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Warum ich ein Buch mit Umgangssprache geschrieben habe

06. July. 2024

Ich habe einen Roman geschrieben, den man ab 19. 7. kaufen kann. Da ich mir keinen Impressumsservice leisten kann und meine Privatadresse nicht ins Internet schreiben will, darf ich leider hier nicht mehr dazu sagen. Trotzdem möchte ich darüber reden, warum ich mit diesem Buch ganz absichtlich etwas gemacht habe, was als schlecht und falsch und dumm angesehen wird. Das ist vielleicht auch für Leute interessant, die sich für den Roman selbst nicht interessieren.

Mir fällt es immer noch schwer, zu beschreiben, was das eigentlich ist, das ich da gemacht habe. Nein, ich habe nicht „ein Buch in Umgangssprache“ geschrieben. „Mit“ Umgangssprache, ja. Aber der Begriff der Umgangssprache beschreibt eigentlich einen formlosen, meist mündlichen Kontext, und das habe ich nicht gemacht. Fangen wir vielleicht mal an einer anderen Stelle an.

Als ich anfing, eine Geschichte zu konzipieren, die sich zum Veröffentlichen eignen könnte, habe ich mich praktisch einmal quer durch das amtliche Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung gelesen und festgestellt, dass vieles, das laut diesem Regelwerk korrekt ist, den gebräuchlichen Schreibweisen widerspricht. Ich schreibe und lese viel, sehr viel – aber das meiste davon ist formlose Schriftsprache im Internet. Und da wird anders geschrieben, es gelten andere Regeln. Außerdem tauchen viele Formulierungen, die im Mündlichen und in formloser Schriftsprache absolut gängig sind, in der formellen Schriftsprache kaum oder gar nicht auf. Einige sind in formalen Texten so ungebräuchlich, dass es nicht einmal offizielle Schreibregeln dafür gibt.

Mein Lieblingsbeispiel ist der am-Progressiv: „Ich bin am schreiben.“ Mündlich gebrauchen wir dieses Konstrukt tagtäglich, auch wenn je nach Dialekt Verlaufsformen mit „beim“ oder mit „tun“ gebräuchlicher sind. In der formellen Schriftsprache ist der am-Progressiv hingegen verpönt (wenn auch nicht so sehr wie die Verlaufsform mit „tun“) und wird allerhöchstens in feststehenden Begrifflichkeiten wie „am Leben sein“ verwendet, die allerdings grammatikalisch anders funktionieren. So kann man beispielsweise „am Leben bleiben“, aber man kann nicht „am Schreiben bleiben“.

In der formlosen Gebrauchssprache wird der am-Progressiv meistens klein geschrieben, während das amtliche Regelwerk nichts dazu sagt und der Duden Großschreibung empfiehlt. Dazu kommt dann noch, dass wir im Mündlichen das „am“ meistens viel weiter vorne hinstellen, als das angeblich korrekt sein soll. Wenn ich frei spreche, würde ich sagen „Ich bin am den Text für meinen Blog schreiben“ und nicht „Ich bin den Text für meinen Blog am schreiben“. Beides fühlt sich für mich richtig an, aber Letzteres ein wenig gekünstelt und förmlicher.

So wird klar, dass in der förmlichen Schriftsprache ganz andere Regeln gelten als in formloser Schriftsprache. In einem Chat hätte ich kein Problem, diesen Satz so zu schreiben und niemand würde ihn ungewöhnlich finden. „Ich bin am den Text für meinen Blog schreiben.“ Es ist korrektes Deutsch, weil wir so reden. Aber in einem Deutsch-Aufsatz würde der ganze Satz rot angepinselt werden, Wortwahl und Grammatik und Rechtschreibung.

In meinem Buch zelebriere ich nun eine gewisse Rechtschreib-Anarchie. Aber Anarchie nicht im Sinne von „chaotische Achtlosigkeit“, sondern im Sinne von echter Anarchie: selbstbestimmte Regeln, die zum Kontext passen.

Sprache ist für mich schon immer ein großes Interesse gewesen, oft ein regelrechtes Spezialinteresse. Als Kind habe ich internalisiert, dass es etwas Besonderes und Gutes ist, wenn ich weiß, wie Dinge korrekt geschrieben werden, und habe mir die Regeln bewusst gut eingeprägt. Dadurch habe ich mir aber versehentlich auch antrainiert, zu bemerken, wenn andere Menschen diese Regeln brechen. Im Laufe der Zeit habe ich festgestellt, dass das Brechen dieser Regeln oft sehr systematisch erfolgt.

Eine Sache, die mich oft besonders gestört hat, waren verbotene Kommas, die von vielen Menschen an genau denselben Stellen gesetzt werden, als folgten sie alle denselben Regeln. Aus Interesse habe ich dann nachgeschaut und gesehen, dass auch die Brüder Grimm schon einige dieser heutzutage illegalen Kommas gesetzt haben. Offensichtlich ist das amtliche Regelwerk also nicht der Weisheit letzter Schluss. Als ich im Fedi darüber gesprochen habe, kamen einige Antworten nach dem Motto: „Die haben das halt alle falsch gelernt von anderen Leuten, die es falsch machen.“ Aber das ist doch das Ding mit Sprache: Wir lernen sie von anderen. Man kann Sprache nicht nachmessen, sie funktioniert nicht nach Naturgesetzen, sondern Sprache ist so, wie wir sie einander beibringen und voneinander lernen. Wenn genug Leute etwas „falsch“ machen, ist es vielleicht irgendwann „richtig“ – oder es ist vielleicht irgendwann eine andere Sprache.

Solche systematischen Schreib„fehler“ betreffen oft die schon erwähnte Kommasetzung, aber auch Groß-/Klein- sowie Getrennt-/Zusammenschreibung, was vermutlich durch die ganzen Rechtschreibreformen in den 90ern und 00er Jahren noch drastisch verstärkt wurde. Dazu kommen dann noch vom Dialekt abhängige Elemente, und nicht zuletzt natürlich die Wortwahl. Wenn ich Texte lese, die nicht nachkorrigiert wurden, dann kann ich anhand dieser Faktoren oft auch ohne Namen schon einzelne Verfasser*innen wiedererkennen, und in meinem Kopf setzt sich die Kombination von Schreibweisen dann zu einer ganz bestimmten, individuellen Stimme zusammen.

Gerade in der heutigen Zeit ist Schriftsprache wichtiger denn je. Den ganzen Tag kommunizieren wir per Text miteinander; lesen und schreiben zu können ist längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden, auf der nicht nur unser Berufs-, sondern oft auch unser gesamtes Sozialleben aufbaut. Dadurch denke ich, dass diese individuell unterschiedlichen Schreibweisen schon eine Stimme in mehr als einem übertragenen Sinne sind. Das ist die Art, wie wir einander kennen.

(Vor diesem Hintergrund finde ich es übrigens auch tragisch, dass durch ChatGPT und co jetzt in gewissem Maß eine Standardisierung der Schreibstimme passiert. Für mich fühlt sich das so an, wie wenn wir ganz leise in ein Mikrofon sprechen würden, das dann den Inhalt in einem standardisierten Hochdeutsch ausgibt – weg mit Dialekt, weg mit Sprachfärbung und regionalen und kulturellen Unterschieden. Ist das wirklich erstrebenswert?)

Meiner Meinung nach sollten wir die schriftliche Gebrauchssprache als solche nicht nur akzeptieren, sondern als wertvoll und schützenswert betrachten. Menschen sind in der Lage, im Mündlichen zwischen Hochdeutsch und verschiedenen Dialekten zu unterscheiden, warum sollten sie das also nicht auch in schriftlich können? persönlich find ichs jetzt ja eigentlich net so super schwierig manchmal so zu schreiben und manchmal halt anders. für mich fühlt sichs zB super weird an, innem chat mit großbuchstaben zu schreiben und hier im blog kommt mir das hier jetzt seltsam vor, aber ich muss halt den punkt rüber bringen. (ja, ich schreib in dieser stimme hier auch wörter auseinander die ich sonst zusammenschreib und andersrum. ehrlich gesagt wars befreiend, zu realisieren, dass ich das garnicht konsequent in jedem kontext gleich machen muss.)

In meinem Buch habe ich also solche Schreibvarianten benutzt, um zwei verschiedene Charaktere mit drastisch verschiedenen schriftlichen Stimmen zu kreieren. Ich könnte auch noch mehr, aber ich wollte mich vorsichtig rantasten und erstmal austesten, wie sich dieser neue sprachliche Raum anfühlt. Und was soll ich sagen? Es ist mega geil.

Für mich war das ein echter Befreiungsschlag, plötzlich meine ganze Sprache verwenden zu können: Die umgangssprachlichen und dialektgeprägten Elemente, die in der Schriftsprache sonst als absolutes No-Go gelten und uns in der Schule als „Fehler“ ausgetrieben werden, stehen einfach auf derselben Seite wie hochgestochene und übertrieben formelle Konstruktionen. Gleichwertig, keins der beiden „richtiger“ oder „besser“ als das andere, sondern nur eben besser zum jeweiligen Kontext passend. Rechtschreibfehler als Stilmittel, schriftliche Umgangssprache.

Gleichzeitig habe ich mich im Rahmen dieses Projekts persönlich stark weiterentwickelt. Mich hat es schon länger genervt, dass ich über „Rechtschreibfehler“, besonders in formalen Kontexten, nicht hinwegsehen konnte. Mehr als ein Buch habe ich weglegen müssen, weil immer wieder Kommas gesetzt wurden, die ich nicht mochte, oder weil Wörter auseinander geschrieben wurden, die ich zusammen schreiben würde. Es hat mich gestört, wie sehr mich das störte, denn schließlich ist mir klar, wie viel Klassismus, Ableismus, und nicht zuletzt auch Rassismus in dieser Verherrlichung von „korrekter“ Sprache steckt. Aber ich hatte dieses Märchen von Korrektheit so verinnerlicht, dass ich lange keinen Weg gefunden habe, diesen Mechanismus in meinem eigenen Denken auszuhebeln.

Und ich muss sagen: Es hat mich beim Schreiben teilweise viel Überwindung gekostet, solche Fehler zu machen. In meinem Buch schreibt ein Charakter eher umgangssprachlich und benutzt dabei zwar mehr Schreibvarianten, die formal als „Fehler“ gelten – aber in der Regel sind das genau diejenigen, die sich für mich „richtiger“ anfühlen als die angeblich „korrekte“ Schreibung. Das so zu machen, war leicht, es war Spaß, es war befreiend und tat gut.

Der andere Charakter schreibt eher förmlich, macht aber Rechtschreibfehler, die oft von Menschen gemacht werden, die der Meinung sind, ihre Rechtschreibung sei besonders gut. Dieser Charakter setzt Kommas, wo sie nicht hingehören, schreibt Wörter groß oder auseinander, die eigentlich klein oder zusammen geschrieben werden, und drückt sich oft eher gestelzt aus. Das hat mich stärker gefordert, als einfach so zu schreiben, wie ich das in formlosen Kontexten sowieso schon tu. Ich musste Schreibungen einsetzen, die sich für mich wirklich falsch anfühlen (und von denen manche formal sogar „zulässig“ sind), weil das für diesen Charakter das richtige Stilmittel war. (Und es amüsiert mich ein bisschen, dass viele Leute solche Fehler nicht einmal bemerken werden, eben weil sie von so Vielen als „korrekt“ angesehen werden.)

Als ich mit dem Projekt langsam fertig wurde, habe ich irgendwann festgestellt, dass Schreibvarianten und schriftliche Umgangssprache mich nicht mehr stören. Ich bin über einen Text gestolpert, dessen Verfasser sich durchweg weigerte, den Genitiv zu benutzen, und auch keine „von“-Formulierung einsetzte, sondern immer mit Possessivpronomen arbeitete: Das ist Anna ihre Brotdose. Darin liegt Anna ihr Brot.

Und es hat mich nicht mehr gestört. Ich war fasziniert. (Zugegeben, der Text war schlecht, aber nicht wegen seiner Sprache. Die Sprache war das einzige Coole daran.)

Sprache ist eben kein fest eingegrenztes, kohärentes Ding. Natürlich kann man sie in einem Regelwerk formalisieren, aber sogar das Regelwerk steht nicht als Alleinherrscher über der deutschen Sprache: So hat beispielsweise die Leichte Sprache ein ganz eigenes, abweichendes System; das amtliche Regelwerk selbst hat sich in den letzten Jahrzehnten mehrfach verändert, und wer die Änderungen nicht aktiv verfolgt hat, ist auch nicht am nächsten Tag aufgewacht und hat plötzlich ganz anders gesprochen und geschrieben; und manchmal wird sogar das Regelwerk angepasst, um Schreibweisen zu übernehmen, die sich entgegen jeder Vorgabe einfach durchgesetzt haben. Selbst, wenn man Menschen für Abweichungen von Sprachregeln abstraft, kann man offensichtlich nicht verhindern, dass sie die Sprache weiter so benutzen, wie es sich für sie richtig anfühlt.

Wir sprechen nicht alle dasselbe Deutsch, und wir sprechen auch nicht alle nur ein Deutsch. Ich persönlich beherrsche ein sehr solides schriftliches Hochdeutsch, sowie auch schriftliche Umgangssprache. Schwäbisch habe ich als junges Erwachsenes wie eine Fremdsprache gelernt und ich spreche es fließend. Meine Muttersprache ist Hessisch. Was ich im Alltag spreche, ist ein Mix aus verschiedenen Dialekten, der auch davon abhängt, wie mein Gegenüber spricht. Ich verstehe Bayrisch und relativ viel Österreichisch, aber mit nord- und ostdeutschen Dialekten habe ich oft noch Probleme. Luxemburgisch kann ich mit sehr viel Mühe lesen, aber nicht gut verstehen. Niederländisch kann ich inzwischen deutlich besser lesen, aber verstehen auch nur bruchstückhaft.

Und ja, Niederländisch zählt heutzutage nicht einmal mehr als deutscher Dialekt! Stellt sich raus: Eigentlich ist es eine künstliche Erfindung, dass Sprachen feste Grenzen haben müssen. Links dieser willkürlich auf eine Landkarte gepinselten Linie wird dies gesprochen und rechts davon jenes. Eigentlich wollen Sprachen lieber fließend ineinander übergehen wie regionales Klima.

Ich glaube ja eigentlich nicht, dass Sprachen „leben“. Sprache hat keinen eigenen Willen, sie kann keine Entscheidungen treffen, sie kann sich nicht wandeln oder sterben. Aber sie hat eine direkte Verbindung zu menschlichem Erleben, ist eine fundamentale Ausdrucksform, mit der wir uns selbst, unsere Identität, unsere Träume und Hoffnungen, unsere Sorgen, unsere Beziehungen, unsere Erlebnisse und unsere Ideen beschreiben, unseren Schmerz und unsere Liebe. Und für jede dieser Aufgaben finden wir Tausende kleiner Kniffe und Veränderungen, um die Sprache an unsere Bedürfnisse anzupassen; um zu beschreiben, wer wir sind und wie und was wir sind und was wir tun und was wir nicht tun und was wir tun würden und was wir wollen und was wir nicht wollen und wie das ausgesehen hat, als vor ein paar Wochen die Polarlichter waren und leider hatte ich keine Kamera dabei und es waren Wolken da aber manchmal konnte man die Wolken ein bisschen grünlich leuchten sehen und manchmal sogar rot… Wenn wir uns alle in jedem Kontext auf korrektes Hochdeutsch beschränken würden, könnten wir all das gar nicht mehr angemessen ausdrücken.

Wir müssen uns nicht damit zufriedengeben, nur im mündlichen Kontext unsere eigene Sprache vollumfänglich nutzen zu können. Wir müssen uns nicht jedes Mal darüber echauffieren, wenn jemand „Rechtschreibfehler“ macht oder eine Dialekt-Formulierung benutzt, die in unserem eigenen Herkunftsort unüblich ist (oder – vielleicht schlimmer – eine, die dort üblich ist und uns genau deswegen ausgetrieben werden sollte). Ich bin froh, dass ich das jetzt verstanden habe. Es ist meine Sprache (und deine, und Anna ihre, und die von allen anderen auch, es sind genug Wörter für uns alle da) und ich kann mit ihr verdammt nochmal machen, was ich will. Individuelle Ausdrucksweisen sind zu schön und zu faszinierend, um überall einen Rotstift anzusetzen, nur, weil uns das irgendwer mal so gezeigt hat.

Themen: deutsch, kunst, die-träume, sprache