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Warum ich eine Geschichte über chronisch kranke Menschen geschrieben habe

19. July. 2024

Ich habe einen Roman geschrieben, den man ab heute kaufen kann. Da ich mir keinen Impressumsservice leisten kann und meine Privatadresse nicht ins Internet schreiben will, darf ich leider hier nicht mehr dazu sagen. Aber das Buch war über die letzten 2 Jahre ein großer Teil meines Lebens, und ich möchte davon erzählen und erklären, warum ich gemacht habe, was ich gemacht habe und wieso das Projekt mir so wichtig ist. In einem separaten Beitrag habe ich schon erklärt, warum ich es teilweise in Umgangssprache geschrieben habe.

Also, warum habe ich dieses Buch geschrieben, und warum habe ich den Hauptcharakteren eine unheilbare, stark einschränkende Krankheit verpasst?

Eigentlich ist die Antwort so kurz wie komplex: Ich bin chronisch krank. Der größte Teil meiner Freund*innen ist chronisch krank. Und es gibt keine Geschichten, in denen Leute wie ich oder meine Freund*innen vorkommen, geschweigedenn als Held*innen Abenteuer erleben dürfen.

Selbst bin ich seit 2015 arbeitsunfähig. Ich glaube nicht, dass ich erst 2015 krank geworden bin, aber seit dem Jahr geht es mir so schlecht, dass ich mich nur noch als behindert begreifen kann. Dabei befinde ich mich in demjenigen Sumpf schlecht abgegrenzter und kaum erforschter chronischer Krankheiten, den die Betroffenen nur zu gut verstehen und alle anderen eher nicht so: Irgendwas mit EDS, MCAS, MEFCS, Fibromyalgie, POTS – ein Diagnosechaos, von dem ich ein paar Diagnosen habe und bei den anderen längst aufgegeben habe, dafür irgendwas auf Papier zu bekommen. Auf Hilfe und Behandlung hoffe ich ebenfalls nicht mehr. Diese Art von Erkrankung bedeutet, dass ich dauerhaft Symptome habe, die mich daran hindern, Dinge zu tun, die ich gerne tun möchte. Erschöpfung, Schwäche, Schlafstörungen, Übelkeit, Schwindel, ich kann nicht gut laufen, ich kann nicht gut stehen, ich kann nicht gut schlafen, ich kann nicht gut denken, und jeder Test, der im medizinischen Bereich gemacht wird, kommt entweder „normal“ zurück oder abnormal auf eine Art, mit der niemand etwas anfangen kann.

Von der Gesellschaft fühle ich mich abgehängt und verdrängt. Schon vor Corona war das so. Selbst die Dienste, die eigentlich für kranke und behinderte Menschen gemacht sind, können mit Leuten wie mir und meiner Symptomatik nichts anfangen. Es gibt keine Pflege oder Haushaltshilfe für Menschen, die alltägliche Sachen technisch gesehen noch machen können, aber davon so starke Symptome entwickeln, dass sie tagelang im Bett liegen. Es gibt keine Diagnosen oder Medikamente, wenn alle Tests normal aussehen. Ich bin durch die Arbeitsunfähigkeit arm, aber Angebote wie die Tafel oder Sozialkaufhäuser kann ich nicht oder kaum nutzen, weil ich es körperlich nicht hinschaffe und mich nicht für Assistenz qualifiziere. Und da kommt dann noch Corona dazu: Natürlich macht jede Infektion, egal mit was, meinen Zustand schlimmer, und zwar permanent. Die Gesellschaft als solche, und auch der gesamte medizinische Bereich, haben aber längst entschieden, dass es nicht so schlimm ist, medizinisch fragile Menschen einem ständigen Infektionsrisiko auszusetzen.

Ich lebe in einer Art Parallelrealität. Andere Menschen haben Job, Familie, Ziele und Träume. Sie denken darüber nach, wo sie in den Urlaub hinfahren. Sie gehen auf Festivals und Konferenzen. Sie machen lange Zugfahrten, um Partner*innen zu treffen. Sie überlegen sich, wie sie ihre Wohnung einrichten möchten, und besorgen sich dann die passenden Möbel. Das sind Lebensweisen, die ich grundlegend nicht verstehen kann: Ich plane meine Wochen so, dass ich nach jeder Anstrengung ein bis zwei Tage Erholung habe, und anstrengend sind für mich schon Aufgaben, die gesunde Menschen nebenbei erledigen können, ohne darüber nachzudenken. Einkaufen einen Tag nach einem Arztbesuch? Undenkbar. Videokonferenz am selben Tag wie Staubsaugen? Vielleicht vom Bett aus, und danach werde ich mich zwei bis drei Tage lang fühlen, als würde ich sterben. Müll runterbringen und hinterher noch Duschen? Äh, okay, kann ich zwischendurch zwölf Stunden Pause machen? Dann klappt das vielleicht.

In so einer Parallelrealität zu leben, heißt aber auch, dass ich mich in der Mainstream-Kultur nicht wiederfinden kann. Geschichten sind wichtig für mich – um so mehr in den Phasen, wo es mir nur noch dreckig geht. Wenn ich mich fühle wie durchgekaut und ausgespuckt, brauche ich Ablenkung. Ich brauche Eskapismus. Ich lese Bücher, ich schaue Serien.

Und ich habe noch nie eine Geschichte entdeckt, in der Menschen wie ich vorkommen und angesprochen werden. Es gibt keine Geschichten über Menschen, die so krank sind, außer vielleicht tragische Geschichten darüber, wie schlimm es ist, so krank zu sein, die dann entweder in unserer Heilung oder unserem Tod enden. Wenn wir überhaupt als Charaktere vorkommen, sind wir entweder bemitleidenswerte Opfer unserer Körper, oder wir sind entbehrlich und wertlos. Ich habe zu viele Geschichten gelesen und gesehen, in denen kranke, behinderte Menschen ihr Leben aufgegeben haben, um die anderen, gesunden Charaktere zu schützen und ihnen weiterzuhelfen. Es dreht mir jedes Mal den Magen herum.

Es gibt keine Geschichten über Charaktere, deren Leben ähnliche Qualitäten hat wie mein eigenes, die ähnliche Schwierigkeiten haben, und die trotzdem irgendwie leben können und wollen und sollen. Also wollte ich beweisen, dass das geht. Und nicht nur das: Ich wollte diese Charaktere in die Held*innen-Rolle versetzen. Ich wollte sie Abenteuer erleben lassen, von denen ich mir vorstellen könnte, dass ich selbst sie erleben könnte, und zwar so, wie ich jetzt bin – ohne Wunderheilung zwischendurch; ohne Magie oder Technologie, die meine Symptome ausgleichen kann; ohne Reichtum, Dienerschaft oder Macht.

Ich wollte ein Buch schreiben, in dem Menschen wegen ihrer Krankheit nicht wertlos sind, sondern genau das Gegenteil: dass die Krankheit sie besonders wertvoll und schützenswert macht. Wo von kranken Menschen nicht erwartet wird, dass sie sich für Gesunde opfern, sondern dass die Dynamiken andersherum laufen. Und dass diese Charaktere trotzdem solche Probleme erleben, wie ich sie auch kenne: Die kranken Hauptcharaktere haben genau die alltäglichen Schwierigkeiten, die chronisch kranke Menschen in unserer heutigen Gesellschaft erleben. Sie schaffen es nicht unbedingt, sich selbst zu versorgen, können nicht jederzeit mal spontan das Haus verlassen, sind auf Unterstützung und auf Hilfsmittel angewiesen, leiden unter sozialer Isolation und ärztlicher Fehlbehandlung.

Denn es war mir wichtig, auch die strukturelle Diskriminierung abzubilden. Als chronisch kranke Person erlebe ich es immer wieder, dass Ärzt*innen mir nicht glauben oder versuchen, mir die Schuld an meiner eigenen Krankheit zu geben. Sie versuchen, mir weiszumachen, ich hätte meine Symptome nur, weil ich Angst vor ihnen habe, oder ich könnte meine Erschöpfung durch Muskelaufbau therapieren. Sie diagnostizieren mich mit einer Depression, weil meine körperlichen Symptome mich schwächen. Hauptsache, sie müssen nicht zugeben, dass der Stand der Medizin mir nicht helfen kann. Wenn es alles irgendwie meine Schuld ist, können sie mir hinterherschauen, nachdem ich verletzt und resigniert das Gespräch vorzeitig abgebrochen habe, können die Schultern zucken und zu sich sagen: Tja, wer nicht will, dem kann man auch nicht helfen.

Und diese Haltung widerfährt meinen Charakteren auch. Sie erleben das, was ich erlebe. Trotzdem ist das nicht der Fokus der Geschichte, sondern es ist die Grundlage. Die Geschichte selbst ist ein fantastisches Abenteuer, ein Fenster in eine andere Welt, aber all das baut auf einem Leben auf, in dem ich mich wiederfinden könnte.

Solche Geschichten gibt es eigentlich nicht. Sicher sind irgendwo da draußen ein paar (Wenn jemand von euch welche kennt: Bitte immer her damit!), aber es sind so wenige, dass ich ihnen noch nicht über der Weg gelaufen bin.

Jetzt gibt es eine mehr. Eine Geschichte für kranke Menschen, die sich nicht einmal mehr vorstellen können, wie es sein muss, herumrennen und reisen und aktiv sein und arbeiten und nebenbei den Haushalt und den Job und die Beziehung schmeißen zu können. Eine Geschichte für unheilbare Menschen, die nicht ständig daran erinnert werden wollen, dass unsere Gesellschaft sie für wertlos und verzichtbar hält. Eine Geschichte für behinderte Menschen, die so, wie sie sind, gerne ein magisches Abenteuer erleben würden. Eben eine Geschichte für Menschen, die nie wieder gesund werden.

Themen: kunst, die-träume, behinderung

Warum ich ein Buch mit Umgangssprache geschrieben habe

06. July. 2024

Ich habe einen Roman geschrieben, den man ab 19. 7. kaufen kann. Da ich mir keinen Impressumsservice leisten kann und meine Privatadresse nicht ins Internet schreiben will, darf ich leider hier nicht mehr dazu sagen. Trotzdem möchte ich darüber reden, warum ich mit diesem Buch ganz absichtlich etwas gemacht habe, was als schlecht und falsch und dumm angesehen wird. Das ist vielleicht auch für Leute interessant, die sich für den Roman selbst nicht interessieren.

Mir fällt es immer noch schwer, zu beschreiben, was das eigentlich ist, das ich da gemacht habe. Nein, ich habe nicht „ein Buch in Umgangssprache“ geschrieben. „Mit“ Umgangssprache, ja. Aber der Begriff der Umgangssprache beschreibt eigentlich einen formlosen, meist mündlichen Kontext, und das habe ich nicht gemacht. Fangen wir vielleicht mal an einer anderen Stelle an.

Als ich anfing, eine Geschichte zu konzipieren, die sich zum Veröffentlichen eignen könnte, habe ich mich praktisch einmal quer durch das amtliche Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung gelesen und festgestellt, dass vieles, das laut diesem Regelwerk korrekt ist, den gebräuchlichen Schreibweisen widerspricht. Ich schreibe und lese viel, sehr viel – aber das meiste davon ist formlose Schriftsprache im Internet. Und da wird anders geschrieben, es gelten andere Regeln. Außerdem tauchen viele Formulierungen, die im Mündlichen und in formloser Schriftsprache absolut gängig sind, in der formellen Schriftsprache kaum oder gar nicht auf. Einige sind in formalen Texten so ungebräuchlich, dass es nicht einmal offizielle Schreibregeln dafür gibt.

Mein Lieblingsbeispiel ist der am-Progressiv: „Ich bin am schreiben.“ Mündlich gebrauchen wir dieses Konstrukt tagtäglich, auch wenn je nach Dialekt Verlaufsformen mit „beim“ oder mit „tun“ gebräuchlicher sind. In der formellen Schriftsprache ist der am-Progressiv hingegen verpönt (wenn auch nicht so sehr wie die Verlaufsform mit „tun“) und wird allerhöchstens in feststehenden Begrifflichkeiten wie „am Leben sein“ verwendet, die allerdings grammatikalisch anders funktionieren. So kann man beispielsweise „am Leben bleiben“, aber man kann nicht „am Schreiben bleiben“.

In der formlosen Gebrauchssprache wird der am-Progressiv meistens klein geschrieben, während das amtliche Regelwerk nichts dazu sagt und der Duden Großschreibung empfiehlt. Dazu kommt dann noch, dass wir im Mündlichen das „am“ meistens viel weiter vorne hinstellen, als das angeblich korrekt sein soll. Wenn ich frei spreche, würde ich sagen „Ich bin am den Text für meinen Blog schreiben“ und nicht „Ich bin den Text für meinen Blog am schreiben“. Beides fühlt sich für mich richtig an, aber Letzteres ein wenig gekünstelt und förmlicher.

So wird klar, dass in der förmlichen Schriftsprache ganz andere Regeln gelten als in formloser Schriftsprache. In einem Chat hätte ich kein Problem, diesen Satz so zu schreiben und niemand würde ihn ungewöhnlich finden. „Ich bin am den Text für meinen Blog schreiben.“ Es ist korrektes Deutsch, weil wir so reden. Aber in einem Deutsch-Aufsatz würde der ganze Satz rot angepinselt werden, Wortwahl und Grammatik und Rechtschreibung.

In meinem Buch zelebriere ich nun eine gewisse Rechtschreib-Anarchie. Aber Anarchie nicht im Sinne von „chaotische Achtlosigkeit“, sondern im Sinne von echter Anarchie: selbstbestimmte Regeln, die zum Kontext passen.

Sprache ist für mich schon immer ein großes Interesse gewesen, oft ein regelrechtes Spezialinteresse. Als Kind habe ich internalisiert, dass es etwas Besonderes und Gutes ist, wenn ich weiß, wie Dinge korrekt geschrieben werden, und habe mir die Regeln bewusst gut eingeprägt. Dadurch habe ich mir aber versehentlich auch antrainiert, zu bemerken, wenn andere Menschen diese Regeln brechen. Im Laufe der Zeit habe ich festgestellt, dass das Brechen dieser Regeln oft sehr systematisch erfolgt.

Eine Sache, die mich oft besonders gestört hat, waren verbotene Kommas, die von vielen Menschen an genau denselben Stellen gesetzt werden, als folgten sie alle denselben Regeln. Aus Interesse habe ich dann nachgeschaut und gesehen, dass auch die Brüder Grimm schon einige dieser heutzutage illegalen Kommas gesetzt haben. Offensichtlich ist das amtliche Regelwerk also nicht der Weisheit letzter Schluss. Als ich im Fedi darüber gesprochen habe, kamen einige Antworten nach dem Motto: „Die haben das halt alle falsch gelernt von anderen Leuten, die es falsch machen.“ Aber das ist doch das Ding mit Sprache: Wir lernen sie von anderen. Man kann Sprache nicht nachmessen, sie funktioniert nicht nach Naturgesetzen, sondern Sprache ist so, wie wir sie einander beibringen und voneinander lernen. Wenn genug Leute etwas „falsch“ machen, ist es vielleicht irgendwann „richtig“ – oder es ist vielleicht irgendwann eine andere Sprache.

Solche systematischen Schreib„fehler“ betreffen oft die schon erwähnte Kommasetzung, aber auch Groß-/Klein- sowie Getrennt-/Zusammenschreibung, was vermutlich durch die ganzen Rechtschreibreformen in den 90ern und 00er Jahren noch drastisch verstärkt wurde. Dazu kommen dann noch vom Dialekt abhängige Elemente, und nicht zuletzt natürlich die Wortwahl. Wenn ich Texte lese, die nicht nachkorrigiert wurden, dann kann ich anhand dieser Faktoren oft auch ohne Namen schon einzelne Verfasser*innen wiedererkennen, und in meinem Kopf setzt sich die Kombination von Schreibweisen dann zu einer ganz bestimmten, individuellen Stimme zusammen.

Gerade in der heutigen Zeit ist Schriftsprache wichtiger denn je. Den ganzen Tag kommunizieren wir per Text miteinander; lesen und schreiben zu können ist längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden, auf der nicht nur unser Berufs-, sondern oft auch unser gesamtes Sozialleben aufbaut. Dadurch denke ich, dass diese individuell unterschiedlichen Schreibweisen schon eine Stimme in mehr als einem übertragenen Sinne sind. Das ist die Art, wie wir einander kennen.

(Vor diesem Hintergrund finde ich es übrigens auch tragisch, dass durch ChatGPT und co jetzt in gewissem Maß eine Standardisierung der Schreibstimme passiert. Für mich fühlt sich das so an, wie wenn wir ganz leise in ein Mikrofon sprechen würden, das dann den Inhalt in einem standardisierten Hochdeutsch ausgibt – weg mit Dialekt, weg mit Sprachfärbung und regionalen und kulturellen Unterschieden. Ist das wirklich erstrebenswert?)

Meiner Meinung nach sollten wir die schriftliche Gebrauchssprache als solche nicht nur akzeptieren, sondern als wertvoll und schützenswert betrachten. Menschen sind in der Lage, im Mündlichen zwischen Hochdeutsch und verschiedenen Dialekten zu unterscheiden, warum sollten sie das also nicht auch in schriftlich können? persönlich find ichs jetzt ja eigentlich net so super schwierig manchmal so zu schreiben und manchmal halt anders. für mich fühlt sichs zB super weird an, innem chat mit großbuchstaben zu schreiben und hier im blog kommt mir das hier jetzt seltsam vor, aber ich muss halt den punkt rüber bringen. (ja, ich schreib in dieser stimme hier auch wörter auseinander die ich sonst zusammenschreib und andersrum. ehrlich gesagt wars befreiend, zu realisieren, dass ich das garnicht konsequent in jedem kontext gleich machen muss.)

In meinem Buch habe ich also solche Schreibvarianten benutzt, um zwei verschiedene Charaktere mit drastisch verschiedenen schriftlichen Stimmen zu kreieren. Ich könnte auch noch mehr, aber ich wollte mich vorsichtig rantasten und erstmal austesten, wie sich dieser neue sprachliche Raum anfühlt. Und was soll ich sagen? Es ist mega geil.

Für mich war das ein echter Befreiungsschlag, plötzlich meine ganze Sprache verwenden zu können: Die umgangssprachlichen und dialektgeprägten Elemente, die in der Schriftsprache sonst als absolutes No-Go gelten und uns in der Schule als „Fehler“ ausgetrieben werden, stehen einfach auf derselben Seite wie hochgestochene und übertrieben formelle Konstruktionen. Gleichwertig, keins der beiden „richtiger“ oder „besser“ als das andere, sondern nur eben besser zum jeweiligen Kontext passend. Rechtschreibfehler als Stilmittel, schriftliche Umgangssprache.

Gleichzeitig habe ich mich im Rahmen dieses Projekts persönlich stark weiterentwickelt. Mich hat es schon länger genervt, dass ich über „Rechtschreibfehler“, besonders in formalen Kontexten, nicht hinwegsehen konnte. Mehr als ein Buch habe ich weglegen müssen, weil immer wieder Kommas gesetzt wurden, die ich nicht mochte, oder weil Wörter auseinander geschrieben wurden, die ich zusammen schreiben würde. Es hat mich gestört, wie sehr mich das störte, denn schließlich ist mir klar, wie viel Klassismus, Ableismus, und nicht zuletzt auch Rassismus in dieser Verherrlichung von „korrekter“ Sprache steckt. Aber ich hatte dieses Märchen von Korrektheit so verinnerlicht, dass ich lange keinen Weg gefunden habe, diesen Mechanismus in meinem eigenen Denken auszuhebeln.

Und ich muss sagen: Es hat mich beim Schreiben teilweise viel Überwindung gekostet, solche Fehler zu machen. In meinem Buch schreibt ein Charakter eher umgangssprachlich und benutzt dabei zwar mehr Schreibvarianten, die formal als „Fehler“ gelten – aber in der Regel sind das genau diejenigen, die sich für mich „richtiger“ anfühlen als die angeblich „korrekte“ Schreibung. Das so zu machen, war leicht, es war Spaß, es war befreiend und tat gut.

Der andere Charakter schreibt eher förmlich, macht aber Rechtschreibfehler, die oft von Menschen gemacht werden, die der Meinung sind, ihre Rechtschreibung sei besonders gut. Dieser Charakter setzt Kommas, wo sie nicht hingehören, schreibt Wörter groß oder auseinander, die eigentlich klein oder zusammen geschrieben werden, und drückt sich oft eher gestelzt aus. Das hat mich stärker gefordert, als einfach so zu schreiben, wie ich das in formlosen Kontexten sowieso schon tu. Ich musste Schreibungen einsetzen, die sich für mich wirklich falsch anfühlen (und von denen manche formal sogar „zulässig“ sind), weil das für diesen Charakter das richtige Stilmittel war. (Und es amüsiert mich ein bisschen, dass viele Leute solche Fehler nicht einmal bemerken werden, eben weil sie von so Vielen als „korrekt“ angesehen werden.)

Als ich mit dem Projekt langsam fertig wurde, habe ich irgendwann festgestellt, dass Schreibvarianten und schriftliche Umgangssprache mich nicht mehr stören. Ich bin über einen Text gestolpert, dessen Verfasser sich durchweg weigerte, den Genitiv zu benutzen, und auch keine „von“-Formulierung einsetzte, sondern immer mit Possessivpronomen arbeitete: Das ist Anna ihre Brotdose. Darin liegt Anna ihr Brot.

Und es hat mich nicht mehr gestört. Ich war fasziniert. (Zugegeben, der Text war schlecht, aber nicht wegen seiner Sprache. Die Sprache war das einzige Coole daran.)

Sprache ist eben kein fest eingegrenztes, kohärentes Ding. Natürlich kann man sie in einem Regelwerk formalisieren, aber sogar das Regelwerk steht nicht als Alleinherrscher über der deutschen Sprache: So hat beispielsweise die Leichte Sprache ein ganz eigenes, abweichendes System; das amtliche Regelwerk selbst hat sich in den letzten Jahrzehnten mehrfach verändert, und wer die Änderungen nicht aktiv verfolgt hat, ist auch nicht am nächsten Tag aufgewacht und hat plötzlich ganz anders gesprochen und geschrieben; und manchmal wird sogar das Regelwerk angepasst, um Schreibweisen zu übernehmen, die sich entgegen jeder Vorgabe einfach durchgesetzt haben. Selbst, wenn man Menschen für Abweichungen von Sprachregeln abstraft, kann man offensichtlich nicht verhindern, dass sie die Sprache weiter so benutzen, wie es sich für sie richtig anfühlt.

Wir sprechen nicht alle dasselbe Deutsch, und wir sprechen auch nicht alle nur ein Deutsch. Ich persönlich beherrsche ein sehr solides schriftliches Hochdeutsch, sowie auch schriftliche Umgangssprache. Schwäbisch habe ich als junges Erwachsenes wie eine Fremdsprache gelernt und ich spreche es fließend. Meine Muttersprache ist Hessisch. Was ich im Alltag spreche, ist ein Mix aus verschiedenen Dialekten, der auch davon abhängt, wie mein Gegenüber spricht. Ich verstehe Bayrisch und relativ viel Österreichisch, aber mit nord- und ostdeutschen Dialekten habe ich oft noch Probleme. Luxemburgisch kann ich mit sehr viel Mühe lesen, aber nicht gut verstehen. Niederländisch kann ich inzwischen deutlich besser lesen, aber verstehen auch nur bruchstückhaft.

Und ja, Niederländisch zählt heutzutage nicht einmal mehr als deutscher Dialekt! Stellt sich raus: Eigentlich ist es eine künstliche Erfindung, dass Sprachen feste Grenzen haben müssen. Links dieser willkürlich auf eine Landkarte gepinselten Linie wird dies gesprochen und rechts davon jenes. Eigentlich wollen Sprachen lieber fließend ineinander übergehen wie regionales Klima.

Ich glaube ja eigentlich nicht, dass Sprachen „leben“. Sprache hat keinen eigenen Willen, sie kann keine Entscheidungen treffen, sie kann sich nicht wandeln oder sterben. Aber sie hat eine direkte Verbindung zu menschlichem Erleben, ist eine fundamentale Ausdrucksform, mit der wir uns selbst, unsere Identität, unsere Träume und Hoffnungen, unsere Sorgen, unsere Beziehungen, unsere Erlebnisse und unsere Ideen beschreiben, unseren Schmerz und unsere Liebe. Und für jede dieser Aufgaben finden wir Tausende kleiner Kniffe und Veränderungen, um die Sprache an unsere Bedürfnisse anzupassen; um zu beschreiben, wer wir sind und wie und was wir sind und was wir tun und was wir nicht tun und was wir tun würden und was wir wollen und was wir nicht wollen und wie das ausgesehen hat, als vor ein paar Wochen die Polarlichter waren und leider hatte ich keine Kamera dabei und es waren Wolken da aber manchmal konnte man die Wolken ein bisschen grünlich leuchten sehen und manchmal sogar rot… Wenn wir uns alle in jedem Kontext auf korrektes Hochdeutsch beschränken würden, könnten wir all das gar nicht mehr angemessen ausdrücken.

Wir müssen uns nicht damit zufriedengeben, nur im mündlichen Kontext unsere eigene Sprache vollumfänglich nutzen zu können. Wir müssen uns nicht jedes Mal darüber echauffieren, wenn jemand „Rechtschreibfehler“ macht oder eine Dialekt-Formulierung benutzt, die in unserem eigenen Herkunftsort unüblich ist (oder – vielleicht schlimmer – eine, die dort üblich ist und uns genau deswegen ausgetrieben werden sollte). Ich bin froh, dass ich das jetzt verstanden habe. Es ist meine Sprache (und deine, und Anna ihre, und die von allen anderen auch, es sind genug Wörter für uns alle da) und ich kann mit ihr verdammt nochmal machen, was ich will. Individuelle Ausdrucksweisen sind zu schön und zu faszinierend, um überall einen Rotstift anzusetzen, nur, weil uns das irgendwer mal so gezeigt hat.

Themen: kunst, die-träume, sprache