Die Stadt als Plattform für den Ausverkauf unserer Privatsphäre
Wie Hunderte andere deutsche Städte lässt die Stadt Hamburg sich dafür bezahlen, dass Firmen aus der Privatwirtschaft die Außenwerbung auf öffentlichem Grund betreiben. Was zu Zeiten der Werbeplakate aus Papier wie eine vernünftige Lösung gewirkt haben mag, wirft mit zunehmender Digitalisierung der Werbeträger weitreichende Fragen über die Verwendung persönlicher und gruppenbezogener Daten auf.
Dieser Text ist die schriftliche Version des mit dem Radio FSK veröffentlichten Berichts (nachhören auf Freie-Radios.net). Der Bericht steht unter CC-BY-NC-SA.
So einen beschädigten Bildschirm zu ersetzen, ist sicher aufwendiger als die Installation einer neuen Plakatwand.
Hamburg, spät in der Nacht. Die U-Bahn kommt an, Fahrgäste steigen aus. Es ist spät, die meisten wollen nur noch nach Hause, kaum jemand redet, viele starren müde aufs Handy. Der Blaulichtfilter macht das Display um diese Uhrzeit angenehmer anzusehen. Angeblich ist das auch besser für die Schlafregulation.
Der gigantische Bildschirm hinter den Gleisen hält nichts von derartiger Technologie. Grell strahlt eine taghelle Werbung über den Bahnsteig, eine Animation ringt um die Aufmerksamkeit der schläfrigen Fahrgäste.
Ungesehen sorgt hinter den Werbekulissen ein aufwendiges System dafür, dass die Werbung »programmatisch« immer genau dann und dort ausgespielt wird, wo sie die richtige Zielgruppe erreicht. »Targeting« nennt sich das, abgeleitet von der englischen Zielscheibe. Gespeist wird dieses Targeting-System mit Unmengen von Daten, die durch sogenanntes »Tracking« von Einzelpersonen abgegriffen werden, vorrangig bei der Internet-Benutzung.
Umsteigen in die S-Bahn. In jedem Wagen mehrere Bildschirme, die auf einer Hälfte die nächsten Haltestellen anzeigen und auf der anderen Hälfte Werbung. Später, nach dem Aussteigen, an jeder Bushaltestelle ein beleuchtetes Plakat, so alltäglich, dass man es kaum wahrnimmt. Auf dem Fußweg nach Hause: Eine beleuchtete Drehsäule. Ein gigantisches Leuchtplakat über der Ampelkreuzung. Freistehende Leuchtplakate mit Rollfunktion in der Fußgängerzone.
Der Name dafür ist »Out-Of-Home-Advertising«, also Werbung außerhalb von zuhause. In den Städten kommen wir alle täglich mit dieser Art von Werbung in Berührung. Die Meinungen dazu gehen auseinander. Manche finden sie nützlich, weil sie auf interessante Produkte aufmerksam gemacht werden. Andere finden sie ästhetisch und haben das Gefühl, dass sie ihre Laune verbessert. Viele glauben, dass sie sich von Werbung nicht beeinflussen lassen, oder tun ihr Bestes, sie zu ignorieren.
Immer wieder wird auch Kritik daran laut. In Hamburg gibt es die Initiative »Hamburg Werbefrei«, die sich am Vorbild »Berlin Werbefrei« orientiert. Die Initiative sieht in der zunehmenden Elektrifizierung und Digitalisierung des Out-Of-Home-Advertisings eine Ressourcenverschwendung und sorgt sich über eine mögliche Manipulation der Bevölkerung durch die Werbeflächenbetreiber.
Aber wer betreibt diese Werbeflächen eigentlich? Wie hat die Branche sich mit der zunehmenden Digitalisierung verändert, wie sind die Verhältnisse lokal hier in Hamburg, und warum sollte uns das überhaupt interessieren?
Zwei Konzerne mit viel Macht über unseren Alltag
In Hamburg wird jede Werbung auf öffentlichem Gelände, in Verkehrsmitteln und an Haltestellen von denselben zwei Konzernen betrieben. Das sind die deutsche Ströer, deren Geschäft sich stark auf Deutschland konzentriert, und die weltweit tätige JCDecaux. JCDecaux begann im Jahr 1955 als Geschäft ihres Gründers Jean-Claude Decaux zum Betrieb von Plakatwänden an französischen Autobahnen. Einige Jahre später führte die Firma das Konzept von Stadtmöblierung in Form von werbefinanzierten Bushaltestellen ein und expandierte seitdem in weitere Bereiche des Out-Of-Home-Advertisings.
Die Ströer-Gruppe wird verwaltet von der Ströer SE & Co. KGaA. Das Unternehmen, das heute als Holding für Dutzende Tochtergesellschaften fungiert, wurde 1990 von Udo Müller und dem bereits in der Außenwerbung tätigen Heinz Ströer gegründet. Als Marktführerin in der deutschen Außenwerbung ist die Ströer heutzutage in den meisten Städten des Landes omnipräsent. In einer Präsentation vom November 2024 gibt der Konzern an, mit ungefähr 1300 Gemeinden in Deutschland Verträge für die Außenwerbung zu haben. Auch mit 19 der größten 22 Städte hat er entsprechende Vereinbarungen, die Ausnahmen sind Nürnberg, Mannheim und ausgerechnet Berlin. In Berlin wird die Außenwerbung von der Wall GmbH betrieben, die zu JCDecaux gehört. In München besteht mit der Firma DSM Decaux GmbH eine Kooperation zwischen den Konkurrentinnen Ströer und JCDecaux.
In Hamburg lag das Werberecht auf öffentlichem Grund bis 1989 bei einer Firma, die vollständig der Stadt gehörte. Diese Firma, die Hamburger Außenwerbung GmbH, wurde dann an die Deutsche Städte Medien, damals noch unter anderem Namen, verkauft. Im Jahr 2004 kaufte schließlich Ströer die Deutsche Städte Medien.
Heute hat die Stadt Hamburg Vereinbarungen sowohl mit der DSM Deutsche Städte Medien GmbH, einer Ströer-Firma, als auch der Wall GmbH, einer JCDecaux-Firma. Die Stadt macht bislang nicht öffentlich, wie hoch die vertraglich geregelten Vergütungen sind. Aus Antworten des Hamburger Senats auf Anfragen der Bürgerschaft ergibt sich, dass die jährlichen Einnahmen aus den Werbeverträgen um die 30 Millionen Euro betragen. Im Jahr 2020 waren es fast 27 Millionen Euro, für 2022 wurde mit 32 Millionen Euro gerechnet. Verglichen mit den Gesamterträgen der Stadt von rund 21 Milliarden Euro im selben Jahr sind das etwas mehr als 0,1 Prozent, aber in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Olga Fritzsche aus dem Jahr 2021 erklärt der Senat: »Es handelt sich um ein für den Gesamthaushalt unverzichtbares Einnahmevolumen.«
Im Gegenzug sind Ströer und JCDecaux die alleinigen rechtmäßigen Betreiberinnen von Werbeanlagen auf öffentlichem Grund und dazu verpflichtet, sogenannten »Wildanschlag« unverzüglich zu entfernen. Werbeanlagen auf Privatgelände sind von dieser Regelung nicht betroffen.
Der Ströer-Konzern vermarktet auch Werbung in Anlagen und Verkehrsmitteln der Deutschen Bahn. Das betrifft auch die Hamburger Bahnhöfe sowie die Hamburger S-Bahn. Außerdem besitzt die Ströer gut 75 Prozent der Anteile an der Hamburger Verkehrsmittel-Werbung GmbH. Diese Firma vermarktet seit 1989 die Werbeanlagen bei der Hamburger Hochbahn, also in Bussen und U-Bahnen und an U-Bahn-Haltestellen. Bushaltestellen mit Werbung zählen hingegen als Stadtmöbel. Die Werbefirma finanziert, baut und besitzt die Bushaltestelle.
Auch in Einkaufszentren, Supermärkten, Gaststätten, Kiosken oder Universitäten kann man auf Werbeträger stoßen. Mit der Edgar Ambient Media Group gehört auch eine auf diesen Betriebsbereich spezialisierte Firma zum Ströer-Konzern.
Out-Of-Home-Advertising ist allgegenwärtig. Der Hamburger Senat gab im Jahr 2023 an, dass sich die Gesamtzahl der Werbeträger auf öffentlichem Grund in Hamburg seit dem Jahr 2008 um 21 Prozent reduziert habe. Dennoch scheinen viele Menschen den Eindruck zu haben, immer stärker mit Werbung konfrontiert zu werden. Eine Erklärung hierfür könnte die zunehmende Digitalisierung der Werbeträger sein.
Vielerorts werden Papierplakate durch Bildschirme ersetzt. Auf diesen Bildschirmen wird alle paar Sekunden eine neue Werbung angezeigt. Manchmal sind auch informative Inhalte darauf zu sehen. Viele Anzeigen sind animiert. Eine Bauprüfdienst-Anweisung der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen empfiehlt, dass der Motivübergang »ruhig und kontrastarm erfolgen« soll und wünscht sich einen Verzicht auf »animationsähnliche Einblendungen, wie sie z.B. aus PowerPoint Präsentationen bekannt sind«. Bindend sind diese Hinweise jedoch nicht und bei näherer Betrachtung der Werbebildschirme im öffentlichen Raum wird schnell klar, dass sie auch nicht eingehalten werden.
Sowohl Ströer als auch JCDecaux drängen stark Richtung Digitalisierung der Außenwerbung. Als Unterstützung während der Anfangszeit der Corona-Pandemie erhielten beide Firmen in Hamburg die Genehmigung, alle Werbeträger zu digitalisieren. Das Errichten digitaler Anlagen muss weiterhin für jeden Standort zuerst von der Stadt überprüft und genehmigt werden, doch die Anzahl der digitalen Werbebildschirme hat sich in den vergangenen Jahren merklich erhöht.
Laut Geoportal der Stadt Hamburg gibt es allein auf öffentlichem Grund inzwischen über 500 digitale Werbeanlagen, dazu kommen die zahlreichen neuen Bildschirme unter anderem in Unterführungen und an Bahnsteigen, die als Privatgelände zählen. Im Gegensatz zu Werbebannern im Internet kann man blinkende Außenwerbung nicht einfach blockieren. Ist es das, was digitales Out-Of-Home-Advertising so lukrativ macht?
Seit 60 Jahren ein internationales Erfolgsmodell: die werbefinanzierte Bushaltestelle. Bild: Claus-Joachim Dickow, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Lokaldatenkraken
Die Außenwerbebranche befindet sich inmitten einer Transformation. Plakate aus Papier sind zwar in der Masse billig herzustellen, aber sie sind auch statisch. Wenn das Plakat getauscht werden soll, muss das manuell geschehen. Spontanes Durchwechseln oder Zuschalten von Werbung sind ebenso undenkbar wie ein Bezug der Werbung auf das aktuelle Wetter.
Plakate durch Bildschirme zu ersetzen, hat für Werbetreibende – also die Firmen, deren Werbung letztlich auf dem Träger zu sehen ist – fast nur Vorteile. Die Kostenschwelle ist niedriger, es müssen nicht Hunderte Plakate produziert werden, bis der Druck sich rechnet. Außerdem kann die Werbung, so das Versprechen, genau zur richtigen Zeit an genau den Orten geschaltet werden, wo die erwünschte Zielgruppe sich aufhält. Das alles passiert vollautomatisch.
Die Ströer nennt digitales Out-Of-Home-Advertising ihr profitabelstes Produkt, das zudem noch die größte Wachstumsrate verzeichne. Auf seiner Webseite wirbt der Konzern mit den Möglichkeiten: Werbung soll sich abhängig von Wetterereignissen wie Regen oder Pollenflug ausspielen und auf bestimmte Uhrzeiten beschränken lassen, auch Besuchende von Veranstaltungen sollen gezielt angesprochen werden können.
In ihrem Halbjahresfinanzbericht 2024 schreibt Ströer, dass immer mehr Kunden die Möglichkeit der programmatischen Ausspielung von Werbung auf ihren digitalen Werbeträgern nutzen. Über dasselbe System wie beim Schalten von Online-Werbung kann Werbung auf digitalen Werbeflächen im Außenbereich, in Verkehrsmitteln oder in Geschäften bestimmte Zielgruppen anvisieren. Als Beispiele werden genannt: »Best Ager, Haushaltsführend, High Income, Singles, Familie mit Kleinkind, LOHAS [Anm..: Lifestyle Of Health And Sustainability], Modeinteressiert, Mieter, Sport & Fitness«. Auch JCDecaux bietet diese Form von Targeting an.
Sinn macht das alles, weil die bisherigen Träger für zielgruppenorientierte Werbung – Zeitschriften, Fernsehen und Radio – zunehmend an Bedeutung und Reichweite verlieren. Vieles hat sich ins Internet verlagert, auch die Werbung. Durch digitales Out-Of-Home-Advertising wird die Ästhetik der Werbebanner, die auf vielen Internetseiten und in vielen Apps zu sehen sind, dann zurück in die Offline-Welt gebracht. Die Ähnlichkeit ist aber längst nicht nur eine optische. Es werden dafür auch nach demselben System Verhaltens- und Bewegungsdaten verwendet, um genau zu bestimmen, wann und wo welche Marktsegmente – so die versachlichende Branchenbezeichnung für kategorisierte Menschengruppen – erreicht werden können.
Das System kennt den Kontext – Welche Geschäfte sind in der Nähe? Wie spät ist es? Wie ist das Wetter? – und es verwertet Daten darüber, wie das Publikum an jedem Standort zu jedem Zeitpunkt zusammengesetzt ist: Alter, Interessen, Einkommen, Familienstatus, unzählige weitere Kriterien.
Das kann man für einen Vorteil oder für einen Nachteil halten. Manche sehen darin ein Risiko für Manipulation, während andere dankbar sind, Werbung zu sehen, die sie auch interessiert. Wertungsfrei lässt sich aber eines sagen: Dieser gezielten Werbung zu entgehen, ist praktisch unmöglich. Wer sich durch den öffentlichen Raum bewegt, öffentliche Verkehrsmittel benutzt oder Geschäfte betritt, die solche programmatische Werbung schalten, ist dem Targeting automatisch ausgesetzt.
Bewegungsdaten sind das Geschäftsmodell
Die Vermarkter von Werbeflächen machen ihr bestes Geld, wenn sie die Werbung ihrer Auftraggeber richtig platzieren. Denn die werbetreibenden Firmen beobachten die Wirkung ihrer Kampagnen und schalten nur dann weitere Werbung, wenn diese erfolgreich sind. Deshalb versuchen die Vermarkter möglichst genau herauszufinden, an welchen Stellen sie zu welcher Zeit welche Zielgruppe erreichen können.
Ende 2012 verkündete die Ströer ihren Einstieg ins Online-Werbegeschäft. Seitdem hat der Konzern etliche Unternehmen aufgekauft oder selbst neu gegründet, die sich auf digitale Werbetechnologien spezialisieren. Dazu gehört etwa der Handel mit und die Analyse von personenbezogenen Daten zu Werbezwecken oder auch das Vermitteln von Online-Werbeplätzen auf Internetseiten über ein spezialisiertes Marktplatz-System (für die Fachleute: SSP/DSP).
Teil der Ströer-Gruppe sind beispielsweise die Firmen MBR Targeting, Yieldlove oder OS Data Solutions. OS Data Solutions wurde gegründet als Datenallianz zwischen der Ströer und der Otto Group Media, allerdings hat Otto das Unternehmen 2022 an die Ströer abgegeben.
Durch ihre zahlreichen Tochterunternehmen hat die Ströer-Gruppe ein stabiles Standbein in der Online-Werbebranche. Auch mehrere deutsche Medienplattformen haben Verträge mit der Ströer zur Werbeflächen- oder Datenvermarktung abgeschlossen, darunter etwa die Apotheken-Umschau, Duden.de oder die Taz. Das ist nicht ungewöhnlich, ist doch fast jede größere Internetseite zumindest zum Teil durch programmatische Werbung finanziert.
Wenn eine Person eine Internetseite oder eine App aufruft, auf der programmatische Werbung geschaltet wird, wird der Anzeigenplatz anhand der Daten, die über diese Person bekannt sind, innerhalb von Millisekunden an den höchstbietenden Werbekunden verkauft. Das nennt sich Real-Time-Bidding, also Echtzeitauktion. Global betrachtet ist Ströer im Vergleich zu Datenkraken wie Google, Facebook oder Amazon in dieser Branche ein Winzling. Was den Konzern jedoch hervorhebt, ist seine Allgegenwärtigkeit in deutschen Städten.
Partnerschaften mit Firmen, die Webseiten oder Apps betreiben, haben für den Ströer-Konzern noch einen zweiten Vorteil. Hierdurch kann der Vermarkter nämlich nicht nur Einnahmen durch das Vermitteln von Online-Werbeflächen generieren, sondern auch wertvolle Daten gewinnen. Denn Online-Werbung dient nicht nur dazu, uns möglichst viele bunte Werbebanner anzuzeigen, sondern auch dazu, Informationen über die Personen zu sammeln, denen die Werbung angezeigt wird: über ihren Standort in der echten Welt und über ihre Bewegungen im Internet, welche Inhalte sie sich anschauen, welche Suchbegriffe sie eingeben. All das gerne gebündelt mit der eindeutigen Werbe-ID, die auf Android-Handys und Iphones automatisch vergeben wird und jedes Gerät wiedererkennbar macht.
Der Ströer-Konzern zielt offenbar darauf ab, alles aus einer Hand zu bieten. Auf unzähligen Online-Plattformen vermarktet der Konzern Werbeflächen, darunter mehrere Plattformen, die dem Konzern selbst gehören. Dazu kommt der Echtzeit-Marktplatz für diese Werbeflächen sowie die auf Datenverarbeitung und Datenhandel spezialisierten Ströer-Firmen. Außerdem kaufte Ströer im Jahr 2016 den Kosmetikhersteller Asambeauty, seit 2015 gehört ihr die Hamburger Statistik-Plattform Statista.
Die Ströer-Werbeträger in der Stadt, an Bushaltestellen, in Bahnhöfen, in Bus und Bahn können für diese anderen Ströer-Unternehmen dann wieder Werbung machen – genau zur richtigen Zeit an genau den richtigen Orten. Das steigert einerseits natürlich die Bekanntheit der beworbenen Produkte, liefert aber gleichzeitig vermutlich auch viele nützliche Daten über die Wirksamkeit von Werbekampagnen.
Kurioserweise wirbt die Ströer in der letzten Zeit auf ihren Werbebildschirmen auch für den hauseigenen Grusel-Podcast »Schauerstoff«. Durch Anteile an der Firma Ad.Audio besitzt der Konzern auch in der Welt von Podcasts und Radio ein Standbein.
Die Werbebildschirme kommen offensichtlich nicht bei allen gut an.
T-Online, Watson.de und Facebook-Seiten
Anders als die Ströer konzentriert JCDecaux sich auf das Kerngeschäft: Out-Of-Home-Advertising. JCDecaux macht Flughafenwerbung, Werbung in Verkehrsmitteln, allgemeine Außenwerbung etwa mit Plakatwänden, Litfaßsäulen und Bushaltestellen. Weltweit betreibt der Konzern dieses Geschäft in mehreren tausend Städten.
Mancherorts betreibt JCDecaux einen Fahrradverleih. Auch das fällt unter »Stadtmöblierung«; das Leihfahrradangebot wird gerne mit Werberechtsverträgen gekoppelt. Außerdem bietet JCDecaux wie auch Ströer eine Plattform an, um Out-Of-Home-Advertising in Echtzeit und segmentbezogen zu buchen.
Der Ströer-Konzern hingegen ist inzwischen selbst zum Plattformbetreiber geworden. Im Jahr 2015 übernahm Ströer die Webseite T-Online und baute seitdem die Redaktion der Plattform deutlich aus. Bei der Firma, die in der Schweiz das Nachrichtenportal Watson betreibt, sicherte Ströer sich 2018 das vertragliche Recht, die Seite Watson.de aufbauen zu dürfen, die unabhängig von der Schweizer Redaktion arbeitet.
Ebenfalls von Ströer betrieben werden etwa Familie.de, Desired, Giga, Kino.de und Spielaffe. Viele dieser und weitere Plattformen werden mit Facebook-Seiten und anderen sozialen Medien verknüpft, auf denen vorrangig flache Memes und Links zu Beiträgen auf anderen Ströer-Plattformen gepostet werden. Zu Ströer gehören beispielsweise Seiten wie »Die Männer Seite«, »Die Frauen Seite«, »Chat von gestern Nacht«, »Unnützes Wissen«, »Stylevamp«, »Helden unserer Kindheit«, »Meine Orte« («Die schönsten Orte unserer Erde«), »Tierfans«, »Fußballfieber«, »Autoguru«, »Soundground« oder »Fun and News«, die häufig auch eine eigenständige Webseite haben. Der Betrieb der verschiedenen Social-Media-Seiten zu Werbezwecken durch die Ströer wurde in der Vergangenheit schon gelegentlich thematisiert, etwa als Buzzfeed im Jahr 2018 etliche Facebook-Seiten identifizierte, die Links zu Werbekunden posteten.
Mittlerweile dienen diese Seiten dem Anschein nach hauptsächlich dem Aufbau von Tracking-Profilen. Die von den sozialen Medien aus verlinkten Webseiten bieten die Wahl zwischen kostenfreier Nutzung mit Tracking und kostenpflichtiger Nutzung ohne Tracking. Dass nur die Allerwenigsten gleich ein Abo abschließen werden, um einen Artikel auf einer Seite zu lesen, von der sie noch nie gehört haben, ist wohl keine weit hergeholte Vermutung. Wenn dem Tracking zugestimmt wird, kann erfasst werden, von wo die Besuchenden auf die Seite gekommen sind. Daraus lassen sich Rückschlüsse über Identität und Interessen der Nutzenden ziehen und umfassende Profile erstellen.
Neben den schon genannten Plattformen betreibt Ströer mit StayFriends auch ein soziales Netzwerk für Klassentreffen und mit Lebensfreunde eine Partnerböse für Personen über 50. Alle dieser Dienste führen zwischen größeren Werbenetzwerken auch Ströer-Firmen als Werbepartner auf. Auch jede externe Seite, die das Ströer-System nutzt, um programmatische Werbung schalten zu lassen, gibt notwendigerweise Daten der Besuchenden an den Konzern weiter.
Diese Datensammelwut lässt sich einordnen als zielgerichtetes Bestreben, eine von den übermächtigen globalen Giganten der Werbetechnologie unabhängige, eigene Targeting-Datenbank zu bespeisen. Mit den Folgen des Werbetrackings beschäftigt sich auch die Berichterstattung zu den sogenannten »Databroker Files«. Unter diesem Schlagwort setzen Journalist*innen sich damit auseinander, wie sehr insbesondere auf Handys erfasste Standortdaten Einzelpersonen identifizierbar und angreifbar machen.
Die meisten Ströer-Plattformen, die im Rahmen dieses Berichts überprüft wurden, erfassen über die Verbindungsdaten den ungefähren Standort, angeblich auf den Postleitzahlbereich genau, und außerdem die Werbe-ID des Mobilgeräts. Beides wird laut Datenschutzvereinbarung an Werbepartner weitergegeben. Die T-Online-App fragt zusätzlich auch Zugriff auf den genauen Standort an, wenn die Wettervorhersage benutzt werden soll. Dass Wetter-Apps oft benutzt werden, um genau diese Standortdaten von Nutzenden zu erhalten und sie für Tracking zu benutzen, ist ein alter Hut.
Auf Nachfrage des Radio FSK, ob diese online durch die Plattformnutzung erhobenen Daten auch für die Optimierung von Out-Of-Home-Advertising verwendet werden, hat die Ströer bis zur Veröffentlichung nicht geantwortet.
Das nennt man dann wohl »Synergie«
Digitale Werbebildschirme werden gern auch »Infoscreen« oder »Stadtinformationsanlage« genannt, da dort neben Werbung auch nützliche Hinweise wie Wettervorhersagen, Nachrichten oder Katastrophenwarnungen angezeigt werden können.
Diese Vermischung von Werbung und Information ist allerdings nicht ohne Kritik. »Für Betrachter:innen ist nicht unbedingt erkennbar, ob es sich bei den Inhalten um amtliche Mitteilungen, privatwirtschaftliche Werbung oder Kampagnen der Betreiberfirmen handelt«, steht im Text einer kleinen Anfrage der Linken-Abgeordneten Heike Sudmann an den Hamburger Senat aus dem Jahr 2022.
Mit näherer Betrachtung der angezeigten Inhalte lässt sich dieser Eindruck schnell bestätigen. Nicht immer ist klar, ob es sich bei einer Anzeige um eine Information oder um eine Werbung handelt, durch eingeblendete Logos erhalten auch die Informationen einen Werbecharakter. Auf die keine Anfrage antwortete der Hamburger Senat, dass die zur Ströer gehörende Deutsche Städte Medien auf ihren »Infoscreens« im öffentlichen Raum zu ca. 50 Prozent kommerzielle Inhalte anzeige. Eine Nachfrage des Radio FSK, wie dieser Wert zustande kommt, hat die Firma nicht beantwortet.
Fraglich ist er, weil viele der Inhalte, die von Betrachtenden als informativ interpretiert werden, von Ströer-eigenen Anbietern stammen, deren Logos stets gut sichtbar darauf platziert werden. Zwischen der gebuchten Werbung von Drittanbietern erscheinen immer wieder Schlagzeilen von T-Online, Quiz und Statistiken mit Statista-Logo, Nachrichten von Watson.de, Wettervorhersagen »powered by t-online« oder Inhalte anderer Ströer-Plattformen wie Kino.de, Giga oder Familie.de. Die genaue Mischung variiert je nach dem, wo der Screen betrieben wird. In der S-Bahn gibt es mehr Informationen von der Deutschen Bahn und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk als von Ströer-Plattformen, während im Außenbereich die hauseigenen Plattformen oft die einzigen »informativen« Sequenzen beisteuern. Denkbar, dass Ströer hierbei auf »image- und absatzfördernde Effekte von Branded Content« abzielt.
Das »Hanseatic Trade Center« in Hamburg, Sitz mehrerer Ströer-Firmen.
Wem gehören unsere kollektiven Daten?
Zusätzlich zu physikalischen Werbeträgern, diversen Online-Plattformen und einem Echtzeit-Marktplatz-System für Online-Werbung betreibt die Ströer-Gruppe Callcenter, Agenturen, Vertriebs- und IT-Dienstleister, bespielt Seiten in den sozialen Medien mit Inhalten, gibt selbst redaktionelle und Unterhaltungsmedien heraus, stellt Kosmetikprodukte her und bietet Statistiken und Zahlen in Form von »Data As A Service« an.
Rentabel sind die Geschäftszweige alle. Im Geschäftsbericht für das Jahr 2023 gibt die Ströer für das Segment »Out-Of-Home Media« einen Verdienst (EBITDA) von knapp 400 Mio. Euro an. Mit dem Online-Werbegeschäft und der programmatischen Vermarktung wurden zusammen über 150 Mio. Euro erwirtschaftet. Statista und Asambeauty bildeten mit rund 50 Mio. Euro EBITDA den kleinsten Geschäftszweig des Konzerns.
Aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Segmente ergibt sich ein selbstverstärkendes Gesamtkonzept. Die Ströer macht Werbung für die eigenen Plattformen, verkauft auf diesen Plattformen Werbeflächen und »Native Advertising«, also Werbung, die sich nahtlos in die Seite einfügt; durch die Plattformen sammelt sie dann Nutzungs- und Trackingdaten, die vermutlich wiederum für das gezielte Ausspielen der Werbung benutzt werden.
In einer Intro-Präsentation zu OS Data Solutions findet sich die Angabe, die Ströer-Gruppe erreiche mit ihren Daten aus erster Hand über 50 Millionen Individuen. Doch die Ströer verwendet nicht nur die eigenen Daten. OS Data Solutions wirbt mit einer Partnerschaft mit Xing, durch dessen Daten eine »höchste Targetingqualität« möglich sei, sowie mit »Intent-Daten aus dem Bereich Automotive« von Mobile.de. In der Präsentation zum 3. Quartalsbericht 2024 erwähnt Ströer eine Partnerschaft mit dem Mobilfunknetzbetreiber Telefónica, von dem sie Bewegungsdaten erhält. Diese Partnerschaft wurde durch eine Datenschutzanfrage bei Telefónica bestätigt. Eine vergleichbare Datenpartnerschaft mit der Telekom erwähnte Ströer 2023 in einer Pressemitteilung zu Targeting. Ob ein solches Abkommen auch mit Vodafone besteht, ist unbekannt. Alle großen Mobilfunkanbieter in Deutschland sammeln Bewegungsdaten und geben sie ohne Einwilligung der Kund*innen weiter. Auf die Zustimmung wird verzichtet, da es sich laut Angabe der Anbieter um vollständig anonymisierte Daten handele. Bei Telefónica und Telekom kann dennoch Widerspruch eingelegt werden.
Eigentlich ist es dank europäischer Datenschutzgesetze verboten, voneinander unabhängige Datensätze mit personenbezogenen Daten ohne informierte Einwilligung der Betroffenen miteinander zu vermischen. Doch die Werbebranche kennt hier einen Trick.
OS Data Solutions bietet auch sogenannte Data Clean Rooms (DCR) an, also Datenreinräume. Das bezeichnet einen Prozess, der mit dem labortechnischen Konzept eines Reinraums nichts zu tun hat. In einem DCR vermischen Parteien, die ihre erhobenen Daten eigentlich nicht miteinander teilen dürfen, ihre Datensätze. Das System zieht aus diesen Daten dann Schlussfolgerungen über Marktsegmente statt über Einzelpersonen.
Die Prozedur wird als datenschutzrechtskonform beworben, da es nicht möglich sein soll, die ursprünglich eingegebenen Daten wieder herauszuholen. Die Parteien können die Individualdaten der jeweils anderen Parteien demnach nicht einsehen, sondern nur auf die aggregierten, zusammengefassten Resultate zugreifen, die keine Rückschlüsse mehr auf einzelne Personen zulassen sollen.
Ein ausgedachtes Beispiel zur Veranschaulichung: Wenn eine der Parteien weiß, dass Klaus, Gabi, Holger und Annette die Werbe-IDs 101, 102, 103 und 104 besitzen und jeden Tag zwischen 17 und 18 Uhr von der Innenstadt zum Hauptbahnhof laufen, und die andere Partei weiß, dass vier Personen mit den Werbe-IDs 101, 102, 103 und 104 in letzter Zeit Babykleidung und Schwangerschaftsprodukte geshoppt haben, dann wird daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass werdende Eltern besonders häufig zwischen 17 und 18 Uhr von der Innenstadt zum Hauptbahnhof laufen. Über Klaus, Gabi, Holger und Annette als Individuen soll das System keine Angaben machen können.
»Wir vereinen die Daten von Deutschlands größtem Digital Vermarkter Ströer, führendem Job-Netzwerk XING, größtem Online Fahrzeugmarkt mobile.de sowie dem exklusiven PAYBACK Panel«, schreibt OS Data Solutions auf ihrer Webseite. »Auf Basis von über 50 Millionen Profildaten werden mit den Zielgruppen mehr als 80% von insgesamt 61 Millionen aktiven Usern im deutschen Markt erreicht.«
Anonymisierte Daten über ganze Gruppen unterliegen keinen Datenschutzgesetzen. Es gibt auch zunehmend weniger Möglichkeiten, sich der Erfassung von Daten zu entziehen. Wenn bereits die Mobilfunkanbieter Bewegungsdaten erfassen und zu Werbezwecken weitergeben – »datenschutzrechtskonform« – und wir durch den zunehmenden Digitalzwang nicht einmal mehr auf das Schnüffelgerät in der Hosentasche verzichten können, wird es immer schwieriger, sich gegen die Durchleuchtung zu wehren. Schon jetzt sind die Einschränkungen eines Lebens ohne Google- oder Apple-Account enorm, doch die sogenannte »Wahl mit dem Geldbeutel« erweist sich vollends als nichtexistent, wenn man sogar ohne Zustimmung zum Produkt gemacht wird.
Wie gläsern Individuen durch Werbetracking werden, ist wohl den Wenigsten wirklich klar, wenn sie genervt auf »Akzeptieren & weiter« klicken. Anzweifeln lässt sich auch, ob diese Einwilligung, wie nach Datenschutzgesetzen erforderlich, wirklich informiert ist, wenn auch nach vollständiger Lektüre der Datenschutzvereinbarung und Durchsicht aller angegebener »Partner« nicht nachvollziehbar ist, welche Rückschlüsse aus den Daten gezogen werden und an welchen Stellen die Erkenntnisse wofür verwendet werden.
Aber sogar dann, wenn man davon ausgeht, dass eine perfekte Anonymisierung erreichbar ist und angewendet wird, stellt sich immer noch die Frage, was wir davon halten, dass unsere gesamte Gesellschaft zunehmend überwacht, durchleuchtet und im Ganzen analysiert wird – zumal all das dem alleinigen Zweck dient, unsere Konsumentscheidungen so effektiv wie möglich beeinflussen zu können. Datenschutzgesetze erfassen lediglich das Recht von Individuen an ihren eigenen Daten. Wem aber gehört das Recht an unseren kollektiven Daten?
Technisch gesehen Vandalismus, aber vielleicht trotzdem als künstlerischer Ausdruck zu verstehen. Foto nicht von mir, verwendet mit Genehmigung, alle Rechte vorbehalten.
Branchentypisch und legal
Im Vergleich mit der restlichen Branche ist das, was der Ströer-Konzern macht, nichts Besonderes. Er kauft oder gründet Firmen, die sich gegenseitig bei ihren Geschäften unterstützen. Werbung wird gezeigt, wenn sie dem Kodex des Werberats entspricht und der Auftraggeber dafür bezahlt – ob das nun eine Supermarktkette ist mit Werbung für die Supermarktketten-App oder ein dubioser Gönner mit einer Großkampagne für die AfD.
Was an Datenerfassung und Datenhandel rechtlich möglich ist, wird vollständig ausgereizt. Doch obwohl der Konzern selbst angibt, über Daten von einem Großteil der deutschen Bevölkerung zu verfügen, backt die Ströer besonders im globalen Vergleich zu Google, Facebook oder Amazon immer noch sehr kleine Brötchen.
Was fehlt, ist die Wahlfreiheit. Einerseits werden Werbung und Information auf intransparente Art und Weise vermischt, indem Nachrichten und andere Inhalte von konzerneigenen Plattformen prominent angezeigt werden. Andererseits werden wohl die wenigsten Menschen damit rechnen, dass ihre online erhobenen Daten genutzt werden, um sie im physikalischen Raum, außerhalb ihrer eigenen Geräte, gezielt anzusprechen.
2023 gab Ströer in einer Pressemitteilung bekannt, dass sie mit ihrem Out-Of-Home-Advertising 81% der deutschen Bevölkerung erreiche. Die Ströer schreibt selbst: »OOH is the only Media that is unavoidable«. Und das stimmt, denn die Werbung verfolgt uns im Bus, im Bahnhof, auf der Straße und im Kiosk, und sie weiß, wann und an welchem Ort es am wahrscheinlichsten ist, Menschen wie uns anzutreffen. Dann wird sie uns genau das richtige Angebot machen – zehn Sekunden lang. Das ist nicht lang genug, um das Kleingedruckte zu lesen (auch nicht, um es zum Späterlesen zu fotografieren), sondern gerade lang genug, um durch beiläufige Aufmerksamkeit eine Markenassoziation zu bilden.
Die Firmen, die diese Werbeplattformen betreiben, haben Kontrolle über einen spürbaren Teil unseres Alltags, ohne dass wir es bemerken und ohne dass wir es verhindern können. Es bleibt die Frage, ob wir als ungefragtes Publikum damit einverstanden sind.
Auch die Städte stehen in der Pflicht, ihre Bürger*innen darüber zu informieren, welche Technologien im öffentlichen Raum eingesetzt werden. Politik muss im Interesse der Bevölkerung handeln, doch dafür muss die Bevölkerung zuerst die Möglichkeit bekommen, sich eine Meinung zu bilden. Durch den zunehmenden und mittlerweile umfassenden Einsatz von Targeted Advertising hat sich das Konzept von Außenwerbung fundamental verändert. Ein informierter, faktenbasierter Diskurs in Gesellschaft und Politik über die neuen Bedingungen ist überfällig.
Themen: qualitätstext, digital, infodump, datenschutz
Mehr Steine als Weg: Wie kranken Menschen der Zugang zu Unterstützung systematisch verwehrt wird
Foto von einer Liegenddemo für Versorgung von ME/CFS-Erkrankten im August 2024
Juni 2024. Nach monatelanger Wartezeit findet endlich der Termin bei meiner neuen Hausärztin statt. Sie hat die Praxis übernommen; wir kennen uns noch nicht. Seit Frühjahr geht es mir wieder schlechter, ich kann meinen Alltag nicht mehr bewältigen, obwohl ich schon lange berentet bin. Was mir fehlt, weiß ich noch immer nicht, aber ich weiß, dass meine Symptome sich verstärken, wenn ich mich anstrenge.
Anfangs gibt die Ärztin sich verständnisvoll, doch sie weiß nicht, wie sie mir helfen soll. Ich sage so etwas wie: »Eigentlich brauche ich einen aktuellen Arztbericht, der letzte ist von 2017«, weil ich wie früher schon einmal Haushaltshilfe beantragen möchte und weiß, dass ich ohne einen medizinischen Nachweis nichts bekommen werde.
Mit dieser Bitte beginnt das mühsame Verständnis zu zerfallen. Die Allgemeinärztin möchte mir weismachen, ich hätte eine leichte bis mittelschwere Depression, nur eben ohne Gemütstrübung, womit es per Definition keine Depression sein kann. Ab dem Punkt weiß ich eigentlich schon, dass ich hier keine Hilfe bekommen werde, doch ich sitze in dem Gespräch fest. »Ich glaube, dass man sich da langsam steigern muss«, befindet die Medizinerin; es reicht wohl nicht, dass ich das jahrelang versucht habe. Dass ich nach Überanstrengung so schwach werde, dass ich kaum ein Wasserglas hochheben kann, diagnostiziert sie als Dekonditionierung: »Das ist klar, dass man immer schwächer wird, wenn man immer weniger macht.« Angeblich hätte ich Angst, dass meine Symptome auftreten könnten und würde deshalb Aktivität vermeiden.
Nach minutenlangem Hin und Her, in dem ich nur noch aus Trotz widerspreche, kommt der Satz, der jede Grenze des guten Benehmens und der wissenschaftlichen Evidenz überschreitet: »Man kann sich selbst zu einem Krüppel im Bett mutieren.« Danach kommen weitere Sätze, die ich nicht mehr höre. Ich sehe, wie sich ihr Mund bewegt, doch ich höre nur noch Rauschen in meinen Ohren. Ich stehe auf und teile ihr mit, dass ich mir jemand anderen suchen werde, wünsche einen schönen Tag und gehe. Zum Abschied nennt die Ärztin meinen Nachnamen, betont extra noch das »Herr« davor, um zu demonstrieren, dass sie immerhin meine Transidentität respektiert. Ich tippe noch auf dem Heimweg ein paar der Sätze, die meine ehemalige Hausärztin von sich gegeben hat, in mein Handy. Warum habe ich es überhaupt versucht? Ich weiß doch, dass ich nicht die Kraft habe, für Unterstützung und Teilhabe zu kämpfen.
Diese Geschichte ist nichts Besonderes. Wo auch immer chronisch kranke Menschen sich austauschen, beschreiben sie ähnliche Erfahrungen. Inzwischen ist auch in der breiteren Gesellschaft bekannt, dass es schwer sein kann, in medizinischen Kontexten ernstgenommen zu werden. Doch ausgerechnet das ist die Voraussetzung dafür, um sich überhaupt für Leistungen zur Versorgung und Teilhabe zu qualifizieren. Die Voreingenommenheit, Fehlinformation und Schuldzuweisungen begegnen Hilfesuchenden jedoch nicht nur in Arztpraxen. Bei jedem einzelnen Schritt werden ihnen Steine, nein, Felsbrocken in den Weg gelegt.
In Medien fallen Schlagworte wie »Pflege in der Krise« oder »Versorgungsnotstand«: Personen mit unstrittigem Bedarf an medizinischer Versorgung und Pflege erhalten diese oft nicht oder in mangelhafter Qualität. Aus dem eigenen Leben weiß man, wie schwer es sein kann, fachärztliche Termine oder Psychotherapie zu bekommen. Weniger bekannt ist das große Feld von Unter- und Nichtversorgung von Personen, die dringend Hilfe brauchen und keine bekommen. Teilweise können diese Menschen sich noch mit einem Job irgendwie über Wasser halten, andere sind den größten Teil ihres Tages bettlägerig und können die eigene Grundversorgung nicht ohne Hilfe stemmen.
Menschenwürde und Lebensqualität sind für zahllose kranke und behinderte Personen immer noch Wunschträume, obwohl sich eigentlich viel getan hat. Von staatlicher Seite wurde zum Beispiel durch das Persönliche Budget, die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention, die Förderung der Teilhabeberatung, durch Eingliederungshilfe und das Bundesteilhabegesetz versucht, die Möglichkeiten zu erweitern. Doch die Diskriminierung ist in unserer Gesellschaft so tief verankert, dass diese Verbesserungen bei manchen Gruppen einfach nicht ankommen.
Stell dir vor, du bist behindert und niemand glaubt es dir
Nach dem Termin im Sommer habe ich mich nicht weiter um das Thema Haushaltshilfe gekümmert. Genau wie in den Jahren davor habe ich den Aufwand für das Erstreiten größer eingeschätzt als die erreichbare Entlastung. Und bis auf zwei, drei Stunden Hilfe pro Woche hatte ich ja schon alles: Arbeitsunfähigkeit und Schwerbehindertenausweis hatte ich mir schon vor Jahren erkämpft.
Doch so geht es nicht allen. Eigentlich soll der Schwerbehindertenausweis Zugang zu Nachteilsausgleichen für die Behinderung ermöglichen. Tatsächlich ist das Vorhandensein einer Behinderung dafür lange nicht ausreichend; man muss sie diagnostizieren, dokumentieren und behandeln lassen und sich im Anschluss mit dem Versorgungsamt einen Streit darüber liefern, ob diese Behinderung nun bei aller Dokumentation wirklich existiert oder nicht.
So berichtet es auch Robert aus Wiesbaden, der versucht hat, einen angemessenen Grad der Behinderung (GdB) zu erhalten. Ich kenne Robert nicht persönlich. In meinem privaten Umfeld sehe ich viele ähnliche Geschichten, aber ich halte es nicht für sehr seriös, einen langen Text nur über die Probleme meiner Freund*innen zu schreiben. Darum habe ich, wie man das heute so macht, auf den sozialen Medien nach weiteren Erfahrungsberichten gefragt.
Robert beschreibt seine Lage kurz und knapp mit den Worten: »Amtlich auf Papier noch zu fit für Ansprüche.« Bei der Feststellung des GdB wurde seine »psychosomatische Schmerzstörung aus dem Jahre 2014/2015 […] direkt mit 20 eingestuft«, schreibt er, und weiter: »Meine Depression wurde in die Schmerzstörung eingerechnet«. Er sei so gering eingestuft worden, weil keine Befunde zu Krisen vorlägen und er keine längeren stationären Aufenthalte gehabt habe. Warum er das ungerecht findet: »Der Umstand, dass ich mich wirklich nach besten Mitteln und Wissen durch den Alltag zur Arbeitsfähigkeit kämpfe, bleibt hier absolut außen vor.«
»Dann kam die Pandemie mit Corona und seit meine[r] ersten Infektion Dez. 2023 habe ich nun PostCovid«, erzählt er, und dadurch habe er auch »Fatigue/Brainfog mit Verdacht auf ME/CFS mit positivem Screening auf PEM«. Fatigue ist ein starker Erschöpfungszustand; der Begriff Post-exertionelle Malaise (PEM)) beschreibt, dass sich nach jeglicher Anstrengung erhebliche Krankheitssymptome einstellen. PEM und Fatigue sind Kernbestandteile der Krankheit ME/CFS, um die es hier auch später noch gehen wird. »Mein Mann übernimmt daher sämtliche Carearbeit als Hauptverdiener und in 40h Arbeit«, berichtet Robert weiter. »Kochen konnte ich vor COVID nicht immer ohne Symptome, da ich nicht immer so lange stehen kann ohne Schmerzen, seit COVID helfe ich an guten Tagen nur noch beim Schneiden«.
Zum Job schreibt er: »Ich arbeite aufgrund meiner Gesundheit nur noch 30h die Woche«, möglich seien ihm bei viel Flexibilität und voller Remote-Arbeit 2-3 Stunden symptomfreies Arbeiten. »Ich mach das jedoch sehr gerne«, erklärt er, »meine Gesundheit ist hier nur leider mein größerer Gegner.« Für die Hilfsbereitschaft seiner Kolleg*innen ist er dankbar, und dennoch muss er für sich selbst einstehen: »Ich kläre für eine bessere Situation ehrenamtlich mein ganzes Berufsumfeld über meine Krankheiten auf.«
Auf einen Termin bei der Long-Covid-Ambulanz in Wiesbaden wartet Robert bislang vergebens. Im Spätsommer habe er nachgefragt und erfahren, dass seine Überweisung von Mai noch nicht bearbeitet wurde. Einen Pflegegrad habe er gar nicht erst beantragt, denn er geht nicht davon aus, eine Einstufung zu erhalten: »Wenn wir eine bekommen würden, dann vermutlich nur mit ausreichenden Kenntnissen zum [Sozialgesetzbuch] und Erstreiten des Rechts – wofür ich keine Kraft habe.« Die Infektionslage in Deutschland stellt eine weitere Hürde dar: »Dazu holen wir uns bei Pflege und Hilfe immer das Risiko mit ins Haus, erneut COVID zu bekommen, was insbesondere für mich stark gefährdend wäre.«
So bleiben Robert und sein Mann mit der Situation weitestgehend allein. Der Ton seitens der Behörden belastet ihn merklich: »Es wird immer davon ausgegangen, dass ich als Bürger mir etwas erschleichen will«. Er habe nie gedacht, dass es so schlecht aussieht für Betroffene: »Auch ich habe mal gedacht, zusammenreißen und nur viel leisten, [das] bewahrt vor solchen Schieflagen.« Was er sich wünscht? »Ernsthafte Solidarität in der Gesellschaft, die auch in einem Handeln mündet. Jeder kennt die Missstände, alle haben Sorgen, nur niemand fordert das System heraus.«
Stell dir vor, du bist behindert und niemand kann deine Behinderung richtig bewerten
Und was ist mit Menschen, die einen höheren Hilfebedarf haben? Wer sich nicht mehr selbst versorgen kann, bekommt auch Hilfe, oder?
Wer krank wird, erhält nicht eines Tages eine hübsche Broschüre und eine Schulung zu Leistungsansprüchen. Kranke Menschen wissen nicht mehr als der Rest, und wer unter den Lesenden, die sich nicht aus beruflichen Gründen mit dem Thema auskennen, weiß schon, was der Unterschied zwischen Pflege, Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe und Persönlichem Budget ist und unter welchen Umständen worauf ein Anspruch besteht? Die Pflege ist wohl den meisten noch ein Begriff. Wer erstmalig Hilfe braucht, setzt oft dort an.
Als es mir gesundheitlich am schlechtesten ging, das war 2016 oder 2017, habe auch ich zuerst einen Pflegegrad beantragt. Ich kam kaum noch aus dem Haus, schaffte die Treppen oft nur auf allen Vieren, konnte mich nur alle ein bis zwei Wochen duschen und hatte große Schwierigkeiten, meine Wohnung sauber genug zu halten, um ungehindert vom Bett bis aufs Klo zu kommen.
Die Feststellung eines Pflegegrades erfolgt anhand von Modulen. Bewertet werden Bewegungsfähigkeit, Orientierung und Kommunikationsfähigkeiten, Problemverhalten, Selbstversorgung (Körperpflege, Toilettengang, Nahrungsaufnahme), Unterstützungsbedarf bei medizinischer Versorgung sowie Alltagskompetenzen. Nicht berücksichtigt werden außerhäusliche Aktivitäten und Haushaltsführung; die Pflegekasse ist für Aufräumen, Einkaufengehen und Kochen nicht verantwortlich. Jedes der Module wird einzeln bewertet und die Punkte zu einem Gesamtwert verrechnet. Genau nachlesen kann man das alles in den Richtlinien des Medizinischen Dienstes Bund zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit.
Das Bewertungsschema ist für viele Fälle nicht klar definiert. Ist es unselbständig, wenn ich mich selbständig waschen kann, nur eben zu selten? Wie werden Tätigkeiten bewertet, die ich ohne Hilfe ausführen kann, aber nicht ohne einen Preis in Form von Schmerzen oder verstärkten Symptomen zu bezahlen? Was ist mit Dingen, die auch mit Hilfe nicht möglich wären, weil ich einfach zu krank dafür bin – hat mein Körper dann selbständig entschieden, sie bleiben zu lassen? Wenn die Häufigkeit medizinischer Versorgung angegeben werden soll, wie wird Versorgung bewertet, die dringend stattfinden müsste, aber ohne Unterstützung nicht kann?
Der Medizinische Dienst steht in der Pflicht, Richtlinien zu schaffen, mit denen solche Krankheitsbilder korrekt bewertet werden können. Auf Anfrage gibt dieser an: »Es geht immer um die Bewertung der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten in den Modulen des Begutachtungsinstruments.« Zu medizinischer Versorgung, die ohne Unterstützung nicht stattfinden kann, verweist er auf Hausbesuche, erklärt aber auch, es sei »der erforderliche Hilfebedarf zu bewerten, sofern dieser regelmäßig und auf Dauer erforderlich ist.« (Link zum Volltext der Stellungnahme)
Die Erfahrung zeigt, dass Pflege- und andere Bedarfe nur selten ohne Nachweise und Arztberichte anerkannt werden. Dies streitet der Medizinische Dienst ab: »Der pflegerische Hilfebedarf wird nicht ausschließlich und in erster Linie über medizinische Fremdbefunde festgestellt. Diese können Teil der Informationssammlung bei der Pflegebegutachtung sein. Es hängt immer vom individuellen Einzelfall ab, ob zusätzlich zur Befunderhebung durch die Gutachterin oder den Gutachter weitere medizinische oder therapeutische Berichte erforderlich sind, um den Grad der Selbstständigkeit einschätzen zu können.« Ein solcher Fall ist in den Richtlinien nicht beschrieben, dort wird lediglich erwähnt, dass »Beginn und Verlauf der Erkrankungen, die ursächlich für die gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind, zu schildern« sind. Wie das gehen soll, wenn die Erkrankungen nicht diagnostiziert oder bekannt sind, bleibt fraglich.
Ohne klare, passende Richtlinien wird den Begutachtenden ein großer Interpretations- und Ermessensspielraum eingeräumt. Bei meiner eigenen Begutachtung wurde über die Folgen des selbständigen Ausübens meiner Selbstversorgung großzügig hinweggesehen und ich erhielt am Ende den niedrigsten Pflegegrad.
Medizinische Berichte, Anträge, Ablehnungen, Klagen, Gutachten – da kommen oft mehrere Kilo Papier zusammen. Kein Symbolbild, sondern echtes Foto von echten Unterlagen.
Stell dir vor, du bist behindert und du kannst es beweisen und du bekommst trotzdem keine Hilfe
Dass sogar einschlägige Diagnosen nicht zu angemessener Bewertung des Pflegebedarfs führen, berichtet MeckerMutti, die bei ihrem Online-Pseudonym genannt werden möchte und sich ebenfalls auf meine Anfrage gemeldet hat. Wie Robert ist auch sie aus Notwendigkeit zur Aktivistin geworden. Ihre Profile auf den sozialen Medien sind voller Informationslinks zu ME/CFS und Hashtag-Kampagnen. »Psychohygiene betreibe ich mit meinem Aktivismus«, schreibt sie mir. »Mit anderen zu teilen, was ich erlebe, was ich herausfinde, was nutzen oder helfen kann. Laut zu werden gegenüber Politik und den Verantwortlichen.«
ME/CFS ist eine Erkrankung, deren Hauptsymptom eine knochentiefe Erschöpfung ist, die sich durch Anstrengung verschlimmert. Dass die Versorgungslage von Personen mit ME/CFS dramatisch ist, ist inzwischen ebenso bekannt wie die Tatsache, dass es sich um eine körperliche Erkrankung handelt, die unter anderem durch eine Corona-Infektion ausgelöst werden kann.
Auch MeckerMutti hatte Schwierigkeiten, die richtige medizinische Versorgung zu finden. »Meine damalige Hausärztin hat mir lediglich ein Multivitamin-Präparat verordnet und, wie ich später feststellen musste, diverse Psycho-Diagnosen verpasst.« Später habe ein anderer Arzt ihr die Diagnose Neurasthenie gestellt, eine Diagnose aus dem späten 19. Jahrhundert, die als überholt gilt und im 2018 veröffentlichten ICD-11 nicht mehr vorhanden ist. In Deutschland wird noch das ICD-10 von 1994 verwendet.
»Ich habe mich dann für einen Termin in der Covid-Ambulanz Ulm angemeldet, der Ende Februar 2023 stattfand«, erzählt MeckerMutti. Dort wurde sie mit ME/CFS diagnostiziert. Ihren derzeitigen Hausarzt beschreibt sie positiver: »Ich bringe ihm Informationen und wir beraten, was für mich einen Nutzen bringen könnte.« Zusätzlich war sie in einer neurologischen Ambulanz, hat zahlreiche Tests über sich ergehen lassen, obwohl sich durch die Belastung ihr Zustand verschlechtert: »Weitere Diagnostik kann ich nicht mehr betreiben, da dies jedes Mal zu einem Crash führt«. Ein sogenannter Crash ist eine auf Überlastung folgende massive Verstärkung der Symptome, die Tage oder Wochen andauern und sogar dauerhaft bleiben kann. Die einzige bekannte Methode, um einen Crash zu verhindern, ist Pacing, also ein kontrolliertes Einteilen und Reduzieren des Aktivitätslevels, um die Überlastungsschwelle niemals zu überschreiten.
Die zweimal bestätigte Diagnose sollte zusammen mit MeckerMuttis schwerer Symptomatik eigentlich ausreichen, um die nötige häusliche Versorgung zu erhalten. »Bell 20«, beschreibt sie ihren eigenen Zustand. Die Bell-Skala ist ein System, um den Schweregrad von ME/CFS zu bewerten. Eine 20 auf dieser Skala bedeutet eine schwere Beeinträchtigung, die jegliche Belastung zu einer Tortur macht. Erkrankte mit diesem Funktionswert können nur selten das Haus verlassen und sind die meiste Zeit bettlägerig. Gepflegt wird MeckerMutti vor allem von ihrem Mann, den sie gern entlasten würde: »Ich mache mir Sorgen, dass er irgendwann aus den Latschen kippt.«
Der Medizinische Dienst, der für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit zuständig ist, sieht das anders. Im Januar 2024 beantragt MeckerMutti einen Pflegegrad. »Hierzu habe ich im Vorfeld der Begutachtung eine Info-Mappe nach den Empfehlungen der Fatigatio e.V. [Link: Fatigatio] an die Pflegekasse geschickt«, berichtet sie. »Dort waren alle Diagnosen enthalten, Erläuterungen zu ME/CFS und PEM, ein Pflegetagebuch und eine Selbsteinschätzung«. Nach jener dürfte sie Pflegegrad vier haben. Damit hätte sie Anspruch auf Pflegedienststunden im Wert von 1778 € – also Pflege mehrmals die Woche oder täglich.
Doch einen Monat nach Antragstellung erhält sie den Bescheid: Pflegegrad eins. Das bedeutet einen Entlastungsbetrag von 125 €, der maximal für vier Stunden monatlich reicht und nicht ausgezahlt werden kann. »Das Gutachten ist von vorne bis hinten voller Lügen«, beanstandet MeckerMutti. »Ich könnte arbeiten, Treppensteigen und vieles mehr völlig selbständig tun.« Dabei kann sie nur noch in Innenräumen zehn Meter mit dem Rollator gehen: »Für Wegstrecken außerhalb und darüber hinaus benötige ich einen Elektro-Rollstuhl.« Bei der Begutachtung sollte sie demonstrieren, wie sie aufsteht, musste den Versuch jedoch aufgrund starker Schmerzen abbrechen. »Ich lag etwa 50 Minuten der Begutachtung still im Bett, nach dem gescheiterten Aufstehversuch mit Schlafmaske.«
In Bezug auf die Begutachtungsrichtlinien und die Fachkenntnisse der Begutachtenden sieht der Medizinische Dienst weder Handlungsbedarf noch Probleme und schreibt: »Die Auswirkungen von ME/CFS können auch im Rahmen der aktuell gültigen Begutachtungs-Richtlinien angemessen berücksichtigt werden«. Und weiter: »Zusätzlich haben die Gutachter fachliche Grundlagen und Schulungen zu ME/CFS erhalten.«
Das Pflegegutachten, das über MeckerMutti erstellt wurde, macht diese Aussage zumindest fragwürdig. Es enthält interessante Empfehlungen zur Verbesserung ihrer Situation wie beispielsweise Rehabilitationssport, Miteinbindung eines Psychiaters sowie Gedächtnistraining durch Memory oder Brettspiele. Auch gibt das Gutachten an, dass ihre Selbständigkeit durch Therapiemaßnahmen und Medikation verbessert werden könnte. Für ME/CFS gibt es keine Medikamente und keine kausalen Therapien. Einige Studien belegen Wirksamkeit von Verhaltenstherapie, doch eine Wirkung, die über das Vermitteln von Pacing-Strategien und emotionale Unterstützung hinausgeht, ist umstritten.
Es ist nichts Neues, dass ME/CFS und ähnliche Krankheiten psychologisiert und nicht ernstgenommen werden. MeckerMutti legt Widerspruch ein, erhält im Juni eine Ablehnung nach Aktenlage und ohne detaillierte Begründung für den Verzicht auf eine erneute Begutachtung. Ein weiterer Widerspruch wird ebenfalls abgelehnt, es bleibt die Klage als letzte Option. MeckerMutti schreibt, all das sei »ohne Unterstützung eine enorme Belastung, ohne nachfolgende Crashs eigentlich nicht zu bewältigen.« Sie muss sich um alles selbst kümmern: »Mein Mann ist Legastheniker, mein Sohn neurodivergent«.
Wie lässt sich diese Belastung für die Betroffenen verringern? MeckerMutti findet: »Ein Briefkasten voller Flyer ist für mich/uns nicht die Lösung. Es sollte einen Menschen geben, der, wenn man die Diagnose hat, zu einem nach Hause kommt, alle erforderlichen Anträge ([Pflegegrad], GdB, usw.) abarbeitet und die Anträge für einen ausfüllt. Der sich dann mit den Bescheiden und Behörden auseinandersetzt, eine Rechtsvertretung einschaltet bei Bedarf, alles ›Ungemach‹ von den Betroffenen fernhält und sich bis zum hoffentlich erfolgreichen Abschluss der Verfahren kümmert. Einen Verwalter sozusagen. Oder Betreuer. Nicht für jedes Thema einen anderen, dem man erst wieder die Krankheit und die Probleme damit erklären muss. Und wir können derweil in unseren Betten liegen und pacen, damit die Energie ausschließlich für Grundbedürfnisse und Lebensqualität eingesetzt werden kann.«
Die Unterstützungsangebote reichen nicht
Nicht nur MeckerMutti und Robert haben diesen Wunsch. Im Austausch mit anderen kranken und behinderten Menschen ist er mir oft zu Ohren gekommen, und auch ich selbst habe ihn gehegt, als ich nach dem Erlangen des Pflegegrades das Persönliche Budget beantragte.
Damals wendete ich mich an eine Initiative von behinderten Menschen, die anderen Behinderten bei der Antragstellung helfen wollte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche es war. Nach einem kurzen E-Mail-Austausch schickte mein Gegenüber mir einen fertigen Brief, den ich nur noch ans Sozialamt senden musste. Fürs Persönliche Budget ist ein formloser Antrag ausreichend. So wurde mir etwa eine halbe Stunde Formuliererei und Dokumentformatierung abgenommen.
Es folgte ein mehrere Wochen andauernder Schriftwechsel mit dem Sozialamt und schließlich eine Begutachtung. Alles davon musste ich alleine machen. Ich hatte großes Glück und das Budget wurde mir ohne Verzögerung, Widerspruch und Klage bewilligt, wenn auch mit weniger Stunden als beantragt. Doch dann dauerte es Monate, bis ich tatsächlich Hilfe bekam – denn ich musste eigenständig recherchieren, wie ich eine Person anstelle, wie ein Arbeitsvertrag aussieht, wo ich das anmelden muss, und zu guter Letzt musste ich eine Person finden, die diesen Job für mich machen wollte. Angeblich soll es eine Möglichkeit geben, bei diesen Aufgaben Hilfe zu bekommen, doch ich habe nie herausgefunden, wie man darauf Zugriff bekommt.
Heutzutage gibt es in vielen Städten Angebote für die sogenannte EUTB: Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung. Diese Beratungsstellen bieten wohnortunabhängig Beratung an, oft auch per E-Mail oder Telefon, teilweise sogar durch Hausbesuche, und leisten so die essentielle Arbeit, Hilfesuchenden einen Überblick über Leistungsansprüche zu vermitteln. Die EUTB können das Antragsverfahren erklären und bei der Antragstellung unterstützen, doch sie können den Hilfesuchenden nicht die eigentliche Arbeit abnehmen. Die Beantragung ist für viele tatsächlich eine Hürde, aber im Vergleich zu den anderen, die sie auf dem Weg zu angemessener Hilfe überwinden müssen, bleibt es oft eine der kleinsten.
Hilfe gibt es nicht für die Diagnostik, die durch Fachärztemangel und Vorurteile in der Medizin erschwert wird. Nach der Antragstellung müssen Hilfesuchende sich Unterstützung für Begutachtungen sowie rechtlichen Beistand für Widersprüche und Klagen eigenständig organisieren, müssen selbst ihren Papierkram erledigen und verschicken. Auch die vernichtenden Ablehnungen müssen sie selbst in Empfang nehmen, mit allen psychischen und emotionalen Folgen. Keine der Leistungsformen ist leicht und unbürokratisch erhältlich; endlose Wartezeiten, hanebüchene Ablehnungen und Hürden durch Nachweisforderungen sind bei Eingliederungshilfe und Persönlichem Budget ebenso üblich wie bei Pflegeleistungen. Beratungsstellen können daran nichts ändern.
Meistens bleibt es an Betroffenen und ihren Angehörigen hängen, ihre Rechte einzufordern.
Normalität für kranke und behinderte Menschen
Wer einmal gesehen hat, wie groß die Probleme für behinderte Menschen sind, wenn sie Hilfe brauchen oder Leistungen in Anspruch nehmen möchten, kann nie wieder aufhören, es zu sehen. Blockaden und Diskriminierung sind die Regel, nicht die Ausnahme.
In meinem direkten Umfeld gibt es eine Person, die seit einem Dreivierteljahr kein Persönliches Budget erhält, obwohl ihr Bedarf längst anerkannt wurde – weil sie gegen die zu niedrige Stundenzahl Widerspruch eingelegt hat. Eine andere Person bräuchte Hilfe für das Nötigste, hat aber keinen festen Tagesrhythmus und weiß nicht, wann sie wach sein wird, sodass sie bislang nichts beantragt hat, weil es das nur schlimmer machen würde. Meinen Haushalt teile ich mit einer Person, der vor Jahrzehnten die zweifelsfrei vorhandene Gehbehinderung aberkannt wurde und die dadurch keinen Anspruch auf entsprechende Nachteilsausgleiche hat. Erst diesen Monat habe ich eine Person kennengelernt, die mich fragte, ob man einen Rollstuhlmotor billig selberbauen kann – sie könne anders keinen kriegen, habe sich sogar den Rollstuhl auf Ebay selbst gekauft.
Die Geschichten sind haarsträubend und sie sind überall. Was bleibt, ist die Wut. So schreiben es auch Robert und MeckerMutti. »An manchen Tagen fühle ich mich sehr hilflos«, beschreibt Robert. »An anderen bin ich wütend, weil die Mehrheit es nicht sieht.« Ähnlich drückt sich MeckerMutti aus: »Ich bin wütend! Unsere Rechte werden mit Füßen getreten.«
Durch die andauernde Corona-Krise wird die Problemlage sich nicht entschärfen, so wie es sich zu Beginn der Pandemie viele erhofften, wenn die ganzen Vorerkrankten endlich wegsterben würden. Im Gegenteil: Durch die Langzeitfolgen wiederholter Infektionen werden immer mehr Menschen am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, Hilfe zu bekommen – medizinisch, pflegerisch, finanziell –, und ob die Ressourcen für ihre Versorgung ausgeweitet werden, ist zweifelhaft. Das Thema war vielleicht noch nie so aktuell wie jetzt.
Ich selbst erlebte wenige Wochen, nachdem ich von einer Hausärztin als Krüppel bezeichnet wurde, eine unerwartete gesundheitliche Verbesserung. Ich kaufte mir ein Fahrrad, reparierte es und fuhr in der ersten Woche fast hundert Kilometer. Warum es mir jetzt besser geht, weiß ich genauso wenig, wie ich eine Erklärung dafür habe, warum es mir jahrelang so schlecht ging. Ich kann nur vermuten, dass es nicht an ›Dekonditionierung‹ lag.
Dieses Glück haben die Wenigsten. Wir müssen – und können – als Gesellschaft die Zustände verbessern, unter denen Menschen mit unheilbaren Krankheiten leben.
Themen: behinderung, versorgungskrise, pflege, sba, qualitätstext
Die Sache mit den Rollstuhl Apps
Stell dir vor, du bekommst ein neues Paar Beine. Und dann möchte der Hersteller dieser Beine hundert Euro von dir, damit du damit rennen kannst.
Dieser Sticker musste da einfach hin.
Rollstuhlantrieben von Alber kann man in deutschen Sanitätshäusern kaum entkommen, ich weiß es aus eigener Erfahrung. Schon als ich 2017 meinen neuen Rollstuhl bekam, sprach ich mit den Sanitätshaus-Angestellten über eine mögliche spätere Motorisierung. In diesen Gesprächen wurde der Markenname e-motion vollkommen synonym mit dem Konzept eines Restkraftverstärkers verwendet. Solche Hilfsantriebe unterstützen bei einem manuellen Rollstuhl die Anschubbewegung der Hände, ganz ähnlich dem Prinzip eines Ebike-Motors, der durchs Pedaletreten aktiviert wird.
Eigentlich gibt es Restkraftverstärker auch von anderen Herstellern, doch durch meine Interaktionen mit Sanitätshäusern habe ich den Eindruck bekommen, dass sie diese nicht kennen. Als ich mich einige Jahre später in einem anderen Sanitätshaus am anderen Ende Deutschlands nach Rollstuhlzuggeräten erkundigte und wissen wollte, welche verschiedenen Hersteller es gibt, wurde mir eine kleine Reihe von Vorführrollstühlen mit entsprechenden Antrieben (alle von Alber) gezeigt, ich bekam ein Alber-Werbeprospekt in die Hand gedrückt und ging schlecht informiert wieder nach Hause.
Die Alber GmbH stellt verschiedene Arten von Unterstützungsmotoren für Rollstühle her. Der e-fix ist ein vollautomatischer Antrieb mit einem Joystick. Mit dem e-pilot bietet die Firma ein Rollstuhlzuggerät an und der smoov one ist ein Antrieb, der in Form eines zusätzlichen Rades hinten am Rollstuhl angebracht wird. Abgesehen vom e-motion verwandeln all diese Antriebe den Rollstuhl rechtlich gesehen in ein motorisiertes Fahrzeug, das nur bis 6 km/h ohne weitere Auflagen im Straßenverkehr verwendet werden darf.
Eigentlich ist es ein Unding, dass Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung auf motorisierte Räder angewiesen sind, sich mit maximal 6 km/h darauf fortbewegen dürfen. Oberhalb dieser Geschwindigkeit gilt auch für Rollstühle und Elektromobile eine Versicherungspflicht, über 15 km/h ist sogar ein Mofa-Führerschein erforderlich. Dabei kann jedes gesunde Paar Beine innerhalb kürzester Zeit und in den gefährlichsten Situationen auf 15 km/h beschleunigen, niemand verlangt einen Versicherungsnachweis für die Dinger und dafür bezahlen muss man auch nichts. Aber auch die Krankenkassen sehen sich nicht in der Pflicht, einen Rollstuhl oder Rollstuhlantrieb zu bezahlen, der mehr ersetzt als die Gehfähigkeit, mit einer Geschwindigkeit von maximal 6 km/h. In Deutschland ist das nunmal so.
Wie ist es also möglich, dass die Webseite des smoov one mit einer Höchstgeschwindigkeit von »bis zu 10 km/h« wirbt, obwohl solche Geräte regelmäßig von der Krankenkasse übernommen werden? Hierfür hat die Firma Alber sich einen Trick ausgedacht: Für ihre Rollstuhlantriebe bietet sie über Google Play und den Apple App-Store modellspezifische Apps an, mit denen durch In-App-Käufe zu haarsträubenden Preisen die Maximalgeschwindigkeit erhöht werden kann.
So sah die Smoov-Webseite am 12. Oktober 2024 aus.
Alber bietet in den Apps unterschiedliche Sonderfunktionen an und lässt sie sich gut bezahlen. So kostet es in der App für den e-motion M25 beispielsweise 39,99 €, den Rollstuhl übers Handy fernsteuern zu können – eine große Alltagserleichterung für Menschen, die ohne ihren Rolli keinen Meter weit kommen. Auf den Schrittzähler für 9,99 € können wohl die meisten Benutzenden getrost verzichten; es fallen jedoch 99,99 € dafür an, eine Art Tempomat-Funktion freizuschalten, die für Personen mit wenig Kraft und Ausdauer eine Vergrößerung ihres Bewegungsradius bedeuten kann. Andere Hersteller bieten Restkraftverstärker an, bei denen diese Funktion im Produkt integriert ist, so zum Beispiel der Empulse WheelDrive von Sunrise Medical durch einen zweiten Greifring. Da dieses Gerät jedoch deutlich teurer ist, wird es von der Krankenkasse wohl kaum als Basisversorgung genehmigt werden.
Zu guter Letzt kostet es noch einmal 99,99 €, die Funktionen des ECS auf die App zu übertragen. Das ECS ist bei Auslieferung des Antriebs enthalten und ermöglicht es, manche Einstellungen vorzunehmen. So ist beispielsweise der Wechsel zwischen Indoor- und Outdoor-Modus oder die Aktivierung und Deaktivierung der Rückrollsperre standardmäßig über das ECS möglich. Doch was zunächst wie eine gute Idee klingt – schließlich sollen ja auch Personen ohne Smartphone (oder ohne Google-/Apple-Account) ihren Rollstuhl irgendwie einstellen können – entpuppt sich schnell als Farce, denn weitere, ebenfalls wichtige Funktionen sind nur über die App erreichbar, die ebenso wie das ECS über Bluetooth mit den Rädern verbunden werden muss.
ECS steht übrigens für »Ergonomic Control System«. Was an dem Ding ergonomisch sein soll, erschließt sich mir nicht.
Das Gesamtpaket für alle Funktionen, inklusive der Erhöhung der Höchstgeschwindigkeit, kostet in der M25-App 299 € (Link ist nur da, damit Lesende sich selbst über die In-App-Käufe vergewissern können). Da der Rolli mit Restkraftverstärker in Deutschland nicht als Kraftfahrzeug zählt, ähnlich wie bei Ebikes, dürfte es hierbei keine rechtlichen Schwierigkeiten geben, doch im Internet warnen behinderte Personen einander davor, die »Speed«-Funktion zu kaufen: Es gäbe Schwierigkeiten bei der Kostenübernahme später eventuell anfallender Reparaturen, die Krankenkassen würden nicht mehr bezahlen. Die Unzufriedenheit mit dem Angebot ist spürbar groß.
Ich habe bei meiner eigenen Krankenkasse nachgefragt und konnte das Gerücht nicht bestätigen. Im Telefonat wurde ich recht schnell mit einer Person verbunden, die schon von sich aus wusste, dass dieses Upgrade existiert und was es bewirkt. Mir wurde erklärt, dass die Krankenkasse bei Anschaffung eines Geräts nicht die Teile übernehme, die mit einer höheren Motorisierung zu tun haben; bei einem vollen Elektrorollstuhl müsse bei Wahl einer höheren Maximalgeschwindigkeit beispielsweise ein enstprechend größerer Akku selbst bezahlt werden. Auch Umbauten am Gerät müsse ich über die Krankenkasse vornehmen, der es rechtlich gesehen gehört. Doch da es sich um eine »reine Software-Sache« handelt, spräche nichts dagegen und es gäbe für die Kasse keinen Grund, spätere Reparaturkosten nicht zu übernehmen. Andere Krankenkassen entscheiden hier möglicherweise anders, doch vor diesem Hintergrund erscheint es weniger bemerkenswert, dass die App nicht auf mögliche Probleme hinweist.
Interessanter ist die Rechtslage bei Geräten, die den Rollstuhl ohne Beteiligung der eigenen Muskelkraft antreiben. Für jedes seiner Modelle hat Alber eine App, und für alle vier aktuellen Geräte bietet diese App eine Erhöhung der Maximalgeschwindigkeit an. Die Verfügbarkeit und die Preise der einzelnen Funktionen unterscheiden sich. So kostet in der smoov O10 App das Freischalten von 10 km/h Höchstgeschwindigkeit 129,99 €; weitere Zusatzfunktionen werden für 29,99 € und 39,99 € verkauft. Die App für den e-fix bietet keine In-App-Käufe an; eine Lizenz für ein »Mobility Plus Package« ist jedoch für sage und schreibe 349,99 € direkt über Alber beziehbar und bietet nicht nur eine Fernbedienungsfunktion, sondern auch eine Freischaltung auf 8 km/h. In der App für den e-pilot e15 kann ausschließlich eine Geschwindigkeitserhöhung auf satte 20 km/h erworben werden, und zwar für 249,99 €.
Wer so ein Fahrzeug in Deutschland außerhalb von Privatgelände fährt, ohne sich zuvor eine Betriebszulassung und eine Haftpflichtversicherung zu holen, verstößt gegen das Pflichtversicherungsgesetz und begeht damit keine Ordnungswidrigkeit, sondern eine Straftat. Bei einer Höchstgeschwindigkeit von mehr als 15 km/h ist außerdem noch ein Mofa-Führerschein erforderlich und es ist unwahrscheinlich, dass für einen Rollstuhl für so eine Geschwindigkeit eine Straßenzulassung erteilt wird.
Alber weist darauf immerhin hin. In der Beschreibung der App für den e-pilot, das Gerät mit der höchsten freischaltbaren Geschwindigkeit, heißt es etwa: »Im Geltungsbereich der Straßenverkehrsordnung (StVO) darf die Geschwindigkeit 6 km/h nicht überschreiten, 20 km/h Unterstützungsgeschwindigkeit sind nur auf privatem Gelände erlaubt. Bei Verwendung des e-pilot mit 10 oder 15 km/h im Geltungsbereich der StVO ist eine Einzelabnahme nach StVZO und Versicherung gemäß Pflichtversicherungsgesetz notwendig.« Es wird also eine Geschwindigkeit angeboten, von der sie von vorherein wissen, dass sie nicht zulässig ist.
Die Versicherungs- und Zulassungspflicht gilt bei einer »bauartbedingten« Höchstgeschwindigkeit von über 6 km/h. Elektronische Drosselung der Geschwindigkeit ist prinzipiell zulässig. Ob es immer noch zulässig ist, wenn die Höchstgeschwindigkeit über einen Button in einer App jederzeit über das erlaubte Maximum hinaus erhöht werden kann, konnte ich beim besten Willen nicht herausfinden.
Mir ist kein anderer Hersteller bekannt, der ähnlich agiert wie Alber. Zusatzfunktionen werden beim Kauf dazugebucht oder eben nicht; Einstellungen am Gerät, die über Benutzereinstellungen hinausgehen, werden von Händlern vorgenommen oder gar nicht. Rollstuhlantriebe, insbesondere Zuggeräte, gibt es durchaus mit höheren Geschwindigkeiten zu kaufen, die beim Kauf ausgewählt werden. Manche Händler bieten sogar an, gleich die Abnahme beim TÜV zu organisieren, wenn das Zuggerät zusammen mit einem neuen Rollstuhl gekauft wird. Ich habe mir etliche Rollstuhlantriebe von verschiedenen Herstellern angesehen und konnte für keinen davon eine App finden.
Allein für den Smartdrive, ein Antrieb, der hinten am Rollstuhl befestigt wird, gibt es eine App – ein Fitnesstracker. Was Alber als kostenpflichtige Zusatzfunktionen anbietet, ist bei alternativen Herstellern entweder funktionell integriert oder generell nicht möglich. Vielleicht liegt das daran, dass Alber dringend mehr Geld verdienen möchte, denn die GmbH gehört zur Invacare Corp, die 2023 in den USA Insolvenz angemeldet hat.
Um diese Einnahmestrategie umsetzen und Menschen das Angebot näherbringen zu können, hat Alber Produkte geschaffen, die einen Digitalzwang bzw. Smartphonezwang mit sich bringen. So kostet es in der M25-App zwar kein Geld, den Leistungsmodus des Antriebs einzustellen und sich auszusuchen, ob der Restkraftverstärker eher empfindlich oder unempfindlich reagieren und wie lange er nachlaufen soll, doch wer kein Smartphone besitzt und diese kostenlose Funktion der App nicht nutzen kann, muss dafür extra zurück ins Geschäft fahren. Wer unabhängigen Zugriff auf die Funktionen der täglich verwendeten Mobilitätshilfe haben will, muss notwendigerweise nicht nur das klobige ECS mit sich herumtragen, sondern zusätzlich noch die App installieren. (Und, wie schon erwähnt, kostet es 100 €, das ECS nicht mehr mitschleppen zu müssen.)
Indem die Funktionen durch In-App-Käufe erworben werden, werden sie einerseits an ein konkretes Antriebsgerät gebunden. Die Verifikation der Räder geschieht hierbei durch das Scannen eines QR-Codes, der vermutlich eine Funktion als Schlüssel hat. Gleichzeitig findet zwangsweise eine Verknüpfung mit einem bestimmten Google- oder Apple-Account statt; ohne einen solchen sind die Funktionen gar nicht erst erhältlich. Eine Weitergabe der teuren Sonderfunktionen zusammen mit dem Antriebsgerät ist nicht möglich, so wie das bei physikalischer Ausstattung der Fall wäre, sodass bei einem privaten Erwerb und Weiterverkauf des Gerätes die nachnutzende Person denselben Kauf erneut tätigen muss, um dieselben Funktionen zu nutzen.
Wer sich seinen Antrieb nicht selbst kaufen kann, sondern von der Krankenkasse »versorgt« wird, hat keine Wahlfreiheit. Wenn nur ein Gerät von Alber bezahlt wird, muss dieses Gerät auch angenommen werden. Alternativen kosten oft einige tausend Euro mehr, die Differenz müsste aus eigener Tasche bezahlt werden.
Bei meinen Austauschen mit Personen, die ein Alber-Gerät haben oder hatten oder hätten haben können, sind mir sehr viele negative Einstellungen begegnet. Die Apps sind nicht beliebt, die Preise für die Sonderfunktionen werden als ausbeuterisch wahrgenommen; auch das Thema mit den angeblich später nicht übernommenen Reparaturkosten wurde immer wieder erwähnt.
Dabei tut die Firma Alber nichts, was man ihr ankreiden könnte. Die Geschwindigkeitserhöhung ist völlig legal, und wo zusätzliche Schritte nötig sind, um sie legal zu machen, wird angemessen darauf hingewiesen. Auch bietet sie die Upgrades als einmalige Lizenzkäufe an, statt sie über ein ausbeuterisches Abo-Modell zu vertreiben. Die Upgrades sind eine legitime und niedrigschwellige Methode, einen Antrieb, der vollständig von der Krankenkasse übernommen wurde, mit weiteren Funktionen auszustatten.
Es bleibt, abgesehen vom allgemeinen Unwohlsein mit dem Smartphone- und Accountzwang, der Frust über die horrenden Preise für die einzelnen Funktionen. Vielleicht wirkt es für Menschen oberhalb der Armutsgrenze weniger schlimm: Hundert oder dreihundert Euro, um rennen zu können, das ist viel, aber das kann man schon einmal bezahlen, um einen grundlegenden Freiheitswunsch zu erfüllen und hilfreiche Extras zu erhalten.
Wenn man dieses Geld jedoch nicht hat und auch nicht auftreiben kann, fühlt es sich an wie eine erniedrigende Schikane. Und behinderte Menschen haben oft sehr wenig Geld: Viele können nicht arbeiten und erhalten deswegen eine niedrige Rente oder Grundsicherung, andere könnten und würden gerne arbeiten, kriegen aber mit ihrer Behinderung keinen Job und hängen im Bürgergeld fest, wieder andere halten sich irgendwie mit ein paar Stunden Arbeit gerade weit genug über Wasser, um nicht in den Bezug abzurutschen. Dazu kommen viele Zusatzkosten, die Menschen ohne Behinderung schlichtweg nicht haben.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sich negative Gefühle einstellen, wenn behinderten Menschen nicht die gleichen Freiheiten eingestanden und zugänglich gemacht werden wie nichtbehinderten Menschen. Ja, natürlich gibt es ein größeres Unfallrisiko, wenn man sich ein paar km/h schneller bewegen kann. Aber Personen mit gesunden Beinen müssen auch nicht standardmäßig mit Fußfesseln herumlaufen, um ihre Maximalgeschwindigkeit zu drosseln.
Themen: behinderung, qualitätstext, rollstuhl, digital