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Die Sache mit den Rollstuhl Apps

21. October. 2024

Stell dir vor, du bekommst ein neues Paar Beine. Und dann möchte der Hersteller dieser Beine hundert Euro von dir, damit du damit rennen kannst.

Dekoratives Foto von einem Rollstuhlrad mit E-Motion-Antrieb und einem kleinen Aufkleber, auf dem steht: Proprietäre Kackscheiße.
Dieser Sticker musste da einfach hin.

Rollstuhlantrieben von Alber kann man in deutschen Sanitätshäusern kaum entkommen, ich weiß es aus eigener Erfahrung. Schon als ich 2017 meinen neuen Rollstuhl bekam, sprach ich mit den Sanitätshaus-Angestellten über eine mögliche spätere Motorisierung. In diesen Gesprächen wurde der Markenname e-motion vollkommen synonym mit dem Konzept eines Restkraftverstärkers verwendet. Solche Hilfsantriebe unterstützen bei einem manuellen Rollstuhl die Anschubbewegung der Hände, ganz ähnlich dem Prinzip eines Ebike-Motors, der durchs Pedaletreten aktiviert wird.

Eigentlich gibt es Restkraftverstärker auch von anderen Herstellern, doch durch meine Interaktionen mit Sanitätshäusern habe ich den Eindruck bekommen, dass sie diese nicht kennen. Als ich mich einige Jahre später in einem anderen Sanitätshaus am anderen Ende Deutschlands nach Rollstuhlzuggeräten erkundigte und wissen wollte, welche verschiedenen Hersteller es gibt, wurde mir eine kleine Reihe von Vorführrollstühlen mit entsprechenden Antrieben (alle von Alber) gezeigt, ich bekam ein Alber-Werbeprospekt in die Hand gedrückt und ging schlecht informiert wieder nach Hause.

Die Alber GmbH stellt verschiedene Arten von Unterstützungsmotoren für Rollstühle her. Der e-fix ist ein vollautomatischer Antrieb mit einem Joystick. Mit dem e-pilot bietet die Firma ein Rollstuhlzuggerät an und der smoov one ist ein Antrieb, der in Form eines zusätzlichen Rades hinten am Rollstuhl angebracht wird. Abgesehen vom e-motion verwandeln all diese Antriebe den Rollstuhl rechtlich gesehen in ein motorisiertes Fahrzeug, das nur bis 6 km/h ohne weitere Auflagen im Straßenverkehr verwendet werden darf.

Eigentlich ist es ein Unding, dass Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung auf motorisierte Räder angewiesen sind, sich mit maximal 6 km/h darauf fortbewegen dürfen. Oberhalb dieser Geschwindigkeit gilt auch für Rollstühle und Elektromobile eine Versicherungspflicht, über 15 km/h ist sogar ein Mofa-Führerschein erforderlich. Dabei kann jedes gesunde Paar Beine innerhalb kürzester Zeit und in den gefährlichsten Situationen auf 15 km/h beschleunigen, niemand verlangt einen Versicherungsnachweis für die Dinger und dafür bezahlen muss man auch nichts. Aber auch die Krankenkassen sehen sich nicht in der Pflicht, einen Rollstuhl oder Rollstuhlantrieb zu bezahlen, der mehr ersetzt als die Gehfähigkeit, mit einer Geschwindigkeit von maximal 6 km/h. In Deutschland ist das nunmal so.

Wie ist es also möglich, dass die Webseite des smoov one mit einer Höchstgeschwindigkeit von »bis zu 10 km/h« wirbt, obwohl solche Geräte regelmäßig von der Krankenkasse übernommen werden? Hierfür hat die Firma Alber sich einen Trick ausgedacht: Für ihre Rollstuhlantriebe bietet sie über Google Play und den Apple App-Store modellspezifische Apps an, mit denen durch In-App-Käufe zu haarsträubenden Preisen die Maximalgeschwindigkeit erhöht werden kann.

Screenshot der Webseite smoov.com, auf dem die Angabe zu sehen ist: bis 10 km/h Höchstgeschwindigkeit.
So sah die Smoov-Webseite am 12. Oktober 2024 aus.

Alber bietet in den Apps unterschiedliche Sonderfunktionen an und lässt sie sich gut bezahlen. So kostet es in der App für den e-motion M25 beispielsweise 39,99 €, den Rollstuhl übers Handy fernsteuern zu können – eine große Alltagserleichterung für Menschen, die ohne ihren Rolli keinen Meter weit kommen. Auf den Schrittzähler für 9,99 € können wohl die meisten Benutzenden getrost verzichten; es fallen jedoch 99,99 € dafür an, eine Art Tempomat-Funktion freizuschalten, die für Personen mit wenig Kraft und Ausdauer eine Vergrößerung ihres Bewegungsradius bedeuten kann. Andere Hersteller bieten Restkraftverstärker an, bei denen diese Funktion im Produkt integriert ist, so zum Beispiel der Empulse WheelDrive von Sunrise Medical durch einen zweiten Greifring. Da dieses Gerät jedoch deutlich teurer ist, wird es von der Krankenkasse wohl kaum als Basisversorgung genehmigt werden.

Zu guter Letzt kostet es noch einmal 99,99 €, die Funktionen des ECS auf die App zu übertragen. Das ECS ist bei Auslieferung des Antriebs enthalten und ermöglicht es, manche Einstellungen vorzunehmen. So ist beispielsweise der Wechsel zwischen Indoor- und Outdoor-Modus oder die Aktivierung und Deaktivierung der Rückrollsperre standardmäßig über das ECS möglich. Doch was zunächst wie eine gute Idee klingt – schließlich sollen ja auch Personen ohne Smartphone (oder ohne Google-/Apple-Account) ihren Rollstuhl irgendwie einstellen können – entpuppt sich schnell als Farce, denn weitere, ebenfalls wichtige Funktionen sind nur über die App erreichbar, die ebenso wie das ECS über Bluetooth mit den Rädern verbunden werden muss.

Foto eines unnötig klobigen Geräts, etwa so groß wie ein Handy, mit einfachem LCD und Gummiknöpfen.
ECS steht übrigens für »Ergonomic Control System«. Was an dem Ding ergonomisch sein soll, erschließt sich mir nicht.

Das Gesamtpaket für alle Funktionen, inklusive der Erhöhung der Höchstgeschwindigkeit, kostet in der M25-App 299 € (Link ist nur da, damit Lesende sich selbst über die In-App-Käufe vergewissern können). Da der Rolli mit Restkraftverstärker in Deutschland nicht als Kraftfahrzeug zählt, ähnlich wie bei Ebikes, dürfte es hierbei keine rechtlichen Schwierigkeiten geben, doch im Internet warnen behinderte Personen einander davor, die »Speed«-Funktion zu kaufen: Es gäbe Schwierigkeiten bei der Kostenübernahme später eventuell anfallender Reparaturen, die Krankenkassen würden nicht mehr bezahlen. Die Unzufriedenheit mit dem Angebot ist spürbar groß.

Ich habe bei meiner eigenen Krankenkasse nachgefragt und konnte das Gerücht nicht bestätigen. Im Telefonat wurde ich recht schnell mit einer Person verbunden, die schon von sich aus wusste, dass dieses Upgrade existiert und was es bewirkt. Mir wurde erklärt, dass die Krankenkasse bei Anschaffung eines Geräts nicht die Teile übernehme, die mit einer höheren Motorisierung zu tun haben; bei einem vollen Elektrorollstuhl müsse bei Wahl einer höheren Maximalgeschwindigkeit beispielsweise ein enstprechend größerer Akku selbst bezahlt werden. Auch Umbauten am Gerät müsse ich über die Krankenkasse vornehmen, der es rechtlich gesehen gehört. Doch da es sich um eine »reine Software-Sache« handelt, spräche nichts dagegen und es gäbe für die Kasse keinen Grund, spätere Reparaturkosten nicht zu übernehmen. Andere Krankenkassen entscheiden hier möglicherweise anders, doch vor diesem Hintergrund erscheint es weniger bemerkenswert, dass die App nicht auf mögliche Probleme hinweist.

Interessanter ist die Rechtslage bei Geräten, die den Rollstuhl ohne Beteiligung der eigenen Muskelkraft antreiben. Für jedes seiner Modelle hat Alber eine App, und für alle vier aktuellen Geräte bietet diese App eine Erhöhung der Maximalgeschwindigkeit an. Die Verfügbarkeit und die Preise der einzelnen Funktionen unterscheiden sich. So kostet in der smoov O10 App das Freischalten von 10 km/h Höchstgeschwindigkeit 129,99 €; weitere Zusatzfunktionen werden für 29,99 € und 39,99 € verkauft. Die App für den e-fix bietet keine In-App-Käufe an; eine Lizenz für ein »Mobility Plus Package« ist jedoch für sage und schreibe 349,99 € direkt über Alber beziehbar und bietet nicht nur eine Fernbedienungsfunktion, sondern auch eine Freischaltung auf 8 km/h. In der App für den e-pilot e15 kann ausschließlich eine Geschwindigkeitserhöhung auf satte 20 km/h erworben werden, und zwar für 249,99 €.

Wer so ein Fahrzeug in Deutschland außerhalb von Privatgelände fährt, ohne sich zuvor eine Betriebszulassung und eine Haftpflichtversicherung zu holen, verstößt gegen das Pflichtversicherungsgesetz und begeht damit keine Ordnungswidrigkeit, sondern eine Straftat. Bei einer Höchstgeschwindigkeit von mehr als 15 km/h ist außerdem noch ein Mofa-Führerschein erforderlich und es ist unwahrscheinlich, dass für einen Rollstuhl für so eine Geschwindigkeit eine Straßenzulassung erteilt wird.

Alber weist darauf immerhin hin. In der Beschreibung der App für den e-pilot, das Gerät mit der höchsten freischaltbaren Geschwindigkeit, heißt es etwa: »Im Geltungsbereich der Straßenverkehrsordnung (StVO) darf die Geschwindigkeit 6 km/h nicht überschreiten, 20 km/h Unterstützungsgeschwindigkeit sind nur auf privatem Gelände erlaubt. Bei Verwendung des e-pilot mit 10 oder 15 km/h im Geltungsbereich der StVO ist eine Einzelabnahme nach StVZO und Versicherung gemäß Pflichtversicherungsgesetz notwendig.« Es wird also eine Geschwindigkeit angeboten, von der sie von vorherein wissen, dass sie nicht zulässig ist.

Die Versicherungs- und Zulassungspflicht gilt bei einer »bauartbedingten« Höchstgeschwindigkeit von über 6 km/h. Elektronische Drosselung der Geschwindigkeit ist prinzipiell zulässig. Ob es immer noch zulässig ist, wenn die Höchstgeschwindigkeit über einen Button in einer App jederzeit über das erlaubte Maximum hinaus erhöht werden kann, konnte ich beim besten Willen nicht herausfinden.

Mir ist kein anderer Hersteller bekannt, der ähnlich agiert wie Alber. Zusatzfunktionen werden beim Kauf dazugebucht oder eben nicht; Einstellungen am Gerät, die über Benutzereinstellungen hinausgehen, werden von Händlern vorgenommen oder gar nicht. Rollstuhlantriebe, insbesondere Zuggeräte, gibt es durchaus mit höheren Geschwindigkeiten zu kaufen, die beim Kauf ausgewählt werden. Manche Händler bieten sogar an, gleich die Abnahme beim TÜV zu organisieren, wenn das Zuggerät zusammen mit einem neuen Rollstuhl gekauft wird. Ich habe mir etliche Rollstuhlantriebe von verschiedenen Herstellern angesehen und konnte für keinen davon eine App finden.

Allein für den Smartdrive, ein Antrieb, der hinten am Rollstuhl befestigt wird, gibt es eine App – ein Fitnesstracker. Was Alber als kostenpflichtige Zusatzfunktionen anbietet, ist bei alternativen Herstellern entweder funktionell integriert oder generell nicht möglich. Vielleicht liegt das daran, dass Alber dringend mehr Geld verdienen möchte, denn die GmbH gehört zur Invacare Corp, die 2023 in den USA Insolvenz angemeldet hat.

Um diese Einnahmestrategie umsetzen und Menschen das Angebot näherbringen zu können, hat Alber Produkte geschaffen, die einen Digitalzwang bzw. Smartphonezwang mit sich bringen. So kostet es in der M25-App zwar kein Geld, den Leistungsmodus des Antriebs einzustellen und sich auszusuchen, ob der Restkraftverstärker eher empfindlich oder unempfindlich reagieren und wie lange er nachlaufen soll, doch wer kein Smartphone besitzt und diese kostenlose Funktion der App nicht nutzen kann, muss dafür extra zurück ins Geschäft fahren. Wer unabhängigen Zugriff auf die Funktionen der täglich verwendeten Mobilitätshilfe haben will, muss notwendigerweise nicht nur das klobige ECS mit sich herumtragen, sondern zusätzlich noch die App installieren. (Und, wie schon erwähnt, kostet es 100 €, das ECS nicht mehr mitschleppen zu müssen.)

Indem die Funktionen durch In-App-Käufe erworben werden, werden sie einerseits an ein konkretes Antriebsgerät gebunden. Die Verifikation der Räder geschieht hierbei durch das Scannen eines QR-Codes, der vermutlich eine Funktion als Schlüssel hat. Gleichzeitig findet zwangsweise eine Verknüpfung mit einem bestimmten Google- oder Apple-Account statt; ohne einen solchen sind die Funktionen gar nicht erst erhältlich. Eine Weitergabe der teuren Sonderfunktionen zusammen mit dem Antriebsgerät ist nicht möglich, so wie das bei physikalischer Ausstattung der Fall wäre, sodass bei einem privaten Erwerb und Weiterverkauf des Gerätes die nachnutzende Person denselben Kauf erneut tätigen muss, um dieselben Funktionen zu nutzen.

Wer sich seinen Antrieb nicht selbst kaufen kann, sondern von der Krankenkasse »versorgt« wird, hat keine Wahlfreiheit. Wenn nur ein Gerät von Alber bezahlt wird, muss dieses Gerät auch angenommen werden. Alternativen kosten oft einige tausend Euro mehr, die Differenz müsste aus eigener Tasche bezahlt werden.

Bei meinen Austauschen mit Personen, die ein Alber-Gerät haben oder hatten oder hätten haben können, sind mir sehr viele negative Einstellungen begegnet. Die Apps sind nicht beliebt, die Preise für die Sonderfunktionen werden als ausbeuterisch wahrgenommen; auch das Thema mit den angeblich später nicht übernommenen Reparaturkosten wurde immer wieder erwähnt.

Dabei tut die Firma Alber nichts, was man ihr ankreiden könnte. Die Geschwindigkeitserhöhung ist völlig legal, und wo zusätzliche Schritte nötig sind, um sie legal zu machen, wird angemessen darauf hingewiesen. Auch bietet sie die Upgrades als einmalige Lizenzkäufe an, statt sie über ein ausbeuterisches Abo-Modell zu vertreiben. Die Upgrades sind eine legitime und niedrigschwellige Methode, einen Antrieb, der vollständig von der Krankenkasse übernommen wurde, mit weiteren Funktionen auszustatten.

Es bleibt, abgesehen vom allgemeinen Unwohlsein mit dem Smartphone- und Accountzwang, der Frust über die horrenden Preise für die einzelnen Funktionen. Vielleicht wirkt es für Menschen oberhalb der Armutsgrenze weniger schlimm: Hundert oder dreihundert Euro, um rennen zu können, das ist viel, aber das kann man schon einmal bezahlen, um einen grundlegenden Freiheitswunsch zu erfüllen und hilfreiche Extras zu erhalten.

Wenn man dieses Geld jedoch nicht hat und auch nicht auftreiben kann, fühlt es sich an wie eine erniedrigende Schikane. Und behinderte Menschen haben oft sehr wenig Geld: Viele können nicht arbeiten und erhalten deswegen eine niedrige Rente oder Grundsicherung, andere könnten und würden gerne arbeiten, kriegen aber mit ihrer Behinderung keinen Job und hängen im Bürgergeld fest, wieder andere halten sich irgendwie mit ein paar Stunden Arbeit gerade weit genug über Wasser, um nicht in den Bezug abzurutschen. Dazu kommen viele Zusatzkosten, die Menschen ohne Behinderung schlichtweg nicht haben.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sich negative Gefühle einstellen, wenn behinderten Menschen nicht die gleichen Freiheiten eingestanden und zugänglich gemacht werden wie nichtbehinderten Menschen. Ja, natürlich gibt es ein größeres Unfallrisiko, wenn man sich ein paar km/h schneller bewegen kann. Aber Personen mit gesunden Beinen müssen auch nicht standardmäßig mit Fußfesseln herumlaufen, um ihre Maximalgeschwindigkeit zu drosseln.

Themen: behinderung, qualitätstext, rollstuhl, digital