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Mir gehts zu gut

01. October. 2024

Derzeit erlebe ich ein Problem, das eigentlich nur ironisch im Scherz beschrieben wird. Ich meine es aber ernst, wenn ich sage: Mir geht’s zu gut.

Neun Jahre ist es her, seit ich die Reißleine gezogen habe. Zugegeben, mein damaliger Chef tat es für mich, indem er mich im Personalbüro abpasste und vor dem versammelten Publikum zur Sau machte, weil ich ihm zu oft krank war. Heulend erwiderte ich: »Ich geh jetzt heim und ich komm nicht wieder«, und tat genau das.

Anfangs plante ich, mir einen neuen Job zu suchen, irgendwas mit weniger Stress. Schnell merkte ich, dass ich mir die vielen Krankschreibungen nicht aus Faulheit geholt hatte, sondern weil ich wirklich krank war.

Was für eine Krankheit das war (ist?), weiß ich bis heute nicht. Niemand hat je eine gründliche Diagnostik mit mir durchgeführt. Ich habe einige Diagnosen eingesammelt, aber diese erklären meine Symptome nicht. Über die Jahre habe ich den ein oder anderen Verdacht gehegt; bei manchen Dingen bin ich mir immer noch relativ sicher, dass sie auf mich zutreffen, weiß aber nicht, zu welchem Grad sie sich auf meinen tagtäglichen Gesundheitszustand auswirken.

Neun Jahre lang probierte ich alles aus, wovon ich glaubte, es könnte helfen. Vieles hatte überhaupt keinen Effekt. Manches half ein bisschen, eine Weile lang, und dann nicht mehr. Einiges machte mich nur noch kränker, da mein Körper prinzipiell sehr empfindlich und oft negativ bis paradox reagiert.

Aber dann, eines Tages, hat endlich mal etwas funktioniert. Nicht stark, aber merklich. Das ist jetzt fast zwei Jahre her. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich unter starken Einschränkungen, aber immerhin, wieder regelmäßig an Projekten arbeiten und ein kleines Sozialleben führen.

Diesen Sommer hat nochmal etwas funktioniert – deutlich besser. Ich probierte noch ein paar Dinge aus, weil sie sich richtig anfühlten, und das hat grandios funktioniert und mein Leben dramatisch verbessert, und danach fand ich noch ein paar kleinere Dinge, die auch noch mehr verbessert haben, und dann noch ein größeres Ding, das nochmal einen großen Effekt hatte.

Aber der Wendepunkt, das war dieser Sprung vor ein paar Monaten, als zwei für mich neue Supplemente plötzlich etwas bewirkten.

Ich weiß nicht, warum diese Supplemente helfen. Ich habe ganze Tage damit verbracht, ihre Wirkung zu recherchieren, aber als ich (als studierter Maschinenbauer) irgendwann über Wikipedia hing und erfolglos versuchte, den Zitratzyklus zu verstehen, musste ich mir eingestehen, dass niemand meine Fragen beantworten wird. Ich muss diesen Glücksgriff als das annehmen, was er ist.

Das Problem ist, dass es mir jetzt gut geht.

Nicht so gut, wie es gesunden Menschen geht, würde ich sagen. Ich muss mich immer noch viel ausruhen, habe oft Schmerzen, kann nicht gut laufen, kann nicht gut stehen. Der Großteil der zusätzlichen Energie, die mir nun zur Verfügung steht, fließt in eine intuitive Form von DIY-Reha. Sprich: Sport. Fahrradfahren, stundenlang. Hanteln heben. Liegestützen. Rückentraining. Mein Körper schreit nach Bewegung. Hinterher muss ich lange sitzen, bin oft zu erschöpft, um kognitive Arbeit leisten zu können.

Aber langsam, ganz langsam, scheint die Strategie zu bewirken, dass doch ein bisschen mehr geht.

Die Grenze für volle Erwerbsminderung sind fünfzehn Stunden pro Woche. In meinem derzeitigen Zustand könnte ich keine fünfzehn Stunden arbeiten. Aber ein paar Stunden gingen sicherlich, und vielleicht bessert meine Gesundheit sich noch. Ein Traum wäre, zwanzig Stunden arbeiten zu können!

Zwanzig Stunden von was?

Stundenlang starre ich in die Luft und versuche mir zu überlegen, wie mein zukünftiger Weg aussehen soll. Ich habe das Gefühl, ich hab vergessen, wie das mit dem Leben geht. Oder ich wusste es nie.

Ich denke zurück. Mit Anfang zwanzig musste ich mir aussuchen, ob und was ich studiere und was ich später mal werden will. Mit Anfang zwanzig hatte ich keine Ahnung, was diese Wahl bedeutet. Meine Wahlmöglichkeiten waren nahezu unbeschränkt, auch wenn mir das nicht so klar war wie jetzt, da ich sie nicht mehr habe.

Ich erlebe immer noch signifikante Einschränkungen. Was ich arbeiten könnte, muss von zuhause aus gehen, zu beliebigen Tages- und Nachtzeiten, und ohne nennenswerte Qualifikationen möglich sein. Ich habe einen Bachelor in Maschinenbau und keinen Lebenslauf.

Nein, im Ernst. Ich kann mich zwar an jeden der diversen Jobs, die ich so gemacht habe, noch erinnern, habe aber für keinen davon einen Nachweis. Ich hab alles weggeschmissen, nachdem ich 5 oder 7 Jahre lang krank war und mir klar wurde, dass ich das nicht mehr brauchen werde, weil es mir nie wieder besser gehen wird.

Die Sachen, die ich gut kann, sind auch gar nicht die Sachen, für die ich laut Lebenslauf vielleicht noch verwendbar wäre. Angestellt zu arbeiten, würde außerdem bedeuten: Zu bestimmten Zeiten wach sein, ein vorgegebenes Arbeitstempo einhalten… Das geht in meinem Leben nicht.

Und trotz allem habe ich einen gewissen Stolz. Ich besitze Fähigkeiten, auch ohne Nachweis. Und ich will nicht noch mehr Lebenszeit an einen Job verschwenden, den ich nicht machen will. Ich hab so viel Zeit verloren: Gut zwanzig Jahre meines Lebens an Trauma und Gewaltsituationen, später neun Jahre an eine Krankheit und Behindertenfeindlichkeit. Nun habe ich zum ersten Mal seit Langem wieder die Chance, meinen Lebensinhalt selbst zu bestimmen, und… Ich weiß nicht, was ich mit dieser Freiheit anstellen soll.

Alles, was ich habe, ist eine grobe Idee, welchen Weg ich von hier aus einschlagen möchte. Wo er mich letztlich hinführen wird, weiß ich nicht. Ich mach es halt mal und schau, was passiert.

Themen: persönlich, behinderung