Die Stadt als Plattform für den Ausverkauf unserer Privatsphäre
Wie Hunderte andere deutsche Städte lässt die Stadt Hamburg sich dafür bezahlen, dass Firmen aus der Privatwirtschaft die Außenwerbung auf öffentlichem Grund betreiben. Was zu Zeiten der Werbeplakate aus Papier wie eine vernünftige Lösung gewirkt haben mag, wirft mit zunehmender Digitalisierung der Werbeträger weitreichende Fragen über die Verwendung persönlicher und gruppenbezogener Daten auf.
Dieser Text ist die schriftliche Version des mit dem Radio FSK veröffentlichten Berichts (nachhören auf Freie-Radios.net). Der Bericht steht unter CC-BY-NC-SA.
So einen beschädigten Bildschirm zu ersetzen, ist sicher aufwendiger als die Installation einer neuen Plakatwand.
Hamburg, spät in der Nacht. Die U-Bahn kommt an, Fahrgäste steigen aus. Es ist spät, die meisten wollen nur noch nach Hause, kaum jemand redet, viele starren müde aufs Handy. Der Blaulichtfilter macht das Display um diese Uhrzeit angenehmer anzusehen. Angeblich ist das auch besser für die Schlafregulation.
Der gigantische Bildschirm hinter den Gleisen hält nichts von derartiger Technologie. Grell strahlt eine taghelle Werbung über den Bahnsteig, eine Animation ringt um die Aufmerksamkeit der schläfrigen Fahrgäste.
Ungesehen sorgt hinter den Werbekulissen ein aufwendiges System dafür, dass die Werbung »programmatisch« immer genau dann und dort ausgespielt wird, wo sie die richtige Zielgruppe erreicht. »Targeting« nennt sich das, abgeleitet von der englischen Zielscheibe. Gespeist wird dieses Targeting-System mit Unmengen von Daten, die durch sogenanntes »Tracking« von Einzelpersonen abgegriffen werden, vorrangig bei der Internet-Benutzung.
Umsteigen in die S-Bahn. In jedem Wagen mehrere Bildschirme, die auf einer Hälfte die nächsten Haltestellen anzeigen und auf der anderen Hälfte Werbung. Später, nach dem Aussteigen, an jeder Bushaltestelle ein beleuchtetes Plakat, so alltäglich, dass man es kaum wahrnimmt. Auf dem Fußweg nach Hause: Eine beleuchtete Drehsäule. Ein gigantisches Leuchtplakat über der Ampelkreuzung. Freistehende Leuchtplakate mit Rollfunktion in der Fußgängerzone.
Der Name dafür ist »Out-Of-Home-Advertising«, also Werbung außerhalb von zuhause. In den Städten kommen wir alle täglich mit dieser Art von Werbung in Berührung. Die Meinungen dazu gehen auseinander. Manche finden sie nützlich, weil sie auf interessante Produkte aufmerksam gemacht werden. Andere finden sie ästhetisch und haben das Gefühl, dass sie ihre Laune verbessert. Viele glauben, dass sie sich von Werbung nicht beeinflussen lassen, oder tun ihr Bestes, sie zu ignorieren.
Immer wieder wird auch Kritik daran laut. In Hamburg gibt es die Initiative »Hamburg Werbefrei«, die sich am Vorbild »Berlin Werbefrei« orientiert. Die Initiative sieht in der zunehmenden Elektrifizierung und Digitalisierung des Out-Of-Home-Advertisings eine Ressourcenverschwendung und sorgt sich über eine mögliche Manipulation der Bevölkerung durch die Werbeflächenbetreiber.
Aber wer betreibt diese Werbeflächen eigentlich? Wie hat die Branche sich mit der zunehmenden Digitalisierung verändert, wie sind die Verhältnisse lokal hier in Hamburg, und warum sollte uns das überhaupt interessieren?
Zwei Konzerne mit viel Macht über unseren Alltag
In Hamburg wird jede Werbung auf öffentlichem Gelände, in Verkehrsmitteln und an Haltestellen von denselben zwei Konzernen betrieben. Das sind die deutsche Ströer, deren Geschäft sich stark auf Deutschland konzentriert, und die weltweit tätige JCDecaux. JCDecaux begann im Jahr 1955 als Geschäft ihres Gründers Jean-Claude Decaux zum Betrieb von Plakatwänden an französischen Autobahnen. Einige Jahre später führte die Firma das Konzept von Stadtmöblierung in Form von werbefinanzierten Bushaltestellen ein und expandierte seitdem in weitere Bereiche des Out-Of-Home-Advertisings.
Die Ströer-Gruppe wird verwaltet von der Ströer SE & Co. KGaA. Das Unternehmen, das heute als Holding für Dutzende Tochtergesellschaften fungiert, wurde 1990 von Udo Müller und dem bereits in der Außenwerbung tätigen Heinz Ströer gegründet. Als Marktführerin in der deutschen Außenwerbung ist die Ströer heutzutage in den meisten Städten des Landes omnipräsent. In einer Präsentation vom November 2024 gibt der Konzern an, mit ungefähr 1300 Gemeinden in Deutschland Verträge für die Außenwerbung zu haben. Auch mit 19 der größten 22 Städte hat er entsprechende Vereinbarungen, die Ausnahmen sind Nürnberg, Mannheim und ausgerechnet Berlin. In Berlin wird die Außenwerbung von der Wall GmbH betrieben, die zu JCDecaux gehört. In München besteht mit der Firma DSM Decaux GmbH eine Kooperation zwischen den Konkurrentinnen Ströer und JCDecaux.
In Hamburg lag das Werberecht auf öffentlichem Grund bis 1989 bei einer Firma, die vollständig der Stadt gehörte. Diese Firma, die Hamburger Außenwerbung GmbH, wurde dann an die Deutsche Städte Medien, damals noch unter anderem Namen, verkauft. Im Jahr 2004 kaufte schließlich Ströer die Deutsche Städte Medien.
Heute hat die Stadt Hamburg Vereinbarungen sowohl mit der DSM Deutsche Städte Medien GmbH, einer Ströer-Firma, als auch der Wall GmbH, einer JCDecaux-Firma. Die Stadt macht bislang nicht öffentlich, wie hoch die vertraglich geregelten Vergütungen sind. Aus Antworten des Hamburger Senats auf Anfragen der Bürgerschaft ergibt sich, dass die jährlichen Einnahmen aus den Werbeverträgen um die 30 Millionen Euro betragen. Im Jahr 2020 waren es fast 27 Millionen Euro, für 2022 wurde mit 32 Millionen Euro gerechnet. Verglichen mit den Gesamterträgen der Stadt von rund 21 Milliarden Euro im selben Jahr sind das etwas mehr als 0,1 Prozent, aber in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Olga Fritzsche aus dem Jahr 2021 erklärt der Senat: »Es handelt sich um ein für den Gesamthaushalt unverzichtbares Einnahmevolumen.«
Im Gegenzug sind Ströer und JCDecaux die alleinigen rechtmäßigen Betreiberinnen von Werbeanlagen auf öffentlichem Grund und dazu verpflichtet, sogenannten »Wildanschlag« unverzüglich zu entfernen. Werbeanlagen auf Privatgelände sind von dieser Regelung nicht betroffen.
Der Ströer-Konzern vermarktet auch Werbung in Anlagen und Verkehrsmitteln der Deutschen Bahn. Das betrifft auch die Hamburger Bahnhöfe sowie die Hamburger S-Bahn. Außerdem besitzt die Ströer gut 75 Prozent der Anteile an der Hamburger Verkehrsmittel-Werbung GmbH. Diese Firma vermarktet seit 1989 die Werbeanlagen bei der Hamburger Hochbahn, also in Bussen und U-Bahnen und an U-Bahn-Haltestellen. Bushaltestellen mit Werbung zählen hingegen als Stadtmöbel. Die Werbefirma finanziert, baut und besitzt die Bushaltestelle.
Auch in Einkaufszentren, Supermärkten, Gaststätten, Kiosken oder Universitäten kann man auf Werbeträger stoßen. Mit der Edgar Ambient Media Group gehört auch eine auf diesen Betriebsbereich spezialisierte Firma zum Ströer-Konzern.
Out-Of-Home-Advertising ist allgegenwärtig. Der Hamburger Senat gab im Jahr 2023 an, dass sich die Gesamtzahl der Werbeträger auf öffentlichem Grund in Hamburg seit dem Jahr 2008 um 21 Prozent reduziert habe. Dennoch scheinen viele Menschen den Eindruck zu haben, immer stärker mit Werbung konfrontiert zu werden. Eine Erklärung hierfür könnte die zunehmende Digitalisierung der Werbeträger sein.
Vielerorts werden Papierplakate durch Bildschirme ersetzt. Auf diesen Bildschirmen wird alle paar Sekunden eine neue Werbung angezeigt. Manchmal sind auch informative Inhalte darauf zu sehen. Viele Anzeigen sind animiert. Eine Bauprüfdienst-Anweisung der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen empfiehlt, dass der Motivübergang »ruhig und kontrastarm erfolgen« soll und wünscht sich einen Verzicht auf »animationsähnliche Einblendungen, wie sie z.B. aus PowerPoint Präsentationen bekannt sind«. Bindend sind diese Hinweise jedoch nicht und bei näherer Betrachtung der Werbebildschirme im öffentlichen Raum wird schnell klar, dass sie auch nicht eingehalten werden.
Sowohl Ströer als auch JCDecaux drängen stark Richtung Digitalisierung der Außenwerbung. Als Unterstützung während der Anfangszeit der Corona-Pandemie erhielten beide Firmen in Hamburg die Genehmigung, alle Werbeträger zu digitalisieren. Das Errichten digitaler Anlagen muss weiterhin für jeden Standort zuerst von der Stadt überprüft und genehmigt werden, doch die Anzahl der digitalen Werbebildschirme hat sich in den vergangenen Jahren merklich erhöht.
Laut Geoportal der Stadt Hamburg gibt es allein auf öffentlichem Grund inzwischen über 500 digitale Werbeanlagen, dazu kommen die zahlreichen neuen Bildschirme unter anderem in Unterführungen und an Bahnsteigen, die als Privatgelände zählen. Im Gegensatz zu Werbebannern im Internet kann man blinkende Außenwerbung nicht einfach blockieren. Ist es das, was digitales Out-Of-Home-Advertising so lukrativ macht?
Seit 60 Jahren ein internationales Erfolgsmodell: die werbefinanzierte Bushaltestelle. Bild: Claus-Joachim Dickow, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Lokaldatenkraken
Die Außenwerbebranche befindet sich inmitten einer Transformation. Plakate aus Papier sind zwar in der Masse billig herzustellen, aber sie sind auch statisch. Wenn das Plakat getauscht werden soll, muss das manuell geschehen. Spontanes Durchwechseln oder Zuschalten von Werbung sind ebenso undenkbar wie ein Bezug der Werbung auf das aktuelle Wetter.
Plakate durch Bildschirme zu ersetzen, hat für Werbetreibende – also die Firmen, deren Werbung letztlich auf dem Träger zu sehen ist – fast nur Vorteile. Die Kostenschwelle ist niedriger, es müssen nicht Hunderte Plakate produziert werden, bis der Druck sich rechnet. Außerdem kann die Werbung, so das Versprechen, genau zur richtigen Zeit an genau den Orten geschaltet werden, wo die erwünschte Zielgruppe sich aufhält. Das alles passiert vollautomatisch.
Die Ströer nennt digitales Out-Of-Home-Advertising ihr profitabelstes Produkt, das zudem noch die größte Wachstumsrate verzeichne. Auf seiner Webseite wirbt der Konzern mit den Möglichkeiten: Werbung soll sich abhängig von Wetterereignissen wie Regen oder Pollenflug ausspielen und auf bestimmte Uhrzeiten beschränken lassen, auch Besuchende von Veranstaltungen sollen gezielt angesprochen werden können.
In ihrem Halbjahresfinanzbericht 2024 schreibt Ströer, dass immer mehr Kunden die Möglichkeit der programmatischen Ausspielung von Werbung auf ihren digitalen Werbeträgern nutzen. Über dasselbe System wie beim Schalten von Online-Werbung kann Werbung auf digitalen Werbeflächen im Außenbereich, in Verkehrsmitteln oder in Geschäften bestimmte Zielgruppen anvisieren. Als Beispiele werden genannt: »Best Ager, Haushaltsführend, High Income, Singles, Familie mit Kleinkind, LOHAS [Anm..: Lifestyle Of Health And Sustainability], Modeinteressiert, Mieter, Sport & Fitness«. Auch JCDecaux bietet diese Form von Targeting an.
Sinn macht das alles, weil die bisherigen Träger für zielgruppenorientierte Werbung – Zeitschriften, Fernsehen und Radio – zunehmend an Bedeutung und Reichweite verlieren. Vieles hat sich ins Internet verlagert, auch die Werbung. Durch digitales Out-Of-Home-Advertising wird die Ästhetik der Werbebanner, die auf vielen Internetseiten und in vielen Apps zu sehen sind, dann zurück in die Offline-Welt gebracht. Die Ähnlichkeit ist aber längst nicht nur eine optische. Es werden dafür auch nach demselben System Verhaltens- und Bewegungsdaten verwendet, um genau zu bestimmen, wann und wo welche Marktsegmente – so die versachlichende Branchenbezeichnung für kategorisierte Menschengruppen – erreicht werden können.
Das System kennt den Kontext – Welche Geschäfte sind in der Nähe? Wie spät ist es? Wie ist das Wetter? – und es verwertet Daten darüber, wie das Publikum an jedem Standort zu jedem Zeitpunkt zusammengesetzt ist: Alter, Interessen, Einkommen, Familienstatus, unzählige weitere Kriterien.
Das kann man für einen Vorteil oder für einen Nachteil halten. Manche sehen darin ein Risiko für Manipulation, während andere dankbar sind, Werbung zu sehen, die sie auch interessiert. Wertungsfrei lässt sich aber eines sagen: Dieser gezielten Werbung zu entgehen, ist praktisch unmöglich. Wer sich durch den öffentlichen Raum bewegt, öffentliche Verkehrsmittel benutzt oder Geschäfte betritt, die solche programmatische Werbung schalten, ist dem Targeting automatisch ausgesetzt.
Bewegungsdaten sind das Geschäftsmodell
Die Vermarkter von Werbeflächen machen ihr bestes Geld, wenn sie die Werbung ihrer Auftraggeber richtig platzieren. Denn die werbetreibenden Firmen beobachten die Wirkung ihrer Kampagnen und schalten nur dann weitere Werbung, wenn diese erfolgreich sind. Deshalb versuchen die Vermarkter möglichst genau herauszufinden, an welchen Stellen sie zu welcher Zeit welche Zielgruppe erreichen können.
Ende 2012 verkündete die Ströer ihren Einstieg ins Online-Werbegeschäft. Seitdem hat der Konzern etliche Unternehmen aufgekauft oder selbst neu gegründet, die sich auf digitale Werbetechnologien spezialisieren. Dazu gehört etwa der Handel mit und die Analyse von personenbezogenen Daten zu Werbezwecken oder auch das Vermitteln von Online-Werbeplätzen auf Internetseiten über ein spezialisiertes Marktplatz-System (für die Fachleute: SSP/DSP).
Teil der Ströer-Gruppe sind beispielsweise die Firmen MBR Targeting, Yieldlove oder OS Data Solutions. OS Data Solutions wurde gegründet als Datenallianz zwischen der Ströer und der Otto Group Media, allerdings hat Otto das Unternehmen 2022 an die Ströer abgegeben.
Durch ihre zahlreichen Tochterunternehmen hat die Ströer-Gruppe ein stabiles Standbein in der Online-Werbebranche. Auch mehrere deutsche Medienplattformen haben Verträge mit der Ströer zur Werbeflächen- oder Datenvermarktung abgeschlossen, darunter etwa die Apotheken-Umschau, Duden.de oder die Taz. Das ist nicht ungewöhnlich, ist doch fast jede größere Internetseite zumindest zum Teil durch programmatische Werbung finanziert.
Wenn eine Person eine Internetseite oder eine App aufruft, auf der programmatische Werbung geschaltet wird, wird der Anzeigenplatz anhand der Daten, die über diese Person bekannt sind, innerhalb von Millisekunden an den höchstbietenden Werbekunden verkauft. Das nennt sich Real-Time-Bidding, also Echtzeitauktion. Global betrachtet ist Ströer im Vergleich zu Datenkraken wie Google, Facebook oder Amazon in dieser Branche ein Winzling. Was den Konzern jedoch hervorhebt, ist seine Allgegenwärtigkeit in deutschen Städten.
Partnerschaften mit Firmen, die Webseiten oder Apps betreiben, haben für den Ströer-Konzern noch einen zweiten Vorteil. Hierdurch kann der Vermarkter nämlich nicht nur Einnahmen durch das Vermitteln von Online-Werbeflächen generieren, sondern auch wertvolle Daten gewinnen. Denn Online-Werbung dient nicht nur dazu, uns möglichst viele bunte Werbebanner anzuzeigen, sondern auch dazu, Informationen über die Personen zu sammeln, denen die Werbung angezeigt wird: über ihren Standort in der echten Welt und über ihre Bewegungen im Internet, welche Inhalte sie sich anschauen, welche Suchbegriffe sie eingeben. All das gerne gebündelt mit der eindeutigen Werbe-ID, die auf Android-Handys und Iphones automatisch vergeben wird und jedes Gerät wiedererkennbar macht.
Der Ströer-Konzern zielt offenbar darauf ab, alles aus einer Hand zu bieten. Auf unzähligen Online-Plattformen vermarktet der Konzern Werbeflächen, darunter mehrere Plattformen, die dem Konzern selbst gehören. Dazu kommt der Echtzeit-Marktplatz für diese Werbeflächen sowie die auf Datenverarbeitung und Datenhandel spezialisierten Ströer-Firmen. Außerdem kaufte Ströer im Jahr 2016 den Kosmetikhersteller Asambeauty, seit 2015 gehört ihr die Hamburger Statistik-Plattform Statista.
Die Ströer-Werbeträger in der Stadt, an Bushaltestellen, in Bahnhöfen, in Bus und Bahn können für diese anderen Ströer-Unternehmen dann wieder Werbung machen – genau zur richtigen Zeit an genau den richtigen Orten. Das steigert einerseits natürlich die Bekanntheit der beworbenen Produkte, liefert aber gleichzeitig vermutlich auch viele nützliche Daten über die Wirksamkeit von Werbekampagnen.
Kurioserweise wirbt die Ströer in der letzten Zeit auf ihren Werbebildschirmen auch für den hauseigenen Grusel-Podcast »Schauerstoff«. Durch Anteile an der Firma Ad.Audio besitzt der Konzern auch in der Welt von Podcasts und Radio ein Standbein.
Die Werbebildschirme kommen offensichtlich nicht bei allen gut an.
T-Online, Watson.de und Facebook-Seiten
Anders als die Ströer konzentriert JCDecaux sich auf das Kerngeschäft: Out-Of-Home-Advertising. JCDecaux macht Flughafenwerbung, Werbung in Verkehrsmitteln, allgemeine Außenwerbung etwa mit Plakatwänden, Litfaßsäulen und Bushaltestellen. Weltweit betreibt der Konzern dieses Geschäft in mehreren tausend Städten.
Mancherorts betreibt JCDecaux einen Fahrradverleih. Auch das fällt unter »Stadtmöblierung«; das Leihfahrradangebot wird gerne mit Werberechtsverträgen gekoppelt. Außerdem bietet JCDecaux wie auch Ströer eine Plattform an, um Out-Of-Home-Advertising in Echtzeit und segmentbezogen zu buchen.
Der Ströer-Konzern hingegen ist inzwischen selbst zum Plattformbetreiber geworden. Im Jahr 2015 übernahm Ströer die Webseite T-Online und baute seitdem die Redaktion der Plattform deutlich aus. Bei der Firma, die in der Schweiz das Nachrichtenportal Watson betreibt, sicherte Ströer sich 2018 das vertragliche Recht, die Seite Watson.de aufbauen zu dürfen, die unabhängig von der Schweizer Redaktion arbeitet.
Ebenfalls von Ströer betrieben werden etwa Familie.de, Desired, Giga, Kino.de und Spielaffe. Viele dieser und weitere Plattformen werden mit Facebook-Seiten und anderen sozialen Medien verknüpft, auf denen vorrangig flache Memes und Links zu Beiträgen auf anderen Ströer-Plattformen gepostet werden. Zu Ströer gehören beispielsweise Seiten wie »Die Männer Seite«, »Die Frauen Seite«, »Chat von gestern Nacht«, »Unnützes Wissen«, »Stylevamp«, »Helden unserer Kindheit«, »Meine Orte« («Die schönsten Orte unserer Erde«), »Tierfans«, »Fußballfieber«, »Autoguru«, »Soundground« oder »Fun and News«, die häufig auch eine eigenständige Webseite haben. Der Betrieb der verschiedenen Social-Media-Seiten zu Werbezwecken durch die Ströer wurde in der Vergangenheit schon gelegentlich thematisiert, etwa als Buzzfeed im Jahr 2018 etliche Facebook-Seiten identifizierte, die Links zu Werbekunden posteten.
Mittlerweile dienen diese Seiten dem Anschein nach hauptsächlich dem Aufbau von Tracking-Profilen. Die von den sozialen Medien aus verlinkten Webseiten bieten die Wahl zwischen kostenfreier Nutzung mit Tracking und kostenpflichtiger Nutzung ohne Tracking. Dass nur die Allerwenigsten gleich ein Abo abschließen werden, um einen Artikel auf einer Seite zu lesen, von der sie noch nie gehört haben, ist wohl keine weit hergeholte Vermutung. Wenn dem Tracking zugestimmt wird, kann erfasst werden, von wo die Besuchenden auf die Seite gekommen sind. Daraus lassen sich Rückschlüsse über Identität und Interessen der Nutzenden ziehen und umfassende Profile erstellen.
Neben den schon genannten Plattformen betreibt Ströer mit StayFriends auch ein soziales Netzwerk für Klassentreffen und mit Lebensfreunde eine Partnerböse für Personen über 50. Alle dieser Dienste führen zwischen größeren Werbenetzwerken auch Ströer-Firmen als Werbepartner auf. Auch jede externe Seite, die das Ströer-System nutzt, um programmatische Werbung schalten zu lassen, gibt notwendigerweise Daten der Besuchenden an den Konzern weiter.
Diese Datensammelwut lässt sich einordnen als zielgerichtetes Bestreben, eine von den übermächtigen globalen Giganten der Werbetechnologie unabhängige, eigene Targeting-Datenbank zu bespeisen. Mit den Folgen des Werbetrackings beschäftigt sich auch die Berichterstattung zu den sogenannten »Databroker Files«. Unter diesem Schlagwort setzen Journalist*innen sich damit auseinander, wie sehr insbesondere auf Handys erfasste Standortdaten Einzelpersonen identifizierbar und angreifbar machen.
Die meisten Ströer-Plattformen, die im Rahmen dieses Berichts überprüft wurden, erfassen über die Verbindungsdaten den ungefähren Standort, angeblich auf den Postleitzahlbereich genau, und außerdem die Werbe-ID des Mobilgeräts. Beides wird laut Datenschutzvereinbarung an Werbepartner weitergegeben. Die T-Online-App fragt zusätzlich auch Zugriff auf den genauen Standort an, wenn die Wettervorhersage benutzt werden soll. Dass Wetter-Apps oft benutzt werden, um genau diese Standortdaten von Nutzenden zu erhalten und sie für Tracking zu benutzen, ist ein alter Hut.
Auf Nachfrage des Radio FSK, ob diese online durch die Plattformnutzung erhobenen Daten auch für die Optimierung von Out-Of-Home-Advertising verwendet werden, hat die Ströer bis zur Veröffentlichung nicht geantwortet.
Das nennt man dann wohl »Synergie«
Digitale Werbebildschirme werden gern auch »Infoscreen« oder »Stadtinformationsanlage« genannt, da dort neben Werbung auch nützliche Hinweise wie Wettervorhersagen, Nachrichten oder Katastrophenwarnungen angezeigt werden können.
Diese Vermischung von Werbung und Information ist allerdings nicht ohne Kritik. »Für Betrachter:innen ist nicht unbedingt erkennbar, ob es sich bei den Inhalten um amtliche Mitteilungen, privatwirtschaftliche Werbung oder Kampagnen der Betreiberfirmen handelt«, steht im Text einer kleinen Anfrage der Linken-Abgeordneten Heike Sudmann an den Hamburger Senat aus dem Jahr 2022.
Mit näherer Betrachtung der angezeigten Inhalte lässt sich dieser Eindruck schnell bestätigen. Nicht immer ist klar, ob es sich bei einer Anzeige um eine Information oder um eine Werbung handelt, durch eingeblendete Logos erhalten auch die Informationen einen Werbecharakter. Auf die keine Anfrage antwortete der Hamburger Senat, dass die zur Ströer gehörende Deutsche Städte Medien auf ihren »Infoscreens« im öffentlichen Raum zu ca. 50 Prozent kommerzielle Inhalte anzeige. Eine Nachfrage des Radio FSK, wie dieser Wert zustande kommt, hat die Firma nicht beantwortet.
Fraglich ist er, weil viele der Inhalte, die von Betrachtenden als informativ interpretiert werden, von Ströer-eigenen Anbietern stammen, deren Logos stets gut sichtbar darauf platziert werden. Zwischen der gebuchten Werbung von Drittanbietern erscheinen immer wieder Schlagzeilen von T-Online, Quiz und Statistiken mit Statista-Logo, Nachrichten von Watson.de, Wettervorhersagen »powered by t-online« oder Inhalte anderer Ströer-Plattformen wie Kino.de, Giga oder Familie.de. Die genaue Mischung variiert je nach dem, wo der Screen betrieben wird. In der S-Bahn gibt es mehr Informationen von der Deutschen Bahn und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk als von Ströer-Plattformen, während im Außenbereich die hauseigenen Plattformen oft die einzigen »informativen« Sequenzen beisteuern. Denkbar, dass Ströer hierbei auf »image- und absatzfördernde Effekte von Branded Content« abzielt.
Das »Hanseatic Trade Center« in Hamburg, Sitz mehrerer Ströer-Firmen.
Wem gehören unsere kollektiven Daten?
Zusätzlich zu physikalischen Werbeträgern, diversen Online-Plattformen und einem Echtzeit-Marktplatz-System für Online-Werbung betreibt die Ströer-Gruppe Callcenter, Agenturen, Vertriebs- und IT-Dienstleister, bespielt Seiten in den sozialen Medien mit Inhalten, gibt selbst redaktionelle und Unterhaltungsmedien heraus, stellt Kosmetikprodukte her und bietet Statistiken und Zahlen in Form von »Data As A Service« an.
Rentabel sind die Geschäftszweige alle. Im Geschäftsbericht für das Jahr 2023 gibt die Ströer für das Segment »Out-Of-Home Media« einen Verdienst (EBITDA) von knapp 400 Mio. Euro an. Mit dem Online-Werbegeschäft und der programmatischen Vermarktung wurden zusammen über 150 Mio. Euro erwirtschaftet. Statista und Asambeauty bildeten mit rund 50 Mio. Euro EBITDA den kleinsten Geschäftszweig des Konzerns.
Aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Segmente ergibt sich ein selbstverstärkendes Gesamtkonzept. Die Ströer macht Werbung für die eigenen Plattformen, verkauft auf diesen Plattformen Werbeflächen und »Native Advertising«, also Werbung, die sich nahtlos in die Seite einfügt; durch die Plattformen sammelt sie dann Nutzungs- und Trackingdaten, die vermutlich wiederum für das gezielte Ausspielen der Werbung benutzt werden.
In einer Intro-Präsentation zu OS Data Solutions findet sich die Angabe, die Ströer-Gruppe erreiche mit ihren Daten aus erster Hand über 50 Millionen Individuen. Doch die Ströer verwendet nicht nur die eigenen Daten. OS Data Solutions wirbt mit einer Partnerschaft mit Xing, durch dessen Daten eine »höchste Targetingqualität« möglich sei, sowie mit »Intent-Daten aus dem Bereich Automotive« von Mobile.de. In der Präsentation zum 3. Quartalsbericht 2024 erwähnt Ströer eine Partnerschaft mit dem Mobilfunknetzbetreiber Telefónica, von dem sie Bewegungsdaten erhält. Diese Partnerschaft wurde durch eine Datenschutzanfrage bei Telefónica bestätigt. Eine vergleichbare Datenpartnerschaft mit der Telekom erwähnte Ströer 2023 in einer Pressemitteilung zu Targeting. Ob ein solches Abkommen auch mit Vodafone besteht, ist unbekannt. Alle großen Mobilfunkanbieter in Deutschland sammeln Bewegungsdaten und geben sie ohne Einwilligung der Kund*innen weiter. Auf die Zustimmung wird verzichtet, da es sich laut Angabe der Anbieter um vollständig anonymisierte Daten handele. Bei Telefónica und Telekom kann dennoch Widerspruch eingelegt werden.
Eigentlich ist es dank europäischer Datenschutzgesetze verboten, voneinander unabhängige Datensätze mit personenbezogenen Daten ohne informierte Einwilligung der Betroffenen miteinander zu vermischen. Doch die Werbebranche kennt hier einen Trick.
OS Data Solutions bietet auch sogenannte Data Clean Rooms (DCR) an, also Datenreinräume. Das bezeichnet einen Prozess, der mit dem labortechnischen Konzept eines Reinraums nichts zu tun hat. In einem DCR vermischen Parteien, die ihre erhobenen Daten eigentlich nicht miteinander teilen dürfen, ihre Datensätze. Das System zieht aus diesen Daten dann Schlussfolgerungen über Marktsegmente statt über Einzelpersonen.
Die Prozedur wird als datenschutzrechtskonform beworben, da es nicht möglich sein soll, die ursprünglich eingegebenen Daten wieder herauszuholen. Die Parteien können die Individualdaten der jeweils anderen Parteien demnach nicht einsehen, sondern nur auf die aggregierten, zusammengefassten Resultate zugreifen, die keine Rückschlüsse mehr auf einzelne Personen zulassen sollen.
Ein ausgedachtes Beispiel zur Veranschaulichung: Wenn eine der Parteien weiß, dass Klaus, Gabi, Holger und Annette die Werbe-IDs 101, 102, 103 und 104 besitzen und jeden Tag zwischen 17 und 18 Uhr von der Innenstadt zum Hauptbahnhof laufen, und die andere Partei weiß, dass vier Personen mit den Werbe-IDs 101, 102, 103 und 104 in letzter Zeit Babykleidung und Schwangerschaftsprodukte geshoppt haben, dann wird daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass werdende Eltern besonders häufig zwischen 17 und 18 Uhr von der Innenstadt zum Hauptbahnhof laufen. Über Klaus, Gabi, Holger und Annette als Individuen soll das System keine Angaben machen können.
»Wir vereinen die Daten von Deutschlands größtem Digital Vermarkter Ströer, führendem Job-Netzwerk XING, größtem Online Fahrzeugmarkt mobile.de sowie dem exklusiven PAYBACK Panel«, schreibt OS Data Solutions auf ihrer Webseite. »Auf Basis von über 50 Millionen Profildaten werden mit den Zielgruppen mehr als 80% von insgesamt 61 Millionen aktiven Usern im deutschen Markt erreicht.«
Anonymisierte Daten über ganze Gruppen unterliegen keinen Datenschutzgesetzen. Es gibt auch zunehmend weniger Möglichkeiten, sich der Erfassung von Daten zu entziehen. Wenn bereits die Mobilfunkanbieter Bewegungsdaten erfassen und zu Werbezwecken weitergeben – »datenschutzrechtskonform« – und wir durch den zunehmenden Digitalzwang nicht einmal mehr auf das Schnüffelgerät in der Hosentasche verzichten können, wird es immer schwieriger, sich gegen die Durchleuchtung zu wehren. Schon jetzt sind die Einschränkungen eines Lebens ohne Google- oder Apple-Account enorm, doch die sogenannte »Wahl mit dem Geldbeutel« erweist sich vollends als nichtexistent, wenn man sogar ohne Zustimmung zum Produkt gemacht wird.
Wie gläsern Individuen durch Werbetracking werden, ist wohl den Wenigsten wirklich klar, wenn sie genervt auf »Akzeptieren & weiter« klicken. Anzweifeln lässt sich auch, ob diese Einwilligung, wie nach Datenschutzgesetzen erforderlich, wirklich informiert ist, wenn auch nach vollständiger Lektüre der Datenschutzvereinbarung und Durchsicht aller angegebener »Partner« nicht nachvollziehbar ist, welche Rückschlüsse aus den Daten gezogen werden und an welchen Stellen die Erkenntnisse wofür verwendet werden.
Aber sogar dann, wenn man davon ausgeht, dass eine perfekte Anonymisierung erreichbar ist und angewendet wird, stellt sich immer noch die Frage, was wir davon halten, dass unsere gesamte Gesellschaft zunehmend überwacht, durchleuchtet und im Ganzen analysiert wird – zumal all das dem alleinigen Zweck dient, unsere Konsumentscheidungen so effektiv wie möglich beeinflussen zu können. Datenschutzgesetze erfassen lediglich das Recht von Individuen an ihren eigenen Daten. Wem aber gehört das Recht an unseren kollektiven Daten?
Technisch gesehen Vandalismus, aber vielleicht trotzdem als künstlerischer Ausdruck zu verstehen. Foto nicht von mir, verwendet mit Genehmigung, alle Rechte vorbehalten.
Branchentypisch und legal
Im Vergleich mit der restlichen Branche ist das, was der Ströer-Konzern macht, nichts Besonderes. Er kauft oder gründet Firmen, die sich gegenseitig bei ihren Geschäften unterstützen. Werbung wird gezeigt, wenn sie dem Kodex des Werberats entspricht und der Auftraggeber dafür bezahlt – ob das nun eine Supermarktkette ist mit Werbung für die Supermarktketten-App oder ein dubioser Gönner mit einer Großkampagne für die AfD.
Was an Datenerfassung und Datenhandel rechtlich möglich ist, wird vollständig ausgereizt. Doch obwohl der Konzern selbst angibt, über Daten von einem Großteil der deutschen Bevölkerung zu verfügen, backt die Ströer besonders im globalen Vergleich zu Google, Facebook oder Amazon immer noch sehr kleine Brötchen.
Was fehlt, ist die Wahlfreiheit. Einerseits werden Werbung und Information auf intransparente Art und Weise vermischt, indem Nachrichten und andere Inhalte von konzerneigenen Plattformen prominent angezeigt werden. Andererseits werden wohl die wenigsten Menschen damit rechnen, dass ihre online erhobenen Daten genutzt werden, um sie im physikalischen Raum, außerhalb ihrer eigenen Geräte, gezielt anzusprechen.
2023 gab Ströer in einer Pressemitteilung bekannt, dass sie mit ihrem Out-Of-Home-Advertising 81% der deutschen Bevölkerung erreiche. Die Ströer schreibt selbst: »OOH is the only Media that is unavoidable«. Und das stimmt, denn die Werbung verfolgt uns im Bus, im Bahnhof, auf der Straße und im Kiosk, und sie weiß, wann und an welchem Ort es am wahrscheinlichsten ist, Menschen wie uns anzutreffen. Dann wird sie uns genau das richtige Angebot machen – zehn Sekunden lang. Das ist nicht lang genug, um das Kleingedruckte zu lesen (auch nicht, um es zum Späterlesen zu fotografieren), sondern gerade lang genug, um durch beiläufige Aufmerksamkeit eine Markenassoziation zu bilden.
Die Firmen, die diese Werbeplattformen betreiben, haben Kontrolle über einen spürbaren Teil unseres Alltags, ohne dass wir es bemerken und ohne dass wir es verhindern können. Es bleibt die Frage, ob wir als ungefragtes Publikum damit einverstanden sind.
Auch die Städte stehen in der Pflicht, ihre Bürger*innen darüber zu informieren, welche Technologien im öffentlichen Raum eingesetzt werden. Politik muss im Interesse der Bevölkerung handeln, doch dafür muss die Bevölkerung zuerst die Möglichkeit bekommen, sich eine Meinung zu bilden. Durch den zunehmenden und mittlerweile umfassenden Einsatz von Targeted Advertising hat sich das Konzept von Außenwerbung fundamental verändert. Ein informierter, faktenbasierter Diskurs in Gesellschaft und Politik über die neuen Bedingungen ist überfällig.
Themen: qualitätstext, digital, infodump, datenschutz