben eine hohe Rückenlehne, was die zum Antreiben nötige Bewegung einschränkt. Die Armlehnen sollen verhindern, dass die Person im Rollstuhl versehentlich mit den Händen in die Räder gerät; dadurch kommt sie aber auch dann nicht dran, wenn sie die Räder antreiben möchte. Die geteilte Fußstütze ist sehr breit und schwer; sie kann zur Seite gedreht werden, um assistiertes Aufstehen zu erleichtern.

Der Schwerpunkt eines Transportrollstuhls liegt sehr weit vorne. Das bedeutet, dass es fast unmöglich ist, den Rollstuhl nach hinten zum Umkippen zu bringen (und die üblicherweise angebrachten Kippstützen beseitigen die Gefahr vollständig). Allerdings wird es hierdurch auch sehr schwer, den Rollstuhl anzutreiben, da zu viel Gewicht auf den kleinen Vorderrädern liegt, die erheblich mehr Reibungswiderstand erzeugen als die großen Haupträder. Außerdem wird es durch die Schwerpunktlage sehr schwer, den Rollstuhl mit einem beherzten Anschubsen an den Greifringen vorne anzuheben – dies ist die Standardtechnik, um einzelne Stufen und Kanten wie Bordsteine oder hohe Türschwellen zu überwinden.

Transportrollstühle sind meistens faltbar. Allerdings sind sie auch im gefalteten Zustand so hoch und sperrig, dass sie nur in einem großen Kofferraum transportiert werden können.

Stockfoto eines Models in einem Transportrollstuhl mit den Füßen auf dem Boden. Ein zweites Model steht daneben.
Der Transportrollstuhl ist so groß, dass das klein gebaute Model die Sache mit den Fußstützen längst aufgegeben hat. Foto: Ivan Samkov via Pexels.

Insgesamt ist der Transportrollstuhl für die aktive Benutzung also eher ungeeignet. Für viele Menschen in prekären Situationen ist er jedoch das beste zugängliche Hilfsmittel. Dies ist ein unerträglicher Zustand, aber wenn es keine bessere Lösung gibt, lässt sich ein Aktivrollstuhl zumeist modifizieren, um ihn besser benutzbar zu machen.

Wenn du an dem Punkt angekommen bist, wo du einen Rollstuhl brauchst, ist ein Transportrollstuhl nicht das Mittel der Wahl. Besonders, wenn du wenig Kraft hast, wenig Energie, Probleme mit den Handgelenken usw. ist ein Transportrollstuhl vermutlich unbenutzbar für dich. Wenn du in einem solchen Gerät sitzt, wirst du nicht vorwärtskommen. Das bedeutet jedoch nicht zwangsweise, dass du generell keinen manuell angetriebenen Rolli benutzen kannst – um das rauszufinden, musst du wirklich einen auf deinen Körper passenden Aktivrollstuhl ausprobieren. Der Unterschied ist drastisch, das kann ich nicht genug unterstreichen.

Ein Transportrollstuhl ist eine Notlösung und ermöglicht in den meisten Fällen keine ausreichende Unabhängigkeit. Trotzdem will ich dieses Hilfsmittel zumindest vorstellen, denn manchmal hat man eben doch keine Möglichkeit, etwas Passenderes zu bekommen, und manchmal braucht man einfach einen Rollstuhl für ein paar Tage im Jahr und sonst eigentlich nicht. Und im Vergleich mit dem zukünftigen Artikel über Aktivrollstühle wird dann hoffentlich allen Lesenden klarwerden, was der Unterschied ist.

Vorteile des Transportrollstuhls:

  • Relativ einfach und günstig erhältlich, oft auch für wenige Euros bei Kleinanzeigen o.Ä.
  • Ansonsten gibt es gegenüber einem Aktivrollstuhl wirklich keine Vorteile, sorry.
  • Allerdings ist es natürlich ein Rollstuhl und bringt die Vorteile eines Rollstuhles mit sich: Man kann sitzend überall hin, wo es rollstuhlzugänglich ist, man muss nicht gehen, man kann Gegenstände auf dem Schoß transportieren (Katzen lieben diesen Trick) und in Innenräumen ist ein Transportrolli mit großen Rädern und Greifringen auch noch adäquat benutzbar. Erst auf der Straße wird es völlig witzlos.

Ein Transportrollstuhl könnte das richtige Hilfsmittel für dich sein:

  • Wenn du einen Rollstuhl brauchst, aber nicht vorhast, dich im Außenbereich selbständig fortzubewegen. Solange du jemanden dabei hast, um dich zu schieben, ist das völlig okay.
  • Wenn du den Rollstuhl sowieso mit einem Antrieb ausstatten willst und dir die Sitz-Ergonomie einigermaßen egal ist bzw. du kein Problem hast, daran rumzubasteln, bis es passt.
  • Für zeitbegrenzte Anwendung z.B. im Rahmen einer Veranstaltung, eines Ausfluges, einer Konferenz etc.
  • Zum Überbrücken, bis du einen Aktivrollstuhl kriegst.

Ein Transportrollstuhl ist wahrscheinlich nicht das richtige Hilfsmittel für dich:

  • Wenn du dich im Außenbereich selbständig fortbewegen möchtest.
  • Wenn du den Rollstuhl in einem kleinen Auto transportieren willst.
  • Wenn du auf einen ergonomischen Sitz angewiesen bist (es gibt Sitze mit mehr Stützwirkung, diese sind allerdings dann üblicherweise noch weniger für aktive Nutzung geeignet und sie sind unglaublich teuer).

Wie du einen Transportrolli für aktive Benutzung modifizieren kannst:

  • Entferne die Armstützen. Manchmal lassen sie sich einfach abnehmen, in anderen Fällen musst du mit einer Flex dran. Ohne die klobigen Dinger kommst du besser an die Greifringe.
  • Setz dich so weit wie möglich nach hinten, um den Schwerpunkt möglichst weit nach hinten zu verlagern.
  • Entferne die Fußstützen und ersetze sie durch einen Gurt, den du entweder vorne vom Rahmen abhängst oder unten am Rahmen befestigst. Dadurch nimmst du sehr viel Gewicht von den Vorderrädern und verschiebst den Schwerpunkt noch weiter nach hinten.
  • Besorg dir ein bequemes Sitzkissen.

Foto eines gefalteten Transportrollstuhls.
Gefaltete Transportrollstühle sind zwar relativ schmal, aber immer noch sehr hoch und sperrig. Foto: Old MaMa Carol, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Themen: behinderung, mobilitätshilfen, infodump