Demokratiebewältigung
Wir reden in letzter Zeit so viel über Demokratie. Die gefährdete Demokratie, die gefährliche Demokratie, ganz Hamburg liebt Demokratie, irgendwas mit Demokratie ist immer. Irgendwer will sie stabilisieren oder destabilisieren oder abschaffen oder aufbauen. Wir haben zu viel Demokratie oder zu wenig Demokratie.
Gleichzeitig malen in meinem unmittelbaren Umfeld viele Menschen krasse Horrorszenarios an die Wand. Die ganzen Diskussionen und die Horrorszenarios – ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber mir persönlich macht das ehrlich gesagt doch ein bisschen Angst.
Wenn mir etwas Angst macht, dann versuche ich, es zu verstehen. Also habe ich versucht, die Demokratie zu verstehen. Was ist das überhaupt, diese Demokratie? Und wo ist die Grenze zwischen Demokratie und Nicht-mehr-Demokratie?
Auch so eine demokratische Tradition in Deutschland.
Eigentlich verstehe ich mich selbst nicht als politischer Mensch. Dieses ganze Gelaber, die sinnlosen Attacken, die Manövriererei. Mich interessiert das alles einfach nicht so richtig und meistens langweilt es mich zu Tode. Ich achte oft nur dann auf die Politik, wenn sie mich konkret betrifft.
Aber irgendwie betrifft sie doch uns alle und immer – ist das nicht das, was Demokratie heißt? Wir haben das in der Schule gelernt, Herrschaft des Volkes und so. Das heißt, dass eigentlich wir bestimmen sollen, was in unserem Staat passiert. Denn der Staat, das sind angeblich wir.
Aber ich glaube, die wenigsten von uns haben das Gefühl, dass das auch so ist. Bei der Wahl kann ich mich entscheiden zwischen einem Haufen Parteien, die entweder nix zu sagen haben oder sowieso aktiv gegen meine Interessen handeln. Ist das Demokratie?
Oder ist Demokratie, dass ich in eine Partei eintreten kann und von innen eine Verbesserung erwirken kann? Oder meiner Partei helfen kann, mehr Stimmen zu bekommen? Oder ist Demokratie, dass ich mich als Teil der Zivilgesellschaft in Interessensverbänden, Vereinen und Gewerkschaften direkt für meine Themen einsetzen kann, entweder im Dialog mit der Politik oder direkt in der Gesellschaft? Was ist diese Demokratie wirklich?
Wir in Deutschland verstehen darunter vorrangig erstmal Wahlen. Wahlen in Deutschland, das ist immer noch Papier und das hat auch gute Gründe. (Papier in großen Mengen ist viel schwieriger zu fälschen, als den Inhalt einer elektronischen Datenbank zu manipulieren.) Papierstimmzettel also. Papierstimmzettel und ein ganz genauer, in jahrzentelanger Tradition ausgeklügelter Prozess, wie man das mit der Auszählung am besten macht. Jeder Schritt ist darauf ausgelegt, dass es möglichst schwierig wird, irgendwas zu manipulieren.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht, dass die Wahlen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein sollen. Alle Bürger*innen sollen wählen dürfen, das ist das allgemeine Wahlrecht. Unmittelbar heißt, wir wählen die Abgeordneten direkt, ohne eine Zwischeninstanz. Frei heißt, dass niemand unsere Wahl beeinflussen oder manipulieren soll. Gleich heißt, dass die Stimmen aller Wählenden gleich viel zählen. Geheim heißt, dass niemand die Möglichkeit haben darf, herauszufinden, was eine bestimmte Person gewählt hat. Langweilig, oder? Wir kennen diese Grundsätze alle, entweder haben wir sie in der Schule gelernt oder im Integrationskurs oder zumindest mal irgendwo davon gehört oder gelesen.
Trotzdem fühlt sich das seltsam an, wenn ich so darüber nachdenke, an was unsere Bürgerrechte eigentlich hängen. Zwischen uns und Nicht-mehr-Demokratie sind diese Zettel aus dünnem Papier. Und diese Urne, die zumindest hier in Hamburg so aussieht wie eine Mülltonne, was mich unverhältnismäßig amüsiert. Also Zettel und ein Plastikbehälter und eine große Anzahl Freiwillige, die sich dann abends ein paar Stunden hinsetzen und das alles auszählen. Und das ist unsere Demokratie?
Aber Wahlen gibt es auch in Ländern wie der Türkei oder sogar Russland. Und die USA haben sich jetzt einen Präsidenten gewählt, der das Land ganz klar in eine autoritäre Richtung steuert.
Ich bin dann auf den Begriff Competitive Authoritarianism gestoßen, also kompetitiver Autoritarismus. In einem Text in der Foreign Affairs schreiben Steven Levitsky und Lucan A. Way über dieses Konzept (Übersetzung von mir):
»Sogar in einem Worst-Case-Szenario wird Trump nicht in der Lage sein, die Verfassung zu überschreiben oder die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen. Unabhängige Richter, Föderalismus, das Berufsmilitär und hohe Barrieren zu Verfassungsreformen werden ihn beschränken. Es wird 2028 Wahlen geben, und die Republikaner könnten sie verlieren. Aber Autoritarismus erfordert keine Zerstörung der verfassungsmäßigen Ordnung. Was uns bevorsteht, ist keine faschistische oder Ein-Parteien-Diktatur, sondern kompetitiver Autoritarismus – ein System, in dem Parteien in Wahlen gegeneinander antreten, aber der Machtmissbrauch des Amtsinhabers zu einer systematischen Schlechterstellung der Opposition führt. Die meisten Autokratien, die seit dem Ende des Kalten Krieges entstanden sind, fallen in diese Kategorie, dazu gehören Peru unter Alberto Fujimori, Venezuela unter Hugo Chávez und das heutige El Salvador, Ungarn, Indien, Tunesien und die Türkei.«
Es gibt auch noch andere Begriffe, um ähnliche Konzepte zu beschreiben. Wikipedia listet im Artikel über Diktatur noch die Begriffe Defekte Demokratie, Illiberale Demokratie, Delegative Demokratie, Elektoraler Autoritarismus und Hybrides Regime.
Klar ist also: Wahlen allein machen noch keine Demokratie. Auch ein gewählter Herrscher kann, wenn man ihn lässt, Bürgerrechte beschneiden, das Wahlrecht beschränken, Institutionen und Verwaltung umkrempeln und großes Unrecht anordnen.
Demokratie ist nicht nur ein System. Demokratie ist eigentlich eher, wie man heutzutage so schön sagt, ein Vibe. Genauso wie unter dem Begriff Kommunismus nicht das reine Wirtschaftssystem verstanden wird, sondern man meint damit oft die Diktaturen und die Gewalt, die sich als kommunistisch bezeichnet haben. Genauso verstehen wir unter Demokratie nicht einfach nur Wahlen, sondern wir benutzen den Begriff ohne qualifizierendes Adjektiv nur dann, wenn das System, das wir damit beschreiben, auch ein gewisses Level an Freiheit und Beteiligung ermöglicht.
Freiheit ist da ein ziemlich zentraler Begriff. Den machen sich ja auch immer wieder rechtsextreme Akteure zu eigen, hier in Deutschland wie auch international. Aber im Grunde, wenn ich an Freiheit denke, dann denke ich an Pressefreiheit, Redefreiheit, Freizügigkeit… und ich, als behinderte trans Person, ich denke auch an die Freiheit, ich selbst sein zu dürfen und meine Lebensentscheidungen selbst treffen zu dürfen.
Das war auch im Nachkriegsdeutschland lange überhaupt keine Gegebenheit. Wir tun oft so, als ob wir nach ’45 diese tolle Demokratie aufgebaut hätten und nachdem wir die Nazis alle erhängt und eine neue Regierung gewählt hatten, waren die Deutschen, zumindest im Westen, endlich wieder frei.
Dabei ist diese Freiheit eine ständige Verhandlungssache und wir haben heutzutage viel mehr Freiheiten, die wir als völlig selbstverständlich annehmen, als wir 1949 hatten.
Gerade war erst der 8. März, da ist es den jüngeren von uns vielleicht noch frisch im Gedächtnis. Den älteren von euch erzähle ich nichts Neues, wenn ich sage: Hier im Westen, in der BRD, durften Frauen erst ab 1962 ein eigenes Bankkonto führen. Erst 1977 durften sie selbständig und ohne Erlaubnis von Vater oder Ehemann einen Arbeitsvertrag unterschreiben. 1977 waren meine Eltern beide schon erwachsen. Im Gegensatz dazu: In der DDR, die ja eben keine Demokratie war, durften Frauen das alles schon seit 1949.
Eine weitere große Freiheitsbeschränkung war der Paragraph 175 des Strafgesetzbuchs, der Homosexualität zwischen Männern unter Strafe stellte. Der bestand schon seit dem Jahr 1871, wurde im Dritten Reich verschärft und in der BRD erst 1994 vollständig abgeschafft. In der DDR wurde seit 1958 Homosexualität zwischen Erwachsenen nicht mehr verfolgt, weil sie als geringfügiges Verbrechen galt. 1968 wurde der Straftatbestand dann abgeschafft, also in der DDR. Im Westen waren ab 1973 schwule Handlungen nur noch mit unter-18-jährigen strafbar, das Schutzalter dabei war somit deutlich höher als bei heterosexuellen oder lesbischen Handlungen. (Homosexualität zwischen Frauen wurde generell nicht unter diesem Paragraphen bestraft.) Aber der wichtige Punkt ist: 1973. So lange konnten in der BRD trotz unserer hoch gelobten Freiheitlichen Demokratischen Grundordnung erwachsene Männer – und bis 1994 junge Männer mit kleinem Alterunterschied – fürs Schwulsein in den Knast kommen. Im Gegensatz dazu dürfen sie heutzutage sogar heiraten, was im vergangenen Jahrtausend noch völlig undenkbar wirkte.
Trans Menschen mussten länger auf ihre Legalisierung warten. Erst 1981 wurde es mit dem Transsexuellengesetz überhaupt möglich gemacht, den Vornamen und Geschlechtseintrag aus Gründen des Transseins zu ändern. Dass man den Vornamen in Deutschland nicht einfach so ändern kann, was in vielen anderen Staaten auf der ganzen Welt ja relativ problemlos möglich ist, liegt übrigens an einem Gesetz aus dem Jahr 1938, mit dem verhindert werden sollte, dass jüdische Menschen ihren Namen so ändern, dass er weniger jüdisch klingt. Dieses Gesetz gilt bis heute und das ist der Grund, warum die ganzen Matthiase und Leonies sich nicht ohne massiven Aufwand und psychologische Gutachten einen einfallsreicheren Vornamen aussuchen können.
Aber zurück zu trans Menschen. 1981 kam also das Transsexuellengesetz. Nach und nach wurde das dann durch das Bundesverfassungsgericht immer weiter zurückgestutzt. Anfangs war für die Geschlechtsänderung ein Mindestalter von 25 Jahren enthalten. Das wurde schon 1982 durch das Bundesverfassungsgericht rausgestrichen. Bis 2009 gab es eine zwangsweise Scheidung: Wenn eine trans Person bei der rechtlichen Änderung des Geschlechts verheiratet war, war sie es dann eben nicht mehr, weil das dann ja eine gleichgeschlechtliche Ehe gewesen wäre. Diese Regelung wurde erst 2009 vom Verfassungsgericht einkassiert. Bis 2011 mussten trans Menschen eine geschlechtsangleichende Operation gemacht haben, um ihr Geschlecht offiziell ändern zu dürfen. So eine Operation bedeutet immer eine Sterilisation. Man kann sich denken, was für einschneidende Folgen es für einen Menschen hat, sich entscheiden zu müssen: entweder ein zwangsweise kinderloses Leben – oder ein Leben als ein Mensch, der ich nicht bin.
Das Transsexuellengesetz hatte bis letztes Jahr Gültigkeit. Der Gutachtensprozess dauerte oft Jahre, oft forderten Gutachter, dass man schon eine bestimmte Zeit lang in Therapie war, und die Gutachten und Gerichtsverfahren kosteten gerne mal einige tausend Euro. Eine wirklich selbstbestimmte Änderung von Namen und Geschlechtseintrag ohne diesen massiven finanziellen, organisatorischen und zeitlichen Aufwand ist erst seit November 2024 möglich. Das ist noch kein halbes Jahr.
Auch 1949 war die BRD schon eine Demokratie. Jetzt, 2025, haben wir in vielerlei Hinsicht viel mehr Rechte und Freiheiten als damals.
Ich denke da auch an die Rechte von behinderten Menschen: an Inklusion, an die UN-Behindertenrechtskonvention, an Barrierefreiheit. Es ist viel leichter geworden, sich als behinderter Mensch frei zu bewegen und mehr von den Bürgerrechten in Anspruch nehmen zu können, die uns eigentlich allen zustehen. Nachteilsausgleiche und Inklusion werden viel besser verfügbar gemacht durch Angebote wie die Teilhabeberatung oder das Persönliche Budget.
Aber dann denke ich auch an all die Schritte, die unsere Freiheiten teilweise wieder zurücknehmen wollen oder es auch tun. Ich denke an Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, an Überwachungsvorstöße wie die Vorratsdatenspeicherung und die Chatkontrolle… und ich denke an die Beschneidung des Asylrechts ab 1993. Ich denke, das darf man auch nicht vergessen: Für wen gelten die Rechte und Freiheiten, die wir errungen haben, überhaupt, und wen schließen wir davon aus?
Im Moment stehen wir so vielen Forderungen gegenüber, die unsere Freiheiten beschränken wollen, dass es schwer ist, den Überblick zu behalten. Genderverbot, Abschiebungen, Bezahlkarte, Abschaffung des Selbstbestimmungsgesetzes, Rekriminalisierung von Cannabis… und natürlich wird auch immer wieder gefordert, den Verwaltungsapparat und die Rechtsprechung auf eine bestimmte politische Richtung einzustellen.
Das hat in der BRD Tradition. Mit dem Radikalenerlass von 1972, als Reaktion auf die Protestwelle der 68er-Generation, wurde beeinflusst, welche Menschen für Beamtenberufe eingestellt wurden oder wem der Beamtenstatus entzogen wurde. Der Radikalenerlass führte dazu, dass Menschen für völlig legale politische Beteiligung oder auch nur für den Verdacht einer politisch linken Einstellung von staatlichen Berufen ausgeschlossen wurden. Es gab zwar bis 1991 nur einige hundert Entlassungen und etwas über tausend verwehrte Einstellungen, aber über 3 Millionen Überprüfungsverfahren. Wir können uns vorstellen, was das für einen Effekt hat, wie diese Drohung das Verhalten von Menschen beeinflusst, die einen staatlichen Beruf anstreben oder schon Beamte sind.
Damit wurde im demokratischen Westdeutschland der Staatsapparat verwendet, um die Opposition zu schwächen. Wenn wir an die Beschreibung von eben denken, an den kompetitiven Autoritarismus, dann ist ganz klar, dass so eine Handlung eine Demokratie weniger demokratisch macht. Das war die BRD im letzten Jahrhundert.
Heute kommen solche Tendenzen auch wieder hoch. Wenn zum Beispiel gefordert wird, bestimmte Gruppen »mit der vollen Härte des Rechtsstaats« zu bestrafen, statt an Artikel 3 unseres Grundgesetzes zu erinnern, in dem steht: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.« Und: »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.« Das möchte ich unterstreichen: Vor dem Gesetz darf niemand wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Sagt das Grundgesetz.
Es müsste also völlig egal sein, ob sich jemand auf die Straße klebt, um für Klimaschutz zu protestieren, oder auf dieser Straße Gülle verteilt, um gegen Klimaschutz zu protestieren. Laut unserer Verfassung sind sie vor dem Gesetz gleich. Die volle Härte soll je nach Ermessen der Gerichte angewendet werden, nicht nach dem Wunsch der Politik.
Wir bezeichnen solche Tendenzen oder Forderungen, den Staat weniger freiheitlich und weniger demokratisch zu machen, dann gerne als »faschistisch«. Das ist verständlich, denn hier im Westen war unsere letzte Erfahrung mit Autoritarismus der Nazi-Faschismus. Aber ich verweise nochmals auf die Liste: Kompetitiver Autoritarismus, Defekte Demokratie, Illiberale Demokratie, Delegative Demokratie, Elektoraler Autoritarismus und Hybrides Regime. Zwischen dem Punkt, wo wir sind, und dem Punkt, von dem wir uns alle einig sind, dass wir da auf keinen Fall wieder hinwollen, liegen eine ganze Menge Zwischenstufen, wo wir… Na ja. Also wo zumindest ich auch auf keinen Fall hinwill, um ganz ehrlich zu sein.
Diese ganzen Forderungen und, mit den laufenden Koalitionsverhandlungen, auch handfesten Pläne, was alles abgeschafft werden soll, all die Menschengruppen, die ausgeschlossen, abgeschoben, ausgehungert, weggesperrt, bis zur Mittellosigkeit sanktioniert und anderweitig entrechtet werden sollen, diese Bestrebungen sind kein Faschismus. Das ist einfach nicht, was das Wort heißt. Aber sie nehmen uns trotzdem viele von diesen hart erkämpften Rechten und Freiheiten wieder weg.
Die Frage ist, ob wir das mit uns machen lassen.
Und die Frage ist auch, an welcher dieser Zwischenstufen wir als Bevölkerung, als Souverän über den demokratischen Staat, anfangen, wieder dagegenzusteuern.
Themen: politik, kommentar, persönlich