Ich wollte die Re:Fuse besuchen und das Maskenthema hat mir den Tag versaut
»Solidarität ist unsere Waffe,« heißt es auf der Internetseite für die Re:Fuse-Konferenz, die dieses Wochenende in Hamburg stattgefunden hat, »so bitten wir euch, im Rahmen eurer Möglichkeiten, euch an unser Infektionsschutzkonzept zu halten«. Man soll nicht krank zur Veranstaltung kommen, soll am Eingang einen Schnelltest machen. »Tragt eine Maske«, steht dort auch. »Für Menschen mit einem schwachen Immunsystem oder anderen Risiken machen Masken unseren Kongress sicherer und zugänglicher.«
Nach der Lektüre dieses Konzepts bin ich optimistisch, auch wenn ich es im fünften Pandemiejahr eigentlich besser wissen sollte. Am dritten Konferenztag gehe ich hin, in Begleitung einer anderen infektionsunwilligen Person. Wir haben beide ein hohes Risiko für Langzeitfolgen und ich persönlich möchte nicht zurück ins Bettleben, also vermeide ich jede Infektion, egal mit was.
Am Einlass an der Roten Flora trägt niemand eine Maske, auch nicht die Person, die uns die Regeln der Konferenz erläutert. Aus dem »Tragt eine Maske«, Punkt, wird hier ein Hinweis, dass Masken getragen werden sollen, »wenn es eng und voll wird« und »wenn es möglich ist«. Kein Wort mehr über Solidarität und Menschen mit Risiko. Die Person auf dem Posten wirkt verlegen über dieses bis zum Verschwinden ausgedünnte Konzept. Klarere Worte findet sie zum Datenschutz: Audio- und Videoaufnahmen sind verboten, Punkt. Nicht nur, wenn es eng und voll ist und nicht nur, wenn es uns möglich ist. Offenbar können die Veranstaltenden also doch klare Regeln setzen.
Wir gehen trotzdem rein, lassen an der Info-Theke eine Spende da, bekommen Stempel und Karte und gehen uns umschauen. Am Ende des Flurs liegt ein Saal voller Menschen, dicht gedrängt in engen Sitzreihen, rappelvoll. Durch die Tür sehe ich zwei Personen mit Maske, der Rest sitzt ohne dort. Ob ein Fenster offen ist, kann ich nicht erkennen, aber so stickig, wie die Luft ist, können es nicht genug sein. Im Obergeschoss ist ein zweiter Saal. Der sieht genauso aus.
Es ist erst kurz nach drei. Um achtzehn Uhr findet eine Vernetzungsveranstaltung für Ableismusbetroffene statt, an der wir teilnehmen wollen. Die Stunden vorher wollte ich nutzen, um neue Leute kennenzulernen und etwas über Themen zu lernen, die ich weniger gut kenne. Eine Konferenz eben, mit allen Freiheiten und Möglichkeiten, die Nichtbehinderte auch gerne nutzen!
Ernüchtert stolpern wir zurück zur Info-Theke. Jetzt fällt mir auch auf, dass auf einem Tisch im Eingangsbereich zwei Packungen Masken stehen, als hätte man sie abgestellt und dann vergessen. Was wohl passiert wäre, hätte man allen Ankommenden direkt diese Packungen unter die Nase gehalten und nochmal was über Solidarität gesagt?
Wir fragen, wo die Ableismus-Veranstaltung stattfindet: An der Uni. Ein Hoffnungsschimmer? Vielleicht sind die Räumlichkeiten dort weniger risikoreich. Aber schon, als wir vor dem Café Knallhart ankommen, sehen wir, dass unsere Anwesenheit auch hier nicht vorgesehen ist.
Natürlich, unsere Masken schützen uns. Aber keine Maske ist hundertprozentig dicht, besonders nicht dann, wenn man spricht oder sich bewegt. Je stickiger die Luft, je mehr Leute sie schon ein- und ausgeatmet haben, desto stärker reichern sich Infektionserreger darin an. Geringer ist die Belastung, wenn auf saubere Luft geachtet wird: Ideal ist ein großzügiger Luftaustausch, damit die Luft so frisch ist wie im Freien. In den meisten Innenräumen ist das nicht möglich. Dann müssen Infektionserreger aus der Atemluft entfernt werden. Das geht entweder mit einem Luftreiniger in entsprechender Dimensionierung oder durch kollektives Masketragen, um die Viren schon an der Quelle abzufangen. Wenn die Luft sauber ist, kann die eigene Maske auch mal ein bisschen verrutschen oder undicht sein, ohne dass man sich sofort ansteckt. Ein stickiger Raum voller verbrauchter, ungefilterter Luft hingegen, das ist auch mit Maske gefährlich.
Deshalb betreten wir das Café Knallhart ebenfalls nur kurz. Hier sitzen die Menschen nicht ganz so eng gedrängelt, es ist eben ein Café, aber wir gehen gar nicht erst zum Veranstaltungsraum, denn bis auf ein oder zwei Personen trägt auch hier niemand eine Maske. Enttäuscht flüchten wir wieder nach draußen. Ich bin so frustriert und sauer, dass ich eigentlich schon wieder heimfahren will. Meine Begleitung ärgert sich und schlägt vor, zumindest mal zu fragen, ob man die Maskenpflicht irgendwie einfordern kann.
Wir sprechen zwei Leute von der Orga an, die sich offen und hilfsbereit zeigen. Sie hören uns zu, halten Rücksprache und melden uns zurück, dass es möglich ist, die Veranstaltung später mit Maskenpflicht durchzuführen. Sie wollen noch ein paar Masken besorgen gehen. Wir bedanken uns und setzen uns zum Warten draußen auf eine Bank. Es ist 16:30 Uhr und zehn Grad kühl. Waren bei unserer Ankunft noch ein paar andere Leute draußen, ziehen diese sich bald wieder ins warme Innere zurück. Schnell sitzen wir allein vor dem Café. Die Sonne geht unter, die Temperatur fällt. So wird das wohl nichts mit dem Leute Treffen und Dazulernen.
Nach einer halben Stunde kommt eine der Orga-Personen nochmal raus, um uns ein Getränk anzubieten. Wir bekommen Kaffee, der die Finger zumindest für ein paar Minuten wieder auftaut. Meine Begleitung hat das Strickzeug ausgepackt und ich meinen Laptop, um diesen Text anzufangen. Das ist der Stand von Solidarität und Inklusion im Jahr 2024: Enttäuschung, Kälte, Einsamkeit und ein Trostkaffee.
Beim Vernetzungstreffen für Ableismusbetroffene funktioniert es mit der Maskenpflicht. Alle Anwesenden tragen eine. Wir haben einige gute Gespräche, es ist eine produktive und konstruktive Veranstaltung. Am Ende unterhalte ich mich mit einer Person, die bei der Orga dafür gekämpft hat, dass das Thema Infektionsschutz überhaupt auf dem Schirm ist. Man merkt der Person an, wie viel Energie sie da reingesteckt hat und wie erschöpft sie ist. Einen merklichen Unterschied hat der erhebliche persönliche Einsatz für uns als Besuchende nicht gemacht.
Auch in vermeintlich progressiven Kontexten wiederholt sich so das alte Lied: Behinderte kämpfen für Barriereabbau, aber es bleibt ein Kampf gegen Windmühlen. Kaum jemand ist gewillt, auch nur die kleinste Unannehmlichkeit hinzunehmen, um ihnen den Zugang zu ermöglichen.
Ja, ich verstehe, dass ihr keinen Bock mehr auf die Masken habt. Wisst ihr, wer nach fünf Jahren ebenfalls wirklich, absolut, überhaupt keinen Bock mehr auf die scheiß Teile hat? Die Leute, die ohne Maske nichtmal den Müll rausbringen können. Die Leute, die sauteure, hochwertige Masken kaufen und sie trotz Stauballergie und juckenden Augen bis zum Gehtnichtmehr wiederverwenden, weil im Grundsicherungssatz exakt null Euro für Infektionsschutz vorgesehen sind.
Denn nicht nur die Unbequemlichkeit wird vollumfänglich auf Behinderte abgewälzt, sondern auch die Kosten: Teure Masken, die uns auch in Hochrisikosituationen noch schützen. Nasenspray für fünfzehn Euro pro Fläschchen. Luftreiniger in der Wohnung, weil die Tür zum Treppenhaus zwangsweise manchmal geöffnet werden muss, Ersatzfilter jedes halbe Jahr. Ein PlusLife-Testgerät, um eine zuverlässige Testmöglichkeit für unseren Besuch zu haben – das Gerät kostet ohne Rabattcode übrigens deftige 255 € und ein einzelner Test auch mit Rabattcode noch sechs Euro. Ein sinnvoller tragbarer CO₂-Sensor kostet ebenfalls über zweihundert Euro. Ich lebe unterhalb des Existenzminimums. Meine Schuhe sind von Kleinanzeigen und mein Laptop von der Computertruhe.
Auch ich fände es schön, in einem Raum voller Menschen sicher genug zu sein, um die Maske kurz abnehmen zu können, wenn das Asthma mal wieder kickt. Oder wenn ich einen Schluck Wasser brauche. Immerhin: Ich bin privilegiert in der Hinsicht, dass ich durchgängig Maske tragen kann. Das Asthma ist nicht schlimm genug, dass ich damit rechnen muss, mir plötzlich und dringend die Maske runterreißen zu müssen, um ein Spray zu inhalieren. Ich trage auch keine Sauerstoff- oder Ernährungsschläuche, die einen dichten Sitz der Maske unmöglich machen. Ich kriege keine Panikattacken, wenn ich eine Maske aufhabe. Menschen mit solchen Schwierigkeiten müssen sich entscheiden: Entweder sie geben ihr Leben vollständig auf oder sie setzen es täglich aufs Spiel.
Ich kann verstehen, warum sich viele dafür entscheiden, drauf zu scheißen. Irgendwie muss man ja trotzdem leben, auch wenn man dabei stirbt. Aber wäre es nicht besser, wenn es eine dritte Option gäbe? Wenn auch Menschen mit hohem Risiko irgendwo, und ich meine irgendwo, in dieser Gesellschaft akzeptiert und geschützt wären?
Es gibt keine Eigenverantwortung. Infektionsschutz ist Gesellschaftssache. Es müssen auch nicht immer Masken sein: Frischluft ist vollkommen kostenlos und wo sie baulich nicht so gut verfügbar ist, lässt sich mit Luftreinigern Abhilfe schaffen. CO₂-Sensoren helfen dabei, die Situation korrekt zu bewerten. Und wenn Menschen sich angewöhnen würden, zumindest dann eine Maske zu tragen, wenn sie krank sind oder sich in einem stickigen Innenraum befinden, würden die Infektionszahlen wohl schnell auf ein erträgliches Level fallen.
Stattdessen müssen behinderte Menschen sich zwischen Isolation und Lebensgefahr entscheiden. Viele wählen die Lebensgefahr. Letzte Woche sind 186 Menschen an Corona gestorben. Was glaubt ihr, wer diese Menschen waren? Ihr wollt ungehindert frei atmen können? Ich auch, verdammte Scheiße nochmal!
In einem Verein, wo ich Mitglied bin, funktioniert es mit dem Infektionsschutz. Es gibt in den Vereinsräumen keine allgemeine Maskenpflicht, sondern eine Regel, dass Maskenpflicht gilt, sobald eine einzige Person sie ausspricht – eine Regel, die ich anfangs als ›Bettellösung‹ kritisierte, inzwischen aber liebgewonnen habe. Das liegt vor allem daran, dass niemand mehr diskutiert, wenn die Maskenpflicht ausgerufen wird. Es passiert regelmäßig, es ist normal. Masken stehen immer zur Verfügung. Vor ein paar Wochen hatten wir Mitgliederversammlung, der ganze Raum war vollgestopft mit Menschen. Alle drei Luftreiniger liefen auf mittlerer Stufe, die Fenster waren offen, bis auf zwei Personen trugen alle eine Maske und die Risikogruppe konnte ohne Bedenken teilnehmen.
Das funktioniert alles so gut, weil wir feste Verhaltensregeln haben. Wann und wie wird Maskenpflicht ausgesprochen, wie wird darauf reagiert, und wie machen wir das mit dem Essen und Trinken? Technische Lösungen unterstützen: Die Luftreiniger, die CO₂-Sensoren.
Der Kampf für öffentliche Gesundheit ist nicht so hoffnungslos, wie es uns manchmal erscheint. Wenn die Strukturen geschaffen werden, um schwächere Mitglieder der Gesellschaft zu schützen, ist gleichberechtigte Teilhabe immer noch möglich, trotz grassierender Infektionskrankheiten. Es geht aber nur, wenn die Personen mit Risiko nicht ganz allein für ihr Existenzrecht einstehen müssen.