Meine Frage: 1. ME/CFS und andere Post-Covid-Symptomatiken werden immer häufiger. Gleichzeitig ist das gesamtgesellschaftliche Wissen insbesondere über ME/CFS gering, auch unter medizinischen Fachkräften. Oft wird geglaubt, es handele sich um eine psychiatrische oder psychosomatische Erkrankung, auch in Pflegegutachten, hierzu liegen mir Belege von Betroffenen vor. Aufgrund der Schwere der Erkrankung ist davon auszugehen, dass in Zukunft immer mehr Betroffene Leistungen der Pflegekasse beantragen werden. Unternimmt oder plant der Medizinische Dienst auf Bundesebene derzeit Maßnahmen (welche?), um zu gewährleisten, dass Gutachter*innen mit den spezifischen Problemen und Symptomausprägungen bei ME/CFS und ähnlichen Post-Covid-Syndromen vertraut sind, und dass entsprechende Symptomkonstellationen in Begutachtungsrichtlinien angemessen berücksichtigt werden? Antwort vom Medizinischen Dienst Bund: Bei der Pflegebegutachtung stellen die Gutachterinnen und Gutachter den Grad der Selbstständigkeit des pflegebedürftigen Menschen fest und leiten daraus Empfehlungen für den Pflegegrad ab. Die Gutachterinnen und Gutachter werden regelmäßig zu Erkrankungen und deren mögliche Auswirkungen auf den Grad der Selbstständigkeit (Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten) geschult. Dies betrifft auch ME/CFS und ähnliche Post-Covid-Syndrome. Die fachlichen Grundlagen für die Begutachtungen werden bundesweit abgestimmt und beraten. Dadurch ist eine fundierte Basis für eine einheitliche und nach sozialmedizinischen Kriterien durchgeführte Bewertung der medizinisch-pflegerischen Sachverhalte bei diesen Erkrankungen sicherstellt. Die Auswirkungen von ME/CFS können auch im Rahmen der aktuell gültigen Begutachtungs-Richtlinien angemessen berücksichtigt werden – da es stets darum geht, die Auswirkungen der gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen auf den Grad der Selbstständigkeit zu bewerten. Meine Frage: 2. Die krankheitstypischen Herausforderungen der ME/CFS-Symptomatik (insb. PEM und das dadurch erforderliche Pacing) sind von den »Richtlinien des Medizinischen Dienstes Bund zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI vom 21. August 2024« nicht eindeutig abgedeckt. In mehreren Modulen werden die Einzelpunkte von »selbständig« bis »unselbständig« bewertet. In den »Richtlinien« finden sich keine Anweisungen, wie diese Bewertung in für ME/CFS typischen Fällen vorzunehmen ist: - wenn Tätigkeiten zwar selbständig ausgeübt werden können, allerdings zu einem »Crash« mit einer starken Symptomverschlimmerung (insb. anhaltende Schmerz- und Erschöpfungszustände) führen, sodass dadurch andere Tätigkeiten der Selbstversorgung unmöglich werden; - wenn bestimmte Aufgaben auch mit Unterstützung nicht möglich wären, beispielsweise, weil Körperpflege auch mit Hilfe immer zu starker Symptomverstärkung führen würde und daher nicht durchgeführt wird, oder weil Freizeitbeschäftigung bzw. Sozialkontakte aufgrund der Schwere der Symptomatik sowieso nicht möglich ist. Gibt es hierzu Anweisungen, die über die »Richtlinien« hinausgehen oder liegt die Bewertung allein im Ermessen der Begutachtenden? Antwort vom Medizinischen Dienst Bund: In der Begutachtung stehen die Auswirkungen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen auf den Grad der Selbstständigkeit im Fokus. Die Richtlinien ermöglichen daher die Berücksichtigung der Krankheitssymptome auf den individuellen Grad der Selbstständigkeit im Rahmen der Begutachtung. Zusätzlich haben die Gutachter fachliche Grundlagen und Schulungen zu ME/CFS erhalten. In den Richtlinien selbst finden sich keine "diagnosebezogenen" Regelungen. Es geht immer um die Bewertung der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten in den Modulen des Begutachtungsinstruments. Schwankungen im Tagesverlauf sind bei der Begutachtung zu berücksichtigen. Die anamnestische Befragung der antragstellenden Personen und ggf. ihrer Pflegepersonen ist von großer Bedeutung, damit der Schweregrad der Beeinträchtigungen angemessen berücksichtigt werden kann. Meine Frage: 3. Im Modul 5 zu »krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen« ist eine Bewertung vorzunehmen, wie häufig medizinische Versorgung stattfindet. Wie soll hierbei medizinische Versorgung bewertet werden, für die ein Bedarf besteht, die aber zum Zeitpunkt der Begutachtung aufgrund fehlender Unterstützung nicht stattfindet? Beispielsweise: Arzttermine, die nicht möglich sind, weil die Person nicht hinkommt; Behandlungen und Therapiemaßnahmen, die eigentlich nötig wären, aber mangels Unterstützung nicht wahrgenommen werden können. Antwort vom Medizinischen Dienst Bund: Diese Frage kann nur im individuellen Einzelfall durch die Begutachtung beantwortet werden. Therapiemaßnahmen können beispielsweise regelhaft auch im Hausbesuch erfolgen. Dies gilt ebenso für Arztbesuche. Sollten darüber hinaus regelmäßige notwendige Arztbesuche erforderlich sein, so ist der erforderliche Hilfebedarf zu bewerten, sofern dieser regelmäßig und auf Dauer erforderlich ist. Meine Frage: 4. Durch plötzliches Auftreten signifikanter Einschränkungen (z.B. nach einer Covid-Erkrankung) und damit u.U. einhergehender Bettlägerigkeit oder Hausgebundenheit haben die Hilfesuchenden oft Schwierigkeiten, medizinische Versorgung und Diagnostik in Anspruch zu nehmen. Das Problem wird verstärkt durch lange Wartezeiten für Spezialambulanzen, Fachärztemangel, geringes Verständnis für ME/CFS bei Hausärzt*innen, etc. Da für die Gewährung eines Pflegegrades laut den »Richtlinien« prinzipiell medizinische Befunde erforderlich sind: Welche Stelle steht in den Augen des Medizinischen Dienstes in der Pflicht, Menschen, die einen erheblichen pflegerischen Hilfebedarf haben, dies aber nicht durch medizinische Berichte nachweisen können, die nötige Unterstützung zu gewährleisten? Antwort vom Medizinischen Dienst Bund: Der pflegerische Hilfebedarf wird nicht ausschließlich und in erster Linie über medizinische Fremdbefunde festgestellt. Diese können Teil der Informationssammlung bei der Pflegebegutachtung sein. Es hängt immer vom individuellen Einzelfall ab, ob zusätzlich zur Befunderhebung durch die Gutachterin oder den Gutachter weitere medizinische oder therapeutische Berichte erforderlich sind, um den Grad der Selbstständigkeit einschätzen zu können.